In NEON PINK & BLUE findet sich eine Drag Queen in einem Klimasommer obdach- und papierlos am Zürisee wieder. Ohne Garderobe out the closet, ohne Badezimmerspiegel und Kostüme ergreift X ein Gefühl der Nacktheit. Geschichten zu in Frage gestellter Identität und schwer belegbarer Herkunft drängen sich ins untergehende Postkartenbild des Alpenpanoramas. Es ist das erste Buch von X Schneeberger. Kaum erschienen, wurde es auf die Hotlist (beste neue Bücher aus den unabhängigen Verlagen der Schweiz, Österreichs und Deutschland) 2020 gewählt. Und 2021 wurde es mit dem Schweizer Literaturpreis ausgezeichnet.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.09.2020Immer im Konjunktiv
Das Romandebüt "Neon Pink & Blue" von X Schneeberger
Die Beilage liefert ein Bild der Hauptsache. Stilz, der dem bitterarmen Erzähler dieses Romans eine Zeitlang Obdach gibt, schneidet den Romanesco-Kohl mitten entzwei. So sehe die Struktur der Wirklichkeit, der Wirklichkeiten aus: "Ineinander verdreht, das Vorher und das Nachher, das Hier und das Dort, das Jetzt und das All - das Männliche und das Weibliche, das hatten schon die Indianer gewusst. Nur wenig würde es da eigentlich brauchen und man wäre woanders, andern Orts, in anderer Zeit. In einem anderen Körper. Oder im selben Körper - aber anderen Geschlechts. Es bräuchte nur einen kleinen Dreh."
Eigentlich weiß das der Erzähler namens Schneeberger in X Schneebergers Roman "Neon Pink & Blue", so kommt dieser ja voran: Mit kleinen Drehs wechseln anmutig Wirklichkeiten, Zeiten, Orte, Geschlechter. Mal ein Tänzchen unter der Plastikpalme am Zürcher See mit einem Glacecornet in der Hand, mal lange Spaziergänge mit Stilz (und Robert Walser im Geiste), dann tage-, nächtelange Raves, mit oder ohne Drogen, aber immer im Konjunktiv. Mit dem steht er auf vertrautem Fuß, mit sich nicht, weshalb sich der Roman zunächst wie die Wiedergabe eines anderen Romans liest. Woanders sein und wann anders, dazu braucht es wenig, und auch der junge Mann braucht in diesem heißen Sommer wenig. Er tritt auf als Diseuse, und oft glückt es, "keine Fremden anzubetteln, niemandem vor Hunger in die übrig gebliebenen Pommes-frites zu fallen und keine angerauchten Zigaretten von den Bushaltestellen aufzulesen, auch Stolz könne man noch minimalisieren". Fast geht er dabei drauf, eine geliehene Unterhose am Leib und sonst wenig.
Schneeberger ist geflohen aus seinem Leben und sucht das Vergessen. Die Wohnung verliert er bald, doch mal nimmt ihn die eine Freundin, mal der andere Freund mit, kocht für ihn, leiht ihm Kleidung. Notfalls bezieht er eine Bank am See. Bei Stilz, dem ehemaligen Bankräuber, ist es gut auszuhalten, aber er will Geschichten als Gegenleistung. Schneeberger lässt sich von den Bildern und Zeitungsausrissen in einer Zigarrenschachtel anregen, seiner letzten Habe. Bis auf wenige Ausnahmen zeigen die Fotos Unbekannte aus dem Aargau, aber das macht nichts. Denn Schneeberger erzählt von seiner Kindheit dort: Eltern verdingen ihre Kinder aus Not, geben sie als Knechte und Mägde in fremde Hände. Überschwemmungen löschen im Flussdelta von Aare, Limmat und Reuss alle Spuren. Tiere und Menschen verschwinden ebenso wie aller Besitz der meist Zugewanderten, ihre kärntnerisch-slowenische Sprache und jede Erinnerung. Bis auf die, die Schneeberger findet oder vielmehr erfindet.
Er erzählt aus Trauer und Wut, denn er wollte ein Mädchen sein. Die Eltern gaben den Sohn nicht in fremde Hände, aber die Mutter korrigierte mit den ihren die Rückgratverkrümmung des Säuglings, als wäre er "Knätt". Der Erwachsene erwähnt die Eltern nicht. Erst am Ende treten sie auf, im zweiten Romanteil, erzählt von Chloé Noëme, einer von Schneeberger erfundenen Dragqueen. Sie ist zuständig für die verschwiegenen Geschichten und überlebt dank des Erzählens, anders als die anderen suizidalen Figuren von Schneeberger. Dieser letzte Dreh, der Wechsel des Geschlechts mit all seinen Problemen (eine Dragqueen ist nackt keine Dragqueen mehr . . .) erlaubt Schneeberger, als "Figurant" durch Noëmes Erzählungen zu stromern. Daher also das geschlechtsindifferente X als Vorname des Autors auf dem Cover.
Atemlos ist dieses Debüt erzählt, es geht um Leben und Tod, und wie bei Peter Kurzeck muss der Augenblick eingefangen werden, bevor er verronnen ist, sei es der des Glücks im Tanz oder der der Angst vor der Erinnerung. Er drängt in den Satz, bohrt ihn auf mit Einfällen und Einwürfen und längt ihn. Dafür beschleunigt Schneeberger, lässt Hilfsverben weg, verzichtet weitgehend auf Konjunktionen wie "weil" und "denn" und auf die Kausalität sowieso. Der Zufall regiert, auch bei der Lektüre verschiedenster Texte, die alle zu ihm sprechen und aufgenommen werden in das Buch. Denn Erzählen ist die Rettung, Immerweitererzählen. Ein furioses Buch voller Lebenssehnsucht aus dem Nullpunkt heraus.
JÖRG PLATH
X Schneeberger: "Neon Pink & Blue".
Roman.
Verlag die brotsuppe, Biel 2020. 272 S., geb., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das Romandebüt "Neon Pink & Blue" von X Schneeberger
Die Beilage liefert ein Bild der Hauptsache. Stilz, der dem bitterarmen Erzähler dieses Romans eine Zeitlang Obdach gibt, schneidet den Romanesco-Kohl mitten entzwei. So sehe die Struktur der Wirklichkeit, der Wirklichkeiten aus: "Ineinander verdreht, das Vorher und das Nachher, das Hier und das Dort, das Jetzt und das All - das Männliche und das Weibliche, das hatten schon die Indianer gewusst. Nur wenig würde es da eigentlich brauchen und man wäre woanders, andern Orts, in anderer Zeit. In einem anderen Körper. Oder im selben Körper - aber anderen Geschlechts. Es bräuchte nur einen kleinen Dreh."
Eigentlich weiß das der Erzähler namens Schneeberger in X Schneebergers Roman "Neon Pink & Blue", so kommt dieser ja voran: Mit kleinen Drehs wechseln anmutig Wirklichkeiten, Zeiten, Orte, Geschlechter. Mal ein Tänzchen unter der Plastikpalme am Zürcher See mit einem Glacecornet in der Hand, mal lange Spaziergänge mit Stilz (und Robert Walser im Geiste), dann tage-, nächtelange Raves, mit oder ohne Drogen, aber immer im Konjunktiv. Mit dem steht er auf vertrautem Fuß, mit sich nicht, weshalb sich der Roman zunächst wie die Wiedergabe eines anderen Romans liest. Woanders sein und wann anders, dazu braucht es wenig, und auch der junge Mann braucht in diesem heißen Sommer wenig. Er tritt auf als Diseuse, und oft glückt es, "keine Fremden anzubetteln, niemandem vor Hunger in die übrig gebliebenen Pommes-frites zu fallen und keine angerauchten Zigaretten von den Bushaltestellen aufzulesen, auch Stolz könne man noch minimalisieren". Fast geht er dabei drauf, eine geliehene Unterhose am Leib und sonst wenig.
Schneeberger ist geflohen aus seinem Leben und sucht das Vergessen. Die Wohnung verliert er bald, doch mal nimmt ihn die eine Freundin, mal der andere Freund mit, kocht für ihn, leiht ihm Kleidung. Notfalls bezieht er eine Bank am See. Bei Stilz, dem ehemaligen Bankräuber, ist es gut auszuhalten, aber er will Geschichten als Gegenleistung. Schneeberger lässt sich von den Bildern und Zeitungsausrissen in einer Zigarrenschachtel anregen, seiner letzten Habe. Bis auf wenige Ausnahmen zeigen die Fotos Unbekannte aus dem Aargau, aber das macht nichts. Denn Schneeberger erzählt von seiner Kindheit dort: Eltern verdingen ihre Kinder aus Not, geben sie als Knechte und Mägde in fremde Hände. Überschwemmungen löschen im Flussdelta von Aare, Limmat und Reuss alle Spuren. Tiere und Menschen verschwinden ebenso wie aller Besitz der meist Zugewanderten, ihre kärntnerisch-slowenische Sprache und jede Erinnerung. Bis auf die, die Schneeberger findet oder vielmehr erfindet.
Er erzählt aus Trauer und Wut, denn er wollte ein Mädchen sein. Die Eltern gaben den Sohn nicht in fremde Hände, aber die Mutter korrigierte mit den ihren die Rückgratverkrümmung des Säuglings, als wäre er "Knätt". Der Erwachsene erwähnt die Eltern nicht. Erst am Ende treten sie auf, im zweiten Romanteil, erzählt von Chloé Noëme, einer von Schneeberger erfundenen Dragqueen. Sie ist zuständig für die verschwiegenen Geschichten und überlebt dank des Erzählens, anders als die anderen suizidalen Figuren von Schneeberger. Dieser letzte Dreh, der Wechsel des Geschlechts mit all seinen Problemen (eine Dragqueen ist nackt keine Dragqueen mehr . . .) erlaubt Schneeberger, als "Figurant" durch Noëmes Erzählungen zu stromern. Daher also das geschlechtsindifferente X als Vorname des Autors auf dem Cover.
Atemlos ist dieses Debüt erzählt, es geht um Leben und Tod, und wie bei Peter Kurzeck muss der Augenblick eingefangen werden, bevor er verronnen ist, sei es der des Glücks im Tanz oder der der Angst vor der Erinnerung. Er drängt in den Satz, bohrt ihn auf mit Einfällen und Einwürfen und längt ihn. Dafür beschleunigt Schneeberger, lässt Hilfsverben weg, verzichtet weitgehend auf Konjunktionen wie "weil" und "denn" und auf die Kausalität sowieso. Der Zufall regiert, auch bei der Lektüre verschiedenster Texte, die alle zu ihm sprechen und aufgenommen werden in das Buch. Denn Erzählen ist die Rettung, Immerweitererzählen. Ein furioses Buch voller Lebenssehnsucht aus dem Nullpunkt heraus.
JÖRG PLATH
X Schneeberger: "Neon Pink & Blue".
Roman.
Verlag die brotsuppe, Biel 2020. 272 S., geb., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Jörg Plath verzeiht Autor X Schneeberger fast alles. Sogar den Verzicht auf Kausalität, Konjunktionen und Hilfsverben, wenn der Erzähler atemlos aus seinem Leben berichtet. Plath kann die Lebenssehnsucht aus den Zeilen schmecken und dass Erzählen Rettung bedeutet: Desjenigen, der Arbeit und Wohnung verloren hat und mit einer Bank am See als Schlafplatz oder einem Bett bei einem Bankräuber vorlieb nimmt, der einst ein Mädchen sein wollte und nicht durfte. Trauer und Wut prägen den Bericht, so Plath, und der unbedingte Wille den Augenblick festzuhalten. Wie bei Kurzeck, meint er.
© Perlentaucher Medien GmbH
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