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„Nicht hier, nicht dort”: Die amerikanische Schriftstellerin Siri Hustvedt führt den Lesern ihrer Essays zu Literatur und Kunst ein aufregendes Zwischenreich mentaler Räume vor
Die in New York lebende, aus einer norwegischen Einwandererfamilie stammende Autorin Siri Hustvedt hat nicht nur zwei bemerkenswerte Romane geschrieben – sie ist obendrein eine kluge Literaturwissenschaftlerin und Lehrende zugleich. Ihr neues Buch, eine Essaysammlung, bietet aufregende Einblicke in die „Schule des Sehens”. Es sollte als Einladung angenommen werden, in Romanen, Bildern und kulturellen Codes herumzustreifen, überraschende Seitenwege eingeschlossen.
Was auf den ersten Blick disparat erscheint – hier ein Aufsatz über Vermeers „Junge Dame mit Perlenhalsband”, dort einer über den neuen Moralkodex an amerikanischen Universitäten oder den „Großen Gatsby” –, lässt sich auf einen gemeinsamen Nenner bringen: Stets führt uns Siri Hustvedt ein Zwischenreich vor, „Nicht hier, nicht dort”, wie es der deutsche Titel anzeigt (im amerikanischen „yonder”, eines der für die Linguisten „unsteten” Wörter, „weil sie vom Sprecher mit Bedeutung erfüllt werden und sich entsprechend bewegen”). Dabei lässt die Autorin ihre Leser am faszinierenden Prozess des Erkenntnisgewinns teilhaben, und vielleicht öffnet sich ihr das Zwischenreich so leicht, weil sie selbst eine Reisende zwischen den Sprachen und Orten ist, weil sie in Bildern denkt und sich als Forscherin mit etwas beschäftigt, was man im weitesten Sinne als „Sprache des Raumes” bezeichnen könnte. Es interessiert sie vor allem, wie „Orte im Geist fortleben, sobald man sie verlassen hat, wie sie vorgestellt werden, ehe man dort ankommt, oder wie sie scheinbar aus dem Nichts hervorgerufen werden, um einen Gedanken oder eine Geschichte zu illustrieren . . . Diese mentalen Räume sind eine viel vollständigere Landkarte unseres Innenlebens als jede ,wirkliche’ Landkarte. ”
Beispielsweise die Landkarten in der Literatur, unsere Vorstellung von den Räumen also, in denen sich die Protagonisten bewegen; „Schauplätze” nannte man sie in den Zeiten vor dem Strukturalismus und der Dekonstruktion. Sich mit anderen Lesern über imaginierte Räume zu unterhalten, ist immer dann besonders spannend, wenn der erzählende Text nur Andeutungen liefert. Wovon unsere Vorstellung dieser Literaturräume beeinflusst ist, kann sich erst in der Auseinandersetzung über Gelesenes erschließen; wie in jenem Gespräch Siri Hustvedts mit dem Ehemann Paul Auster, der die entscheidenden Szenen in Jane Austens Roman „Stolz und Vorurteil” im elterlichen Wohnzimmer von New Jersey der fünfziger Jahre ansiedelt und damit eine Menge über sich selbst preisgibt. Rezeption von Literatur korrespondiert immer mit unserer eigenen Geschichte, indem sie zum Spiegelbild unseres Selbst und unseres Lebens wird. „Gute Bücher sagen gewöhnlich genug darüber, wo sie sich abspielen, aber nicht zu viel . . . Der gute Leser . . . möchte Raum, um die Leerstellen auszufüllen. ” Der Autor ist dann nicht nur Schöpfer eines unverwechselbaren Werkes, sondern gleichzeitig ein Distributeur von Tausenden von Geschichten. Schon allein deshalb sind diese Essays vor allem eine Empfehlung für die Auseinandersetzung über Gelesenes und Gesehenes, eine Aufforderung, die Leerstellen mit eigener Erfahrung zu besetzen.
Im „Plädoyer für den Eros” befasst sich Hustvedt mit der Antioch-Regelung, einem am Antioch-College erlassenen Gesetz, das sexuelle Annäherung nur mit einem vorausgegangenen Einverständnis zulässt. Man kann das als puritanische Perversion der political correctness sehen oder als Chance, die Annäherung geheimnisvoller und aufregender zu gestalten: Während seines Vortrages über die femme fatale wird ein französischer Literaturwissenschaftler vom Publikum gefragt, wie er diese Regelung beurteile, und die Antwort fällt verblüffend aus: „Wunderbar, das gefällt mir. Stellen Sie sich nur einmal die erotischen Möglichkeiten vor: ,Darf ich Ihre rechte Brust berühren? Darf ich Ihre linke Brust berühren?’” So sind es nicht nur in der Literatur die Schwellen und Hindernisse, die jemanden begehrenswert machen.
Das gilt übrigens nicht nur für die Annäherung, sondern auch für den Fortbestand einer Liebe. Jeder sollte einen Rest Geheimnis bewahren als ständigen Reiz für den anderen, diesem Geheimnis auf die Spur zu kommen. „Habe ich ihm diese Eigenschaft zugeschrieben, weil sie mir nutzt, oder ist sie wirklich in ihm, irgendetwas in ihm, was ich nie erobern und nie kennen werde? Es muss beides sein. Es muss zwischen uns liegen – ein verzauberter Zwischenraum, der völlig irrational ist und, zumindest teilweise, imaginär. ” Doch deshalb ist Hustvedt noch lange keine Verteidigerin der Auswüchse der political correctness, schon gar nicht, wenn diese die Qualität von Literatur bedroht, denn auch die Literatur muss ihre Geheimnisse bewahren und sich das Fehlen von Moral leisten können. Es ist unsinnig, einen Franz Kafka wegen seiner angeblich nicht korrekten Darstellung der Frauenfiguren zu schelten. Wenn es um Identifikation gehe, sei sie, Siri Hustvedt, beim Lesen von Kafka ohnehin nicht die Magd, die für den umherirrenden K. den Rock hebt, sondern K. , der die Lust annimmt. Das ist es, was den Reiz des Lesens ausmacht: Schöne Umwege und die Möglichkeit, als Frau ein Mann zu sein und – umgekehrt – in jede Rolle schlüpfen zu können und den Räumen und Gestalten ein eigenes Gesicht zu verleihen.
Siri Hustvedt lässt uns in ihren Essays am Abenteuer Literatur teilhaben, an Produktion und Rezeption sowie an dem Rest, der sich beidem entzieht. Auch die bildende Kunst wird so zu „Literatur”, zu etwas, was erst entschlüsselt und mit eigener Geschichte gefüllt werden muss. Objektive Kriterien zur Interpretation der Kunst können allenfalls das Gerüst stellen, entscheidend bleibt, was sie beim Betrachter auslöst und zu welchen Fantasien sie verführt. In einem Katalog über Vermeers Bilder wird die „Junge Dame mit Perlenhalsband” als „Allegorie der Eitelkeit” gedeutet. Siri Hustvedt dagegen erinnert sie an ein christliches Motiv: die „Annunziata”. Doch trotz dieser Mehrdeutigkeit könnte sie „wetten, dass die durch dieses Bild geweckten Gefühle auffallend gleich sind, vor allem bei denen, die es sich unbelastet von kunsthistorischen Andeutungen und von dem Problem, Vermeers Absichten herausfinden zu wollen, ansehen”. Nichts anderes will uns dieser Aufsatzband nahe legen: Ob in der Liebe oder in der Kunst, man sollte die Räume zwischen hier und dort aufsuchen und dem Gegenstand unseres Begehrens seine kleinen Geheimnisse lassen.
ELKE SCHUBERT
SIRI HUSTVEDT: Nicht hier, nicht dort. Essays. Deutsch von Uli Aumüller. Rowohlt Verlag, Reinbek 2000. 222 Seiten, 38 Mark.
Reisende zwischen den Sprachen und Orten: Siri Hustvedt
Foto: Isolde Ohlbaum
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
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