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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Cécile Wajsbrots Roman "Nevermore" ist ein literarisches Kabinettstück übers Übersetzen - in seiner deutschen Fassung ganz besonders. Doch das Buch ist noch viel mehr: Hommage an Virgina Woolf, Dresden-Porträt, Trostspender. Und Lesevergnügen.
Dies ist ein Roman über Dresden. Und dies ist ein Roman über Virginia Woolf. Wie geht das zusammen? Eine französische Schriftstellerin fährt als Stipendiatin im Herbst 2019 nach Sachsen, um dort Woolfs 1927 erschienenen Roman "To the Lighthouse" zu übersetzen - "einen Text über die Verwüstungen der Zeit in einer einst vom Krieg verwüsteten Stadt". Die Schriftstellerin hat gerade eine enge Vertraute und Kollegin verloren: "Dies war die erste Übersetzung, über die ich mit meiner Schriftstellerfreundin nicht würde reden können, es war das erste Mal, dass ich den Weg ohne sie würde gehen müssen." Also geht sie allein nach Dresden. In einen Zwischenraum.
Den gibt es auch in Woolfs Roman. Es ist das kurze Kapitel "Time Passes", das Scharnier des Buchs. Das Herz des Buchs. Am Tag, als "To the Lighthouse" erschien, notierte Virgina Woolf in ihr Tagebuch: "Ich bin besorgt wegen Time Passes. Denke mir, die ganze Sache könnte für weich, seicht, substanzlos, sentimental erklärt werden. Dennoch ist es mir wirklich ziemlich einerlei; möchte allein gelassen werden, um zu grübeln." So geht es auch der namenlosen Icherzählerin von "Nevermore".
Bei diesem Titel denkt man an Poe, nicht an Woolf. Aber es geht der in Dresden arbeitenden Übersetzerin um eine Zäsur, die in ihrer Sprache - wie in der deutschen - auch dadurch bezeichnet wird, dass sie in zwei Worten ausgedrückt wird: jamais plus, "das Maß für den Unterschied zwischen den Zeiten vorher und den Zeiten danach, Symbol für die wirkliche Bedeutung der beiden Wörter, die im Englischen nur eines waren, nevermore - nie mehr." Das englische Wort zieht immerhin noch einmal zusammen, was nie wieder gemeinsam sein kann. Auch wenn es nicht mit der Grausamkeit der vergehenden Zeit versöhnen kann, mildert es orthografisch den Schock des Bruchs. So, wie die Dresdner Zeit der Icherzählerin Ablenkung verschafft: "In Dresden, wo die Erkundung der Stadt mich in Anspruch nahm, wo die aufmerksame Lektüre und die unablässige Arbeit, die jede Übersetzung verlangt, umso mehr noch die von Woolf und jenen Seiten reiner Poesie, die den Mittelteil von To the Lighthouse darstellen, wo die aufmerksame Lektüre und die unablässige Arbeit den größten Teil meiner Zeit, meiner Energie, meiner geistigen Verfügbarkeit für sich forderten, war eine Art Parallelleben entstanden, das sich mir entzog, das mich unbemerkt begleitete und an manchen Momenten zufällig zum Vorschein kam, mich überraschte und mein eigentliches Leben verdrängte."
Die Autorin des Romans "Nevermore" hat viel mit dessen Erzählerin gemein. Cécile Wajsbrot ist Schriftstellerin und renommierte Übersetzerin aus dem Englischen (und dem Deutschen) ins Französische. Was sie in "Nevermore" zur Arbeit mit Woolfs Buch ausführt, gleicht im Anspruch dem spektakulärsten deutschsprachigen Roman, der sich mit dem Phänomen des Übersetzens beschäftigt: "Zettel's Traum", entstanden auf der Grundlage der Erfahrungen seines Verfassers Arno Schmidt als Poe-Übersetzer. Nur wird bei Schmidt in zweifacher Hinsicht dialogisch Rechenschaft abgelegt: durch Daniel Pagenstecher, das Alter Ego des Autors, im Gespräch mit einem ihn besuchenden Übersetzer-Ehepaar und durch die Struktur des Buchs selbst, das in seinen drei Spalten die fiktive Handlung, Poes Werk und Reflexionen des Icherzählers miteinander in Beziehung setzt. Übersetzung als Gestaltungsmerkmal. Was hätte Cécile Wajsbrots "Nevermore" dem entgegenzusetzen?
Die deutsche Übersetzung des im vergangenen Februar im französischen Original erschienenen Romans. Denn zwangsläufig wird nun die Auseinandersetzung der Icherzählerin mit Woolfs Text auch zu einer Auseinandersetzung der deutschen Fassung mit dem, was Wajsbrot zum Übersetzen ausführt. Da trifft es sich gut, dass für diese deutsche Fassung Anne Weber verantwortlich zeichnet, wie Wajsbrot selbst eine übersetzende Schriftstellerin und zudem eine, die über eine Sprachsensibilität verfügt, die sich gerade aus dieser Doppelrolle speist. Wenn Wajsbrot schreibt: "Die Übersetzung war wohl eine Arbeit der Neuschöpfung, aber doch keine Schöpfung im eigentlichen Sinn, insofern sie auf einer Grundlage beruhte, auf einem Text, der nicht nur präsent, sondern endgültig war, als wäre er schon immer da gewesen, als hätte es nie Etappen, einen Weg, Moment des Zögerns gegeben", dann hat Webers Übersetzung diesen Prozess anders abzubilden: als entschiedene Annäherung an die zögerliche Annäherung.
Die bei Wajsbrot etwa so aussieht: "Night after night, summer and winter, the torments of storms, the arrow-like stillness of fine weather, held their court without interference. Nacht für Nacht, sommers wie winters, boten der Tumult der Stürme, die pfeilgleiche Ruhe des guten Wetters ihr ungestörtes Schauspiel dar. Stellten sich ohne Störungen zur Schau. Nacht für Nacht, im Winter wie im Sommer, gaben der Tumult der Stürme, der reglose Schönwetterpfeil ihre Vorführungen ohne Störung. Nacht für Nacht, sommers wie winters, hielten der Tumult der Stürme, die pfeilgleiche Schönwetterstille ihre Vorstellung ohne Störungen ab. So viel Zögern, so viele Annäherungen." So etwas abermals zu übersetzen, ohne selbst variieren zu dürfen, ist eine Herausforderung. Womöglich eine Zumutung.
Natürlich gibt es Grenzen. Gleich zu Beginn des Romans, auf Seite 6, steht: "Voyage au phare, Reise zum Leuchtturm, wäre die genaueste, auch in der Silbenzahl mit dem luftig-leichten englischen Titel übereinstimmende Übertragung." Das stimmt nun nur noch für den französischen Titel, nicht mehr für dessen deutsche Übersetzung. Aber auch Karin Kerstens bislang maßstabsetzende Übersetzung von "To the Lighthouse" 1991 trägt mit dem Titel "Zum Leuchtturm" Wajsbrots Erwägung keine Rechnung. Kersten wählte für die oben zitierte Passage übrigens diese Lösung: "Nacht für Nacht, sommers wie winters, hielten die Qual der Unwetter, die pfeilgleiche Stille des schönen Wetters ununterbrochen Hof." Wasjbrots (und Webers) dreifacher Versuch leistet mehr.
Wie auch "Nevermore" viel mehr leistet als nur eine Übersetzungsdiskussion. Es ist ein meisterhaftes Buch übers Verschwinden, die Abwesenheit als menschliche Grunderfahrung. Mit dem Einschub von "Zwischenspielen" nimmt Wajsbrot das Vorbild der Woolf'schen Zäsur ins eigene Buch auf, und nicht nur Dresden, dem sie betörende, bisweilen verstörende Beschreibungen widmet, ist eine Folie fürs Leitthema, sondern auch Michael Powells Spielfilm "The Edge of the World" von 1937 oder die verlassene Stadt Pripjat bei Tschernobyl. Doch was ist aus diesem Verschwinden alles gewonnen! "Forever" sollte der Roman heißen. ANDREAS PLATTHAUS
Cécile Wajsbrot:
"Nevermore". Roman.
Aus dem Französischen von Anne Weber.
Wallstein Verlag,
Göttingen 2021.
230 S., geb., 20,- Euro.
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