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Abschied von Eurozentrismus und Ideenhistorie: James Poskett legt eine bemerkenswerte Globalgeschichte der Naturwissenschaften vor
"Die Zukunft der Naturwissenschaften hängt letztlich von einem besseren Verständnis ihrer weltumspannenden Vergangenheit ab." Mit diesen starken Worten endet ein bemerkenswertes Buch, das man als den Versuch einer Weltgeschichte der neuzeitlichen Wissenschaften bezeichnen kann. Die in immer neuen Varianten vorgestellte Kernthese ist, dass man die Geschichte der Naturwissenschaften seit dem ausgehenden Mittelalter am besten darstellt, indem man ihre Dynamik mit den Schlüsselmomenten der weltgeschichtlichen Dynamik in Verbindung bringt.
In vier Teilen führt Poskett den Leser durch die naturwissenschaftliche Revolution der Frühen Neuzeit (1450-1700), die Zeit der Aufklärung und der gleichzeitigen Bildung von Imperien (1650-1800), die Zeit des Aufstiegs des Kapitalismus (1790-1914), die Ideologien, die Weltkonflikte und den Kalten Krieg des 20. Jahrhunderts bis hin zur Gegenwart und der nahen Zukunft. Für diese diagnostiziert er den Aufstieg eines Neuen Kalten Krieges, der geprägt ist von einer sich erneut zuspitzenden Spannung zwischen Globalisierung und Nationalismus in allen Teilen der Welt. Die überstrichenen Schauplätze reichen vom Imperium der Azteken über das muslimische Afrika der Subsahara, das Osmanische Reich, den Nahen und Mittleren Osten, von Russland bis nach Indien, China, Japan und den pazifischen Archipel. Dabei werden in jedem Kapitel ausgewählte, für Zeitraum und Schauplatz charakteristische Wissensbereiche besonders in den Blick genommen. Die Botschaft des Parforceritts ist: Die lange als Produkt und Wahrzeichen des "Westens" betrachteten Naturwissenschaften verdanken sich von Anfang an einem Kulturaustausch zwischen allen Teilen der Welt, der sich ebenso beständig in wechselnden Formen meist gewaltsamer ökonomischer, politischer und religiöser Konflikte vollzog, wobei sich auch die geographischen Gewichte permanent verschoben. Herausgekommen ist ein Buch, das die Geschichte der Naturwissenschaften für ein breites Publikum auf eine neue, den aktuellen Interessen der historischen Forschung entsprechende Weise ausleuchtet.
Ihre durchgehende Spannung erhält Posketts Erzählung durch die gekonnte Kombination von konkreten Episoden, die einzelne Akteure in ihrem jeweiligen lokalen Umfeld verorten und ihre Beiträge zur Entwicklung - sei es von Naturgeschichte, Botanik, Astronomie, Physik, Chemie oder Genetik - aufzeigen, und den jeweiligen globalgeschichtlichen Konjunkturen, unter denen sie zustande kamen. Immer spielen dabei Rückgriffe auf lokales Wissen oder der kulturelle Transfer von Wissen, ob nun räumlich oder zeitlich, eine entscheidende Rolle. Dieses Zusammenspiel von großer Geste und den örtlich bedingten Schicksalen einzelner Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, von denen viele in den eurozentrischen Geschichten der Wissenschaftlichen Revolution keinen Platz gefunden haben, macht das Buch zu einer spannenden Lektüre und lässt es nicht zuletzt auch als eine Gegenerzählung zur traditionellen Geschichte der "großen Männer" erscheinen, ob sie nun Kopernikus, Galilei, Newton, Mendel, Darwin, Einstein oder Watson und Crick heißen. "Neue Horizonte" - der englische Titel spricht wirkungsvoller einfach von "Horizons" - ist nicht wie so viele der großen wissenschaftshistorischen Erzählungen aus der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts enzyklopädisch motiviert, sondern verkündet eine Botschaft. Vorbei sollen die Zeiten sein, in denen die Entwicklung der neuzeitlichen Wissenschaften als ein reines Vermächtnis Europas gefeiert wurde. Und endgültig vorbei sollen die Zeiten sein, in denen Wissenschaftsgeschichte als Ideengeschichte erzählt werden konnte.
Nun ist es zwar keineswegs so, dass Posketts Erzählung gänzlich ohne Vorbilder wäre. Aber was vor mehr als einem halben Jahrhundert politisch motivierte Wissenschaftshistoriker - allen voran John Desmond Bernal mit seinem monumentalen Werk "Wissenschaft in der Geschichte" - wagten, war lange nicht mehr denkbar im Zeitalter der Fallstudien. An eine Globalgeschichte der Wissenschaften von der Frühen Neuzeit bis ins 21. Jahrhundert hat sich niemand mehr gewagt. Dennoch ist die ständig wiederholte Betonung der Einzigartigkeit des eigenen Werkes der Unternehmung nicht unbedingt förderlich. Denn wir sollten nicht vergessen, dass dieses Buch nicht möglich gewesen wäre ohne die zahllosen regionalen und detaillierten Fallstudien, die Wissenschaftshistorikerinnen und Wissenschaftshistoriker aus aller Welt vor allem in den letzten drei Jahrzehnten zusammengetragen haben. Poskett hat den atemberaubenden Versuch unternommen, sie mit einem durchgehenden machtpolitisch-ökonomisch-kulturellen Narrativ zu versehen. Dass er sich dabei praktisch ausschließlich auf in Englisch verfasstes Schrifttum stützt, muss man wohl mit einem lachenden und einem weinenden Auge zur Kenntnis nehmen. Zum einen zeigt es, wie sehr die Wissenschaftsgeschichte sich mittlerweile in allen Kontinenten auf die neue Lingua franca stützt, die selbst ein Produkt imperialer Globalisierung ist; zum anderen wird damit aber auch nach wie vor in vielen Weltsprachen veröffentlichtes lokales historisches Wissen gänzlich ausgeblendet. Was das für die Zukunft der kulturellen Vielfalt auf dem Planeten bedeutet, bleibt unhinterfragt. HANS-JÖRG RHEINBERGER
James Poskett: "Neue Horizonte". Eine globale Geschichte der Wissenschaft.
Aus dem Englischen von Monika Niehaus und Bernd Schuh. Piper Verlag, München 2022. 592 S., Abb., geb., 28,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
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