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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Botho Strauß begibt sich auf den Weg in die dichterische Demut: Sein neues Buch "Nicht mehr. Mehr nicht" lässt schöne Sätze strömen.
Von Andreas Kilb
Alles, was tief sei, liebe die Maske, hat Nietzsche geschrieben (in einem Buch mit dem inzwischen sprichwörtlichen Titel "Jenseits von Gut und Böse"), und Goethe, der auch in diesem Punkt wieder die eleganteste Formulierung fand, stellte fest, die Dichter enthüllten ihre intimsten Geheimnisse statt "in Prosa" lieber "sub Rosa / In der Musen stillem Hain". Beides hat Botho Strauß in seinem neuen Buch beherzigt. Er hat eine Maske geschaffen, eine fiktive Lyrikerin namens Gertrud Vormweg, und ihr seine Gefühle, seine Gedanken, sein Sprechen mitgegeben. Und er hat ihr, über das Maskenhafte und Durchschaubare hinaus, die Tiefe einer Geschichte, eines individuellen Schicksals geschenkt.
Aber die Bühne, auf der dieses Schicksal zur Sprache kommt, ist kein stiller Musenhain, sondern das sturmgepeitschte Innenleben einer verlassenen und daran verzweifelnden Frau. Und obwohl Gertrud Vormweg, die mal als Erzählerin, mal als Figur eines allwissenden Erzählers auftritt, gelegentlich in Versen spricht - nicht immer zu ihrem Vorteil -, spielt sich der weitaus größte Teil ihres Monologs und der daran angeschlossenen Sentenzen und Beobachtungen in Prosa ab, in der kraftvollen und melancholischen Prosa des Aphoristikers Botho Strauß. Nicht des Novellisten und Dramatikers, der Strauß auch ist; denn leider hat sich die Gertrud-Figur weder zur Heldin der Bühne (wo sie an die Seite der Lotte aus "Groß und Klein" oder der Marie aus "Die Zeit und das Zimmer" hätte treten können) noch zur Zentralgestalt einer abgeschlossenen Erzählung entwickelt. Ihre Passion bleibt Fragment. Sie ist mit Alltagssplittern durchsetzt, Fußnoten, Randnotizen, Zwischenrufen aus der Kulisse. Manchmal dreht ihr der Autor plötzlich den Ton ab, dann wieder lässt er sie seitenlang reden. Wenn ihm danach ist, legt er ihr sogar eine Wechselrede zwischen den beiden Hälften ihres gespaltenen Ichs in den Mund, zwischen der "Niemandin" und dem "Gedächtnislein", dem versehrten Leib und der trauernden Seele. Ein Charakterbild entsteht so nicht, eher eine aus Textfetzen zusammengesetzte Collage.
Aber genau so hat Strauß es gewollt. Denn die offene, für alle literarischen Gattungen durchlässige Form erlaubt es ihm, seine Figur ebenso in die fernste Tiefe, zum Mythos, wie in die nächste Nähe der Jetztzeit hin auszurichten. Gleich in den ersten Sätzen verwirft Gertrud Vormweg ihren eigenen Namen, um stattdessen den alten vorrömischen Namen der karthagischen Königin Dido anzunehmen: "Ich heiße Elissa." Den Mann aber, der Dido verließ und im Altertum Aeneas hieß, nennt sie mit einem ganz und gar heutigen Ausdruck "der Migrant". Wie in Bergmans Film "Persona" schieben sich die beiden Frauenporträts übereinander, und in ihrem Blick wird auch ihr Gegenüber doppelt belichtet: Aeneas, der Migrant, der ewig Vermisste der ewig Verlassenen.
Auch das Buch, das so weit in die Vergangenheit ausholt, hat ein genaues Datum in der Gegenwart. "Tausende werden heute künstlich beatmet." Auf dem Höhepunkt der zweiten Corona-Welle ist "Nicht mehr. Mehr nicht" also entstanden, in jenem Winter, als die Zahl der Toten täglich stärker stieg. Sein Schreiben, wünscht sich der Erzähler dagegen, "möge dachbildend wirken". Aber ganz sicher ist er sich dabei nicht. Es sei nicht die Zeit für große Entwürfe, sondern "für das Verwerfen großer Entwürfe", bemerkt er resigniert. Selbst die alten kulturkonservativen Mechanismen rasten nicht mehr automatisch ein; der "Migrant", der sich besserwisserisch über "die Deutschen, die Deutschen!" beklagt, die "immer die Asche in der Morgenluft" und den Faschismus in jeder Verkleidung wittern, bekommt, für Strauß ganz untypisch, die Antwort, es gebe "Ideen, von denen kehrt kein Denken heil zurück".
Das heil Gebliebene unter lauter ideell und individuell Beschädigtem ist, wie immer bei Botho Strauß, die Sprache, die geglückte Formulierung. Dass die Begriffe an einem Grübler vorbeiziehen "wie Frachtschiffe auf dem Rhein", kann man einfach nicht besser sagen und auch nicht, dass das Unverwechselbare eines Menschen "nur eine Cuvée von lauter Typischem" sei. Auch in der Maske der gekränkten Lyrikerin kann sich der Dichter auf seine Miniaturenkunst verlassen - oder vielleicht gerade in ihr. Denn der schroffe, oft verschrobene Hochmut, der sich in früheren Prosabänden von Strauß austobt, ist hier einer glühenden Demut gewichen. Aus ihr strömen die schönsten Sätze des Buches: "Jemand kam und brach wie Brot das 'Wir' mit mir." - "Ich selbst bin erst, wenn ich einem anderen die Fremdeste bin." - "Tu alles so, als sähe dir dabei der Liebste zu." Die Schlussworte der verlassenen Geliebten nehmen den Buchtitel auf und verwandeln ihn in einen Ausruf: "Mehr nicht!" Dann folgt eine Regieanweisung: "Sie tritt, nur um wegzusehen, vor die Tür." Es ist, als hätte das Bühnendrama, das Gefühlstheater, das unter den Aphorismen lag, zuletzt wieder die Oberhand gewonnen. Zugegeben, es war nur ein Einakter, ein Zwischenspiel. Aber das Zuschauen hat sich gelohnt.
Botho Strauß: "Nicht mehr. Mehr nicht". Chiffren für sie.
Hanser Verlag, München 2021. 160 S., geb., 22,- Euro.
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