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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Populismuswarnung: Ales Stegers Roman "Neverend"
Dieser Roman vermittelt eine sehr zeitgemäße Stimmung: Leben am Rand einer großen gesellschaftlich-politischen Katastrophe. Die Krisen multiplizieren sich, die Inflation steigt unaufhörlich. Ein Populist namens Platano (das spanische Wort für Banane) übernimmt in Ljubljana die Macht. Er verspricht den Bürgern alles: steiles Bevölkerungswachstum, Ausweisung aller Illegalen, bedingungsloses Grundeinkommen und Flüge zum Mars. Unterdessen breiten sich in der slowenischen Hauptstadt die Müllberge und Favelas aus. Die Banane ist im Roman zentrales Symbol für ein Europa, das sich in ein Bündel von Bananenrepubliken aufzulösen droht. Die schwere Wirtschaftskrise und die Handelskriege machen sich zuerst im Bananenmangel geltend.
Der 1973 geborene Lyriker und Romancier Ales Steger gilt als meistübersetzter slowenischer Schriftsteller seiner Generation. Auch die Hauptfigur und Ich-Erzählerin seines Romans "Neverend" ist eine Schriftstellerin. Ihre engsten Vertrauten sind die Schreibkrise (sie laboriert am zweiten Roman), die toten Tiere, die sie von der Straße einsammelt, und eine Kollegin, die unaufhörlich von Michel Foucault schwärmt. Außerdem gibt es noch einen befreundeten Intellektuellen mit dem vorbelasteten Namen Kafka, der sich aber nicht in einen Käfer, sondern später in den Sprecher von Präsident Platano verwandelt. In Slowenien sind solche Karrieren wahrscheinlicher als anderswo: kleine Länder, große Gelegenheiten. Man kennt und begünstigt sich; es gibt spezifische Formen der Korruption im Politik- und Kulturbetrieb.
Kaum erstaunlich, dass die Schriftstellerin mit der "Gaukelwelt" des Literaturbetriebs und dem Selbstzerstörerischen des Schreibens hadert: "Für ein paar Worte zerlegt man sich selbst, man gibt seine Innereien dem allgemeinen Gespött preis." Ihre Gedanken sind eine gegen sich selbst gerichtete Schleifmaschine. Regelmäßig wird sie zudem heimgesucht von vernichtenden, sehr suggestiv beschriebenen Albträumen, die mit dem Niedergang in der Außenwelt korrespondieren. Da steigt zum Beispiel der Messias aus einem stinkenden Erdloch und schneidet sogleich zahlreichen Männern die Hoden ab, um sie in Engel zu verwandeln. Schon wachsen ihnen Flügel. Es sind jedoch Fliegenflügel; eine Armada von Riesenfliegen macht sich über die menschlichen Behausungen her. Wer so träumt, braucht kein Horrorkino.
Selbst im Erfolgsfall lässt sich vom Schreiben in Slowenien nicht leben. Deshalb gibt die Erzählerin einen Creative-Writing-Kurs im Gefängnis. Drei Häftlinge machen mit, undurchsichtige Männer, einer wird sich später als Kriegsverbrecher entpuppen. Aber wie so vieles in dem komplex gebauten Roman wird diese Nebenhandlung auf der realistischen Erzählebene nur skizziert. Vor allem dient sie dazu, das im Buch unterzubringen, was sein Bestes ist: etwa dreißig starke Kurzgeschichten, die ohne weitere Differenzierung den drei Gefangenen zugeschrieben werden (als Hinweis darauf, dass Literatur sich nicht den reinen Seelen verdankt). Fortan werden sie der Erzählerin regelmäßig in Dreierpackungen zur Begutachtung zugeschickt. In einer davon gibt eine Exhumierungs-Expertin Einblick in ihre Arbeit, für die sie von einem Kriegsgebiet ins nächste reist, um Tote zu identifizieren und Knochen zusammenzufügen. Eine Aufgabe "ohne Ende" - und eine Facette des Titels "Neverend", der in der letzten der Geschichten aber auch als Name eines umkämpften Wallfahrtsortes erscheint. "Es gibt kein Ende, und das beruhigt" - eine fragliche Auskunft, denn gibt es nicht viele Dinge, bei denen ein Ende sehr wünschenswert wäre?
Die Auseinandersetzung mit dem Krieg wirkt beklemmend aktuell, auch wenn "Neverend" im Original bereits 2017 erschienen ist. Die Kriegsmotive verdanken sich nicht der Ukraine; vielmehr sind es Nachbilder des jugoslawischen Zerfallskrieges, der 1991 in Slowenien begann. Auch wenn die abtrünnige Provinz damals glimpflich davonkam, hat sie jahrelang im Schatten eines mit vielen ethnischen Säuberungen einhergehenden Krieges gelebt. In Westeuropa wurde der - verglichen mit dem aktuellen in der Ukraine - trotz der räumlichen Nähe ohne größere Beeinträchtigung des eigenen Lebensgefühls wahrgenommen, als wäre in ihm eine spezifische balkanische Martialität zum Ausdruck gekommen. Balkan, heißt es an einer Stelle des Romans spöttisch, sei für westliche Menschen ein Synonym für Barbarei und "Tomaten und Paprika von höchster Qualität". Indem Steger diese Kriege in eine zeitliche und räumliche Unbestimmtheit versetzt, hebt er die leichtfertige Distanzierung auf. Das Parabelhafte verdünnt den Realitätsgehalt nicht, sondern erhöht ihn.
Dass die Welt indes nicht erst seit Kurzem auf Abwege geraten ist, zeigt ein weiterer Handlungsstrang: Kapitel aus einem entstehenden Roman der Schriftstellerin, der im achtzehnten Jahrhundert gegen Ende des Siebenjährigen Krieges spielt. Geschildert wird eine fiktive, rundum desaströse Reise des Naturforschers und Bergwerksarztes Giovanni Antonio Scopoli zu seinem verehrten Vorbild Carl von Linné. Gott hat die Welt geschaffen, Linné hat sie eingeteilt und benannt. Was hier aber nicht verhindert, dass sich die so sorgfältig benannte Schöpfung ins Fratzenhafte, Abscheuliche verfremdet.
Während dieser historische Erzählstrang durch suggestive Details überzeugt, gibt Steger sich nicht viel Mühe, die aktuellen Vorgänge in Politik und Ökonomie realistisch zu motivieren; sie werden mehr behauptet als dargestellt. Zwar erscheint die Beschwörung einer großen Krise inzwischen kaum noch begründungsbedürftig. Dennoch droht Steger hier selbst zum literarischen Populisten zu werden, der Politik und Medien pauschal unter Debilitätsverdacht stellt.
"Neverend" ist ein Buch mit rundum eingetrübtem Horizont. Es verbindet Wirklichkeitssplitter mit Phantastischem, Groteskem und eher grobkörniger Satire. Literarische Verzerrung der Realität darf sich immer dann als Dystopie bezeichnen lassen, wenn die Wirklichkeit ihr zu ähneln beginnt. Das ist in den fünf Jahren seit Erscheinen des Originals leider geschehen. WOLFGANG SCHNEIDER
Ales Steger: "Neverend". Roman.
Aus dem Slowenischen von Matthias Göritz und Alexandra Natalie Zaleznik. Wallstein Verlag, Göttingen 2022. 464 S., geb., 26,- Euro.
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