Ein hochbrisantes Thema. Ein Buch, das zeigt, wie Gewalt entsteht, und das zur Pflichtlektüre an unseren Schulen werden sollte. Eine Stadt wie viele andere. Irgendwo hier und heute. Niklas, dreizehn, wird von einem Mitschüler terrorisiert. Karl heißt der und ist neu in der Klasse. Niklas wäre diesem Karl gern aus dem Weg gegangen, aber Frau Römer, die Lehrerin, hat die Themen für die Referate so verteilt, dass er ausgerechnet mit ihm zusammenarbeiten muss. Die nachmittäglichen Treffen finden bei Niklas statt. Karl hat es so bestimmt und lässt bei seinem ersten Besuch gleich eine CD mitgehen. Beim nächsten Besuch "leiht" er sich ein nigelnagelneues CD-ROM- Laufwerk aus, 32 Speed. Dann verschwindet Niklas' Quix. Sein Kaninchen wird entführt, vermutlich getötet. Zwischendrin Telefonterror, rund um die Uhr. Niklas' Leistungen in der Schule werden immer schlechter. Seine Versetzung ist gefährdet. Der Terror geht weiter. Niklas ist verzweifelt. Er weiß nicht, wie er sich zur Wehr setzen soll. Eines Tages wird er von Karl zusammengeschlagen. Zeugen gibt es nicht. Die, die etwas sagen könnten, schweigen. Aus Feigheit? Aus Angst? Niklas vertraut sich seinen Eltern an. "Wir sind doch nicht in Chicago!", wettert der Vater und nimmt Kontakt zu Karls Eltern auf. Die stellen sich hinter ihren Sohn. Niklas' Vater geht zur Polizei. Er droht mit Klage. Das seien doch alles nur Bagatellen, sagt die Polizei. Und eine Klage hätte sowieso keine Aussicht auf Erfolg. Niklas' Vater reicht es. Er erstattet Anzeige ...
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Keiner glaubt Niklas. Weder die Lehrerin noch die Polizei, sogar die eigenen Eltern haben ihre Zweifel. Dabei wird der 13-Jährige von seinem Mitschüler Karl grundlos schikaniert: Auf Drohanrufe folgen Überfälle, eines Tages schlägt Karl zu. Karl sei schließlich Gott, wie er selbst sagt, und für Kotze wie Niklas sei auf der Erde kein Platz. Beweisen kann Niklas es nicht. Aussage steht gegen Aussage. Daher fordert die Polizei auch Niklas auf, die Anzeige zurückzuziehen: Das sei alles nur eine Bagatelle. "Wir sind ja hier nicht in Chicago." Ein Ausweg für Niklas scheint nicht in Sicht. Die letzte Lösung: Selbstjustiz? "Ich bring ihn um, ich schwöre!" Mit diesen Worten beginnt und endet das eindrucksvolle und zugleich beklemmende Hörbuch. Philipp Baltus legt dem Opfer jede Menge Verzweiflung, Trotz und wachsende Unberechenbarkeit in seine junge Stimme. Bernd Stephan versucht als Vater, Polizist oder Lehrerin zu beschwichtigen und herunterzuspielen. Die beiden gegensätzlichen Sprecher legen auf Kirsten Boies emotionsgeladene Vorlage sogar noch eine Schippe drauf, ohne zu übertreiben. Doch egal, ob Buch oder Hörbuch, am Ende bleibt die schwere Frage: Wie würde man selbst reagieren?
© BÜCHERmagazin, Olaf Ernst (ole)
Keiner glaubt Niklas. Weder die Lehrerin noch die Polizei, sogar die eigenen Eltern haben ihre Zweifel. Dabei wird der 13-Jährige von seinem Mitschüler Karl grundlos schikaniert: Auf Drohanrufe folgen Überfälle, eines Tages schlägt Karl zu. Karl sei schließlich Gott, wie er selbst sagt, und für Kotze wie Niklas sei auf der Erde kein Platz. Beweisen kann Niklas es nicht. Aussage steht gegen Aussage. Daher fordert die Polizei auch Niklas auf, die Anzeige zurückzuziehen: Das sei alles nur eine Bagatelle. "Wir sind ja hier nicht in Chicago." Ein Ausweg für Niklas scheint nicht in Sicht. Die letzte Lösung: Selbstjustiz? "Ich bring ihn um, ich schwöre!" Mit diesen Worten beginnt und endet das eindrucksvolle und zugleich beklemmende Hörbuch. Philipp Baltus legt dem Opfer jede Menge Verzweiflung, Trotz und wachsende Unberechenbarkeit in seine junge Stimme. Bernd Stephan versucht als Vater, Polizist oder Lehrerin zu beschwichtigen und herunterzuspielen. Die beiden gegensätzlichen Sprecher legen auf Kirsten Boies emotionsgeladene Vorlage sogar noch eine Schippe drauf, ohne zu übertreiben. Doch egal, ob Buch oder Hörbuch, am Ende bleibt die schwere Frage: Wie würde man selbst reagieren?
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.03.1999Der Junge, den es nicht gibt
Kirsten Boies neuer Roman
Gewalt ist niemals eine Lösung. So haben wir es gelernt, so geben wir es weiter - um so eifriger, weil wir wissen, daß das nicht stimmt. Gewalt ist oft eine sehr wirkungsvolle Lösung und darum ja auch so verbreitet. Es soll sogar Menschen geben, denen sie Spaß macht. Das Problem ist nur, daß sie auf die Dauer eine Ordnung schafft, in der der Brutalste regiert; und das ist meist ein anderer. Doch solche Einsichten sind schon etwas schwerer zu vermitteln. Kirsten Boie hat es trotzdem versucht. Ihr neuer Jugendroman behandelt das jüngste Angstthema nach dem Kindesmißbrauch: Gewalt in der Schule.
Es beginnt ganz harmlos. Der dreizehnjährige Niklas versucht sich mit einem neuen Mitschüler anzufreunden. Doch schon bei seinem ersten Besuch stiehlt Karl, was ihm in die Hände kommt. Und wenn man ihn darauf anspricht, schlägt er zu. Nun ist Niklas in einem Alter, in dem man lieber einige Blessuren hinnimmt, als vor Erwachsenen seine Wehrlosigkeit einzugestehen. Auch ist sein Haß auf Karl nicht frei von Bewunderung. Der, denkt er, läßt sich von niemandem etwas vorschreiben.
Der kurze Roman besteht aus zwei Strängen. Der eine erzählt die Vorgeschichte, die sich über einige Wochen erstreckt und von einer Brüskierung bis zum blanken Terror reicht. Der andere setzt an dem Punkt ein, an dem Niklas' Eltern ihrem Sohn endlich glauben und die Polizei alarmieren - vergebens, wie sich jedoch erweisen wird. So endet das Buch doppelt tragisch mit nichts als dem hilflosen Vorsatz von Niklas, sich zu rächen.
Kirsten Boie beschreibt mit einfachen Mitteln die Aura der Gewalttätigkeit, die manche Leute um sich verbreiten. Unsicher und gehetzt läßt sie ihren Erzähler davon reden: "Kann sein, der Neue macht ihm angst." Leider verliert sich die beklemmende Wirkung, sobald die Gewalt zum Ausbruch kommt und Karl schreiend mit einem Messer umherrennt. An dieser Stelle spürt man den Übertritt aus der erlebten in die bloß erlesene Welt der Sensationsberichte. Sicher gibt es handfeste junge Verbrecher wie Karl auch in Wirklichkeit. Aber würden sie ernstlich tagelang am Telefon sitzen, nur um einem Mitschüler Angst einzujagen?
Es ist die geschickte Personenkonstellation des Romans, die diesen Jungen dennoch geradezu teuflisch erscheinen läßt. Denn Niklas' treusorgende Mutter, sein prinzipientreuer Vater, seine verständnisvolle Lehrerin sind gerade so, wie man sie aus den Jugendbüchern kennt. Und in dieses pädagogische Puppenhaus tritt mit schweren Stiefeln Karl, der überhaupt nichts von einem Jugendbuchcharakter hat. Wenn seine Aggressivität Ursachen hat, dann bleiben sie verborgen. Niemand tut ihm etwas. Seine Eltern sind nicht einmal geschieden. Karl hat keine Probleme; er macht nur welche.
So etwas kennen die Puppenhauserzieher nicht. Das denkst du dir aus, sagt die Mutter. Das lasse ich mir nicht bieten, sagt der Vater. Das sind doch Vorurteile, sagt die Lehrerin. Und der Leser merkt schmerzlich, daß sie für solche Anforderungen mehr als nur eine Nummer zu klein sind. "Karl kann es nicht geben", entscheiden sie in ihrer Ohnmacht. Man muß das umdrehen: Da, wo es Menschen wie Karl gibt, ist für ihresgleichen kein Platz mehr. "Nicht Chicago. Nicht hier" ist nicht nur ein handfester Roman, sondern auch eine Abrechnung mit dem Jugendbuchidyll vergangener Zeiten und einer allzu blauäugigen Pädagogik.
MICHAEL ALLMAIER
Kirsten Boie: "Nicht Chicago. Nicht hier". Oetinger Verlag, Hamburg 1999. 120 S., geb., 16,80 DM. Ab 12 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Kirsten Boies neuer Roman
Gewalt ist niemals eine Lösung. So haben wir es gelernt, so geben wir es weiter - um so eifriger, weil wir wissen, daß das nicht stimmt. Gewalt ist oft eine sehr wirkungsvolle Lösung und darum ja auch so verbreitet. Es soll sogar Menschen geben, denen sie Spaß macht. Das Problem ist nur, daß sie auf die Dauer eine Ordnung schafft, in der der Brutalste regiert; und das ist meist ein anderer. Doch solche Einsichten sind schon etwas schwerer zu vermitteln. Kirsten Boie hat es trotzdem versucht. Ihr neuer Jugendroman behandelt das jüngste Angstthema nach dem Kindesmißbrauch: Gewalt in der Schule.
Es beginnt ganz harmlos. Der dreizehnjährige Niklas versucht sich mit einem neuen Mitschüler anzufreunden. Doch schon bei seinem ersten Besuch stiehlt Karl, was ihm in die Hände kommt. Und wenn man ihn darauf anspricht, schlägt er zu. Nun ist Niklas in einem Alter, in dem man lieber einige Blessuren hinnimmt, als vor Erwachsenen seine Wehrlosigkeit einzugestehen. Auch ist sein Haß auf Karl nicht frei von Bewunderung. Der, denkt er, läßt sich von niemandem etwas vorschreiben.
Der kurze Roman besteht aus zwei Strängen. Der eine erzählt die Vorgeschichte, die sich über einige Wochen erstreckt und von einer Brüskierung bis zum blanken Terror reicht. Der andere setzt an dem Punkt ein, an dem Niklas' Eltern ihrem Sohn endlich glauben und die Polizei alarmieren - vergebens, wie sich jedoch erweisen wird. So endet das Buch doppelt tragisch mit nichts als dem hilflosen Vorsatz von Niklas, sich zu rächen.
Kirsten Boie beschreibt mit einfachen Mitteln die Aura der Gewalttätigkeit, die manche Leute um sich verbreiten. Unsicher und gehetzt läßt sie ihren Erzähler davon reden: "Kann sein, der Neue macht ihm angst." Leider verliert sich die beklemmende Wirkung, sobald die Gewalt zum Ausbruch kommt und Karl schreiend mit einem Messer umherrennt. An dieser Stelle spürt man den Übertritt aus der erlebten in die bloß erlesene Welt der Sensationsberichte. Sicher gibt es handfeste junge Verbrecher wie Karl auch in Wirklichkeit. Aber würden sie ernstlich tagelang am Telefon sitzen, nur um einem Mitschüler Angst einzujagen?
Es ist die geschickte Personenkonstellation des Romans, die diesen Jungen dennoch geradezu teuflisch erscheinen läßt. Denn Niklas' treusorgende Mutter, sein prinzipientreuer Vater, seine verständnisvolle Lehrerin sind gerade so, wie man sie aus den Jugendbüchern kennt. Und in dieses pädagogische Puppenhaus tritt mit schweren Stiefeln Karl, der überhaupt nichts von einem Jugendbuchcharakter hat. Wenn seine Aggressivität Ursachen hat, dann bleiben sie verborgen. Niemand tut ihm etwas. Seine Eltern sind nicht einmal geschieden. Karl hat keine Probleme; er macht nur welche.
So etwas kennen die Puppenhauserzieher nicht. Das denkst du dir aus, sagt die Mutter. Das lasse ich mir nicht bieten, sagt der Vater. Das sind doch Vorurteile, sagt die Lehrerin. Und der Leser merkt schmerzlich, daß sie für solche Anforderungen mehr als nur eine Nummer zu klein sind. "Karl kann es nicht geben", entscheiden sie in ihrer Ohnmacht. Man muß das umdrehen: Da, wo es Menschen wie Karl gibt, ist für ihresgleichen kein Platz mehr. "Nicht Chicago. Nicht hier" ist nicht nur ein handfester Roman, sondern auch eine Abrechnung mit dem Jugendbuchidyll vergangener Zeiten und einer allzu blauäugigen Pädagogik.
MICHAEL ALLMAIER
Kirsten Boie: "Nicht Chicago. Nicht hier". Oetinger Verlag, Hamburg 1999. 120 S., geb., 16,80 DM. Ab 12 J.
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"Kirsten Boie setzt mit 'Nicht Chicago. Nicht hier' einmal mehr Maßstäbe. Zum Thema Gewalt ein Meilenstein!" (Eselsohr)
"Die Montage von vorweggenommenen Ereignissen in den Text, die Lesung durch zwei Sprecher, die Musik und der offene Schluss erhöhen die Spannung enorm. Diskussionsstoff für alle." -- Quelle: ekz.bibliotheksservice