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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Das älteste Virus: Die amerikanisch-chinesische Autorin Ling Ma hat mit "New York Ghost" lange vor Corona einen surreal-satirischen Pandemieroman geschrieben.
Einmal, vor Jahren schon, hat sich bei der sonst stets systemkompatiblen Candace Chen der Zweifel gemeldet: an der Erfüllung durch ihren wenig kreativen Job (Organisation der Herstellung und der Ausstattung von Themenbibeln, die allesamt in Asien gedruckt werden), auch wenn es ein New-York-Job war, am Times Square sogar. Sie hatte die Kündigung bereits formuliert, trödelte durch eine Filiale von Henri Bendel, befühlte die hauchdünnen Dessous und edlen Spitzen-Bodys: "Ich dachte über den Herstellungsprozess nach. Frivolitäten von solcher Schönheit konnten nur von hochspezialisierten Kunsthandwerkerinnen in italienischen Gebirgsausläufern gefertigt werden, die sich von Weichkäse und Blütenhonig ernährten. Vielleicht von Nonnen." Da ahnte sie schon, was sie auf dem Aufnäher finden würde: "'Made in China'. Natürlich. Egal, wohin man auch ging, man konnte sich den Realitäten dieser Welt nicht entziehen. Am Montag war ich wieder bei Spectra."
In dieser kurzen Passage, die lange vor der Kernhandlung von Ling Mas anregendem Debütroman "New York Ghost" spielt, ist vieles von dem, was das Buch auszeichnet, bereits vorhanden: eine ins Satirische übersteigerte, aber dennoch ernst gemeinte Kapitalismuskritik, die köstliche Bösartigkeit, mit der gelangweilte konsumistische Millennials porträtiert werden (deren seltenes Aufbegehren kaum über die Unterwäsche hinauskommt), vor allem aber die Eleganz und der Witz von Ling Mas detailversessenem, fast hyperrealistischem Stil, der in der bestechenden Übersetzung von Zoë Beck nichts von seiner unangestrengten Gegenwärtigkeit verloren hat. Selbst die seit Colson Whitehead informell existierende Anforderung an überragende New-York-Romane, dass sie mindestens eine Zombie-Apokalypse enthalten sollten, löst Ling Ma auf höchst unterhaltsame Weise ein, auch wenn ihre entvölkerte, von letzten Halbtoten durchstreifte, aber eisern markenfetischistische Stadt der Städte deutlich trauriger wirkt als der Moloch, der New York in "Zone One" immer noch war.
In leicht gruseliger Vorahnung erzählt die im Original bereits 2018 erschienene Dystopie "New York Ghost" von einer weltweiten, von China ausgehenden Pandemie, die zunächst zu Reaktionen führt, die wir zu Genüge kennen: Ableugnung, Verschwörungstheorien. KN95-Maskenvorschriften, Notbetrieb vieler Einrichtungen. Doch sie verläuft weit letaler. Mit Ausnahme weniger offenbar immuner Personen, zu denen die Protagonistin gehört - sie betreibt in ihrer Freizeit den Blog "New York Ghost", für den sie die verfallende Geisterstadt fotografisch dokumentiert -, rafft die Seuche weltweit die Menschen dahin. Und doch hat das "Shen-Fieber" mit Corona wenig gemein, handelt es sich hierbei doch vor allem um eine allegorische Angelegenheit: die ultimative Steigerung des ältesten Virus, jene alles in die Knechtschaft zwingende Gier, die längst global und neoliberal geworden ist. Die Fiebernden entwickeln eine eigentümliche Demenz, die sie auf eine einzige (Arbeits-)Routine zurückwirft. Diese wird so zwanghaft ausgeführt, dass die Infizierten darüber verhungern. Eine Welt voller welkender, in Wiederholungsschleifen gefangener Büro-, Einzelhandels- und Haushalts-Zombies: Damit hat Ling Ma ein Bild von ikonischer Kraft erschaffen.
Für Candace, jung, urban und ziellos, zudem schwanger von ihrem entschwundenen Freund, verläuft die Entwicklung freilich entgegengesetzt. Die alten Routinen hält sie länger durch als die meisten anderen Großstadtbewohner. Für eine fürstliche Entlohnung, obwohl Geld keine Rolle mehr spielt, hält sie in der sterbenden Stadt für ihren Arbeitgeber die Stellung, sitzt am Telefon, schreibt sinnlose E-Mails, ist ein letzter Außenposten des effizienzmaximierten Welthandels, und sie tut all das, weil sie nicht weiß, was man sonst überhaupt tun könnte. Das Erwachen folgt spät, mit dem Auslaufen ihres Arbeitsvertrags. Dann aber schließt sie sich einer Gruppe Überlebender an, die Richtung Chicago zieht und auf dem Weg Häuser "pirscht", also nach Lebensmitteln durchsucht und die angetroffenen Fiebernden kaltblütig erschießt (sie nennen es "Erlösung").
Angekommen im gelobten Land, erweist es sich als verlassene Mall, und der mal charismatische, mal klägliche Anführer der Gruppe entwickelt sich zu einem mit religiöser Autorität sprechenden Autokraten, der nicht nur Candace wegen eines vermeintlichen Vergehens bestraft. Da schlägt schon das Herz der nächsten Finsternis. Wie sich die Heldin schließlich aus dieser Situation befreit, ist konsequent, aber auch ernüchternd.
Erzählt wird auf zwei Zeitebenen. Ein langer Rückblick auf Candace' Jahre in New York - von WG-Erlebnissen über ihr Liebesleben bis zum stumpfen Arbeitsrhythmus bei Spectra - alterniert mit Berichten über den aufregenden Alltag in der surrealen Endzeit. Besonders spannend ist der schonungslose Blick aus postmigrantischer Perspektive (wie die Heldin wurde auch die Autorin in China geboren) auf das gar nicht schlechte, aber entkernte Leben im Zentrum des amerikanischen Traums, im windstillen Auge eines längst tobenden Sturms: Geld, Sex, Macht, all die mythischen Insignien der westlichen Überlegenheit, sind noch da, aber sie haben ihre Signifikanz verloren, sind zu leeren Routinen geworden, kaum anders als jene, die die Fiebernden roboterhaft abspulen. Am stärksten wirkt das Buch, wenn es in Form eines intellektuellen Pop-Romans eine Neo-Bohème aus Foucault-Lesern, Traumfängerworkshops und Woody-Allen-Nostalgie evoziert, die aber ihrerseits auf Sand gebaut ist. Erbarmungslos werden auch solche Reservate eines zumindest vagen Individualismus weggentrifiziert. Auflehnung gibt es nicht, siehe oben: die Realitäten dieser Welt.
Nicht alles ist gelungen an dem mit vielen Preisen bedachten Roman. So geht die Kapitalismuskritik, die unendlich oft durchgespielt wird - eine Straffung hätte gutgetan - und mitunter (so bei der asiatischen Fälschungskultur) ins Reportagehafte neigt, kaum über eine mit Lakonie gewürzte Entfremdungsklage hinaus. Zudem führt der dauernde krasse Wechsel der erzählerischen Fallhöhen zu Balanceproblemen. Es wirkt nur partiell gewollt komisch, wenn akribisch notierte Banalitäten des heutigen Großstadtlebens oder eine detaillierte Beschreibung der Sparpolitik, mit der ein Medienkonzern ein aufgekauftes Indie-Magazin qualitativ in den Ruin treibt, mit grausigen Berichten aus der apokalyptischen Nachzeit kollidieren. Und doch findet man derzeit kaum einen anderen Roman, der so mitreißend und gewitzt, so atmosphärisch dicht und von innen heraus den zwischen Überdruss und Untergangsängsten, zwischen blindem Systemvertrauen und depressiver Ziellosigkeit schwankenden emotionalen Seelenzustand der Generation Y, die sich wie die geisterhafte Nachhut einer an sich selbst erstickten Ideologie vorkommen muss, auf den Punkt bringt. OLIVER JUNGEN.
Ling Ma: "New York Ghost". Roman.
Aus dem Englischen von Zoë Beck. CulturBooks Verlag, Hamburg 2021. 360 S., geb., 23,- Euro.
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