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Perlentaucher-Notiz zur 9punkt-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Mary Elise Sarotte schlägt Putin seine Waffe der Geschichtsklitterung aus der Hand und erzählt die wahre Geschichte der NATO-Osterweiterung.
Haben sie, oder haben sie nicht? Haben die Amerikaner den Russen versprochen, die NATO nicht weiter nach Osten auszudehnen, oder haben sie nicht? Damals, Anfang der 1990er-Jahre, als sie noch miteinander verhandelten - anders als heute, wo sie in der Ukraine indirekt gegeneinander Krieg führen, was Moskaus Propaganda unter anderem mit dem angeblich gebrochenen Versprechen der Amerikaner vor mehr drei Jahrzehnten begründet. Mary Elise Sarotte ist dieser bis heute umstrittenen Frage nachgegangen. Und sie hat Antworten gefunden. Antworten, die nicht jedem gefallen werden - je nach Standpunkt. Sarotte, die den Kravis-Lehrstuhl für Geschichte an der Johns Hopkins School of Advanced International Studies innehat und dem Center for European Studies in Harvard und dem Council on Foreign Relations angehört, hat Einsichten erhalten, die nicht nur ihr bislang nicht möglich waren, sondern der Forschung an sich. Sarotte hatte zuvor zwei Jahrzehnte um die Freigabe von Dokumenten zur Geschichte der Beziehungen zwischen dem Westen und Russland gekämpft. Dann - 2018 - wurden beinahe alle Protokolle der Treffen zwischen Bill Clinton und Boris Jelzin freigegeben.
Auf dieser Grundlage - ergänzt durch weitere Quellen - zeichnet Sarotte, die das Wendejahr 1989 als Austauschstudentin in West-Berlin erlebte, die Entwicklungen nach, über deren wahren Verlauf bis heute Uneinigkeit nicht zuletzt unter den damaligen Akteuren herrscht. Nach ihrer Erzählung entstand die Idee, es werde keine NATO-Osterweiterung nach dem Ende des alten Kalten Krieges geben, als Gedankenspiel während der diplomatischen Kontakte, die 1990 zur Wiedervereinigung Deutschlands führten. Dabei zeigen die Belege, die Sarotte vorliegen, im Gegensatz zu späteren Behauptungen von Michail Gorbatschow, dass James Baker und Hans-Dietrich Genscher das spekulative Konzept einer potentiellen Nichterweiterung nicht nur miteinander, sondern auch mit Gorbatschow als letztem sowjetischen Präsidenten diskutierten.
Doch bereits im Februar 1990 legte George H. W. Bush nach der Schilderung von Sarotte seinem Außenminister nahe, mit solchen Erörterungen aufzuhören. Bush habe die hypothetische Idee eines Versprechens, das eine künftige Bewegung der NATO nach Osten blockierte, für unnötig und unklug gehalten. In der Folge informierte Baker das Auswärtige Amt in Bonn, man solle derlei Ideen fallen lassen.
Wie konnte sich dann der bis heute höchst lebendige Mythos bilden, die Amerikaner hätten ein gegenteiliges Versprechen gegeben? Für Sarotte war es Genscher, der die Idee am Leben hielt. Der bundesdeutsche Außenminister habe weiterhin angedeutet, die NATO werde entweder die Erweiterung stoppen oder in einer größeren Organisation "aufgehen". Diplomaten der unteren Ebenen hätten dann Genschers Gedanken in ihren Kontakten mit sowjetischen Kollegen wiederholt. Nach der Beobachtung von Sarotte taten sie es in der irrtümlichen Überzeugung, es sei immer noch offizielle Politik, oder nutzten es als Hilfsmittel in den Verhandlungen. Allerdings war es in beiden Fällen nicht mehr die Linie ihrer Regierungschefs.
So führte Genschers Hartnäckigkeit laut Sarotte nicht nur zu internen Zusammenstößen mit Helmut Kohl, der von Bush überzeugt worden war, ein Versprechen der Nichterweiterung sei unerwünscht, sondern auch zwischen der Bundesrepublik und ihren Verbündeten. Denn neben den Vereinigten Staaten bestanden Frankreich und Großbritannien ebenfalls darauf, der Abschlussvertrag zur deutschen Einheit müsse drei Ziele erreichen: erstens, die explizite Erlaubnis für die NATO, ihre Sicherheitsgarantie von Artikel 5 auf Ostdeutschland auszudehnen; zweitens, die damit verbundene Erlaubnis für NATO-Truppen, die ehemalige deutsch-deutsche Grenzlinie zu überschreiten; und drittens, kein explizites Verbot einer künftigen Bewegung der NATO nach Osten.
Genscher und Baker ergänzten den Vertragsentwurf durch eine Protokollnotiz, die festlegte, dass nichtdeutsche NATO-Truppen die frühere innerdeutsche Grenze dann überschreiten dürften, wenn dies nicht als Verlegung bezeichnet würde. Für die Definition einer solchen sollte die Regierung des vereinten Deutschlands verantwortlich sein. Dem stimmten alle Verhandlungspartner zu. Auch Moskau ratifizierte den Vertrag.
Sehr anschaulich führt Sarotte vor Augen, wie schließlich die Auflösung der Sowjetunion Ende Dezember 1991 und die rasche Entstehung zahlreicher Nachfolgestaaten neue Unsicherheiten und Streitigkeiten schufen: Während die NATO der Auffassung war, dass der Zwei-plus-vier-Vertrag eine Erweiterung auf Länder östlich von Deutschland erlaube, weil er den Präzedenzfall gesetzt habe, Sicherheitsgarantie und NATO-Truppen über die Grenzlinie des alten Kalten Krieges vorzuschieben, und darüber hinaus eine weitere Vergrößerung des Bündnisgebietes nicht ausschloss, vertrat Russland als Nachfolger der Sowjetunion die Position, der Vertrag verbiete die Erweiterung östlich von Deutschland. Hier spielten zwei Faktoren eine Rolle: zum einen weiterhin die spekulativen Äußerungen über ein solches Verbot während der Verhandlungen Anfang 1990; zum anderen die Passage im Vertrag, die eine begrenzte Aktivität der Atlantischen Allianz auf dem Gebiet der ehemaligen DDR erlaubte, wobei die Implikation war, dass solche Sätze für andere Länder fehlten.
Sarotte ruft die vielen Gespräche zwischen West und Ost in Erinnerung, um den russischen Widerstand gegen die Erweiterung in Mittel- und Osteuropa abzumildern. Ein Ergebnis war 1997 die NATO-Russland-Grundakte. Doch auch sie wurde zum Zankapfel: Direkt nach der Unterzeichnung schrieb Jelzin ihr Befugnisse zu, die sie nicht besaß, wie auch Sarotte betont, etwa, es sei der NATO verboten, militärische Infrastruktur des früheren Warschauer Pakts zu nutzen.
Wie sehr Jelzins Nachfolger Putin auf dieser Klaviatur falscher Behauptungen weitergespielt hat und bis heute spielt, spiegelt sich in seinen Reden vor der Münchner Sicherheitskonferenz 2007, zur Annexion der Krim 2014 und vor der Invasion der Ukraine. Im Dezember 2021 versuchte er in der Lesart von Sarotte sogar, bestimmte Konflikte aus der Geschichte der NATO-Erweiterung neu auszukämpfen, doch dieses Mal mit Russland als "Sieger". Und in der Tat ließ Putin einen "Vertragsentwurf" an die NATO senden, in dem er darauf bestand, dass die Truppen der Nordatlantischen Allianz auf ihre Standorte vom 27. Mai 1997 zurückkehren - dem Tag der Unterzeichnung der NATO-Russland-Grundakte. Damit versuchte Putin nach dem Urteil von Sarotte, die falsche Behauptung von Jelzin, die Grundakte verbiete es der NATO, Infrastruktur des früheren Warschauer Pakts in ihr Bündnis zu integrieren, nachträglich durchzusetzen.
Dabei hatten die neuen Demokratien Mittel- und Osteuropas nach dem Ende des alten Kalten Krieges jedes Recht gehabt, den Beitritt anzustreben, ebenso wie die Allianz jedes Recht hatte, sie aufzunehmen - wie Sarotte wohltuend herausarbeitet, ergänzend um den Hinweis, dass Moskau bereits 1975 in der KSZE-Schlussakte zugestimmt hatte, dass Länder ihre Sicherheitsallianzen wählen könnten. Und das war noch mitten im alten Kalten Krieg - im neuen scheint sich der Kreml daran nicht mehr erinnern zu wollen. THOMAS SPECKMANN
Mary Elise Sarotte: Nicht einen Schritt weiter nach Osten. Amerika, Russland und die wahre Geschichte der Nato-Osterweiterung.
C. H. Beck Verlag, München 2023. 397 S., 28,- Euro.
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