„Wie zwei voreinander sich rasend entkleiden und wieder ankleiden, das wird, im Zeitraffer gesehen, ihre ganze Geschichte gewesen sein.“
Dies ist die Geschichte von Gertrud Vormweg, einer Frau, die vom Bild ihres Geliebten nicht loskommt. Er hat sie verlassen: Nun bestimmen Zorn, Sehnsucht und Enttäuschung, Begehren und Aufbegehren Tag und Nacht ihre Gedanken. Doch zugleich mag sie, die Dichterin, nicht sang- und klanglos die Verliererin dieser Liebe sein. Also erzählt sie von sich in der Figur der karthagischen Königin Dido, der großen Verlassenen der Weltliteratur. Und nutzt Verkleidungen, Chiffren der Literatur, um der Banalität des Geschehenen nicht schutzlos ausgeliefert zu sein. „Wenn schon allein, dann unter Vorbildern begraben.“ In vielen Stimmen, vielen Tonlagen, aus vielfältigen Zuständen entwirft Botho Strauß diese Erzählung einer Verlassenen und setzt damit Bewusstseinsgeschichten der Moderne fort.
Dies ist die Geschichte von Gertrud Vormweg, einer Frau, die vom Bild ihres Geliebten nicht loskommt. Er hat sie verlassen: Nun bestimmen Zorn, Sehnsucht und Enttäuschung, Begehren und Aufbegehren Tag und Nacht ihre Gedanken. Doch zugleich mag sie, die Dichterin, nicht sang- und klanglos die Verliererin dieser Liebe sein. Also erzählt sie von sich in der Figur der karthagischen Königin Dido, der großen Verlassenen der Weltliteratur. Und nutzt Verkleidungen, Chiffren der Literatur, um der Banalität des Geschehenen nicht schutzlos ausgeliefert zu sein. „Wenn schon allein, dann unter Vorbildern begraben.“ In vielen Stimmen, vielen Tonlagen, aus vielfältigen Zuständen entwirft Botho Strauß diese Erzählung einer Verlassenen und setzt damit Bewusstseinsgeschichten der Moderne fort.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Für Rezensent Jörg Magenau ist der neue Text von Botho Strauß eine Art uckermärkisches Weidengeflüster. Dass es kein echtes Geschehen gibt, wundert den Rezensenten nicht, eher schon, dass Strauß nunmehr eine Frau, eine Dichterin sprechen lässt. Der mit mythologischen Bezügen angereicherte Monolog einer Verlassenen wirkt auf Magenau bisweilen wie ein Theatertext, in knappe Abschnitte unterteilt, lyrisch, mythisch überhöht. Alldurchdringend wie die "existentielle Abwendung" der Figur auf Magenau wirkt, bietet sie ihm auch immer wieder "wunderschöne Miniaturen" aus Wörtern.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.10.2021Das kann man wohl nicht besser sagen
Botho Strauß begibt sich auf den Weg in die dichterische Demut: Sein neues Buch "Nicht mehr. Mehr nicht" lässt schöne Sätze strömen.
Von Andreas Kilb
Alles, was tief sei, liebe die Maske, hat Nietzsche geschrieben (in einem Buch mit dem inzwischen sprichwörtlichen Titel "Jenseits von Gut und Böse"), und Goethe, der auch in diesem Punkt wieder die eleganteste Formulierung fand, stellte fest, die Dichter enthüllten ihre intimsten Geheimnisse statt "in Prosa" lieber "sub Rosa / In der Musen stillem Hain". Beides hat Botho Strauß in seinem neuen Buch beherzigt. Er hat eine Maske geschaffen, eine fiktive Lyrikerin namens Gertrud Vormweg, und ihr seine Gefühle, seine Gedanken, sein Sprechen mitgegeben. Und er hat ihr, über das Maskenhafte und Durchschaubare hinaus, die Tiefe einer Geschichte, eines individuellen Schicksals geschenkt.
Aber die Bühne, auf der dieses Schicksal zur Sprache kommt, ist kein stiller Musenhain, sondern das sturmgepeitschte Innenleben einer verlassenen und daran verzweifelnden Frau. Und obwohl Gertrud Vormweg, die mal als Erzählerin, mal als Figur eines allwissenden Erzählers auftritt, gelegentlich in Versen spricht - nicht immer zu ihrem Vorteil -, spielt sich der weitaus größte Teil ihres Monologs und der daran angeschlossenen Sentenzen und Beobachtungen in Prosa ab, in der kraftvollen und melancholischen Prosa des Aphoristikers Botho Strauß. Nicht des Novellisten und Dramatikers, der Strauß auch ist; denn leider hat sich die Gertrud-Figur weder zur Heldin der Bühne (wo sie an die Seite der Lotte aus "Groß und Klein" oder der Marie aus "Die Zeit und das Zimmer" hätte treten können) noch zur Zentralgestalt einer abgeschlossenen Erzählung entwickelt. Ihre Passion bleibt Fragment. Sie ist mit Alltagssplittern durchsetzt, Fußnoten, Randnotizen, Zwischenrufen aus der Kulisse. Manchmal dreht ihr der Autor plötzlich den Ton ab, dann wieder lässt er sie seitenlang reden. Wenn ihm danach ist, legt er ihr sogar eine Wechselrede zwischen den beiden Hälften ihres gespaltenen Ichs in den Mund, zwischen der "Niemandin" und dem "Gedächtnislein", dem versehrten Leib und der trauernden Seele. Ein Charakterbild entsteht so nicht, eher eine aus Textfetzen zusammengesetzte Collage.
Aber genau so hat Strauß es gewollt. Denn die offene, für alle literarischen Gattungen durchlässige Form erlaubt es ihm, seine Figur ebenso in die fernste Tiefe, zum Mythos, wie in die nächste Nähe der Jetztzeit hin auszurichten. Gleich in den ersten Sätzen verwirft Gertrud Vormweg ihren eigenen Namen, um stattdessen den alten vorrömischen Namen der karthagischen Königin Dido anzunehmen: "Ich heiße Elissa." Den Mann aber, der Dido verließ und im Altertum Aeneas hieß, nennt sie mit einem ganz und gar heutigen Ausdruck "der Migrant". Wie in Bergmans Film "Persona" schieben sich die beiden Frauenporträts übereinander, und in ihrem Blick wird auch ihr Gegenüber doppelt belichtet: Aeneas, der Migrant, der ewig Vermisste der ewig Verlassenen.
Auch das Buch, das so weit in die Vergangenheit ausholt, hat ein genaues Datum in der Gegenwart. "Tausende werden heute künstlich beatmet." Auf dem Höhepunkt der zweiten Corona-Welle ist "Nicht mehr. Mehr nicht" also entstanden, in jenem Winter, als die Zahl der Toten täglich stärker stieg. Sein Schreiben, wünscht sich der Erzähler dagegen, "möge dachbildend wirken". Aber ganz sicher ist er sich dabei nicht. Es sei nicht die Zeit für große Entwürfe, sondern "für das Verwerfen großer Entwürfe", bemerkt er resigniert. Selbst die alten kulturkonservativen Mechanismen rasten nicht mehr automatisch ein; der "Migrant", der sich besserwisserisch über "die Deutschen, die Deutschen!" beklagt, die "immer die Asche in der Morgenluft" und den Faschismus in jeder Verkleidung wittern, bekommt, für Strauß ganz untypisch, die Antwort, es gebe "Ideen, von denen kehrt kein Denken heil zurück".
Das heil Gebliebene unter lauter ideell und individuell Beschädigtem ist, wie immer bei Botho Strauß, die Sprache, die geglückte Formulierung. Dass die Begriffe an einem Grübler vorbeiziehen "wie Frachtschiffe auf dem Rhein", kann man einfach nicht besser sagen und auch nicht, dass das Unverwechselbare eines Menschen "nur eine Cuvée von lauter Typischem" sei. Auch in der Maske der gekränkten Lyrikerin kann sich der Dichter auf seine Miniaturenkunst verlassen - oder vielleicht gerade in ihr. Denn der schroffe, oft verschrobene Hochmut, der sich in früheren Prosabänden von Strauß austobt, ist hier einer glühenden Demut gewichen. Aus ihr strömen die schönsten Sätze des Buches: "Jemand kam und brach wie Brot das 'Wir' mit mir." - "Ich selbst bin erst, wenn ich einem anderen die Fremdeste bin." - "Tu alles so, als sähe dir dabei der Liebste zu." Die Schlussworte der verlassenen Geliebten nehmen den Buchtitel auf und verwandeln ihn in einen Ausruf: "Mehr nicht!" Dann folgt eine Regieanweisung: "Sie tritt, nur um wegzusehen, vor die Tür." Es ist, als hätte das Bühnendrama, das Gefühlstheater, das unter den Aphorismen lag, zuletzt wieder die Oberhand gewonnen. Zugegeben, es war nur ein Einakter, ein Zwischenspiel. Aber das Zuschauen hat sich gelohnt.
Botho Strauß: "Nicht mehr. Mehr nicht". Chiffren für sie.
Hanser Verlag, München 2021. 160 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Botho Strauß begibt sich auf den Weg in die dichterische Demut: Sein neues Buch "Nicht mehr. Mehr nicht" lässt schöne Sätze strömen.
Von Andreas Kilb
Alles, was tief sei, liebe die Maske, hat Nietzsche geschrieben (in einem Buch mit dem inzwischen sprichwörtlichen Titel "Jenseits von Gut und Böse"), und Goethe, der auch in diesem Punkt wieder die eleganteste Formulierung fand, stellte fest, die Dichter enthüllten ihre intimsten Geheimnisse statt "in Prosa" lieber "sub Rosa / In der Musen stillem Hain". Beides hat Botho Strauß in seinem neuen Buch beherzigt. Er hat eine Maske geschaffen, eine fiktive Lyrikerin namens Gertrud Vormweg, und ihr seine Gefühle, seine Gedanken, sein Sprechen mitgegeben. Und er hat ihr, über das Maskenhafte und Durchschaubare hinaus, die Tiefe einer Geschichte, eines individuellen Schicksals geschenkt.
Aber die Bühne, auf der dieses Schicksal zur Sprache kommt, ist kein stiller Musenhain, sondern das sturmgepeitschte Innenleben einer verlassenen und daran verzweifelnden Frau. Und obwohl Gertrud Vormweg, die mal als Erzählerin, mal als Figur eines allwissenden Erzählers auftritt, gelegentlich in Versen spricht - nicht immer zu ihrem Vorteil -, spielt sich der weitaus größte Teil ihres Monologs und der daran angeschlossenen Sentenzen und Beobachtungen in Prosa ab, in der kraftvollen und melancholischen Prosa des Aphoristikers Botho Strauß. Nicht des Novellisten und Dramatikers, der Strauß auch ist; denn leider hat sich die Gertrud-Figur weder zur Heldin der Bühne (wo sie an die Seite der Lotte aus "Groß und Klein" oder der Marie aus "Die Zeit und das Zimmer" hätte treten können) noch zur Zentralgestalt einer abgeschlossenen Erzählung entwickelt. Ihre Passion bleibt Fragment. Sie ist mit Alltagssplittern durchsetzt, Fußnoten, Randnotizen, Zwischenrufen aus der Kulisse. Manchmal dreht ihr der Autor plötzlich den Ton ab, dann wieder lässt er sie seitenlang reden. Wenn ihm danach ist, legt er ihr sogar eine Wechselrede zwischen den beiden Hälften ihres gespaltenen Ichs in den Mund, zwischen der "Niemandin" und dem "Gedächtnislein", dem versehrten Leib und der trauernden Seele. Ein Charakterbild entsteht so nicht, eher eine aus Textfetzen zusammengesetzte Collage.
Aber genau so hat Strauß es gewollt. Denn die offene, für alle literarischen Gattungen durchlässige Form erlaubt es ihm, seine Figur ebenso in die fernste Tiefe, zum Mythos, wie in die nächste Nähe der Jetztzeit hin auszurichten. Gleich in den ersten Sätzen verwirft Gertrud Vormweg ihren eigenen Namen, um stattdessen den alten vorrömischen Namen der karthagischen Königin Dido anzunehmen: "Ich heiße Elissa." Den Mann aber, der Dido verließ und im Altertum Aeneas hieß, nennt sie mit einem ganz und gar heutigen Ausdruck "der Migrant". Wie in Bergmans Film "Persona" schieben sich die beiden Frauenporträts übereinander, und in ihrem Blick wird auch ihr Gegenüber doppelt belichtet: Aeneas, der Migrant, der ewig Vermisste der ewig Verlassenen.
Auch das Buch, das so weit in die Vergangenheit ausholt, hat ein genaues Datum in der Gegenwart. "Tausende werden heute künstlich beatmet." Auf dem Höhepunkt der zweiten Corona-Welle ist "Nicht mehr. Mehr nicht" also entstanden, in jenem Winter, als die Zahl der Toten täglich stärker stieg. Sein Schreiben, wünscht sich der Erzähler dagegen, "möge dachbildend wirken". Aber ganz sicher ist er sich dabei nicht. Es sei nicht die Zeit für große Entwürfe, sondern "für das Verwerfen großer Entwürfe", bemerkt er resigniert. Selbst die alten kulturkonservativen Mechanismen rasten nicht mehr automatisch ein; der "Migrant", der sich besserwisserisch über "die Deutschen, die Deutschen!" beklagt, die "immer die Asche in der Morgenluft" und den Faschismus in jeder Verkleidung wittern, bekommt, für Strauß ganz untypisch, die Antwort, es gebe "Ideen, von denen kehrt kein Denken heil zurück".
Das heil Gebliebene unter lauter ideell und individuell Beschädigtem ist, wie immer bei Botho Strauß, die Sprache, die geglückte Formulierung. Dass die Begriffe an einem Grübler vorbeiziehen "wie Frachtschiffe auf dem Rhein", kann man einfach nicht besser sagen und auch nicht, dass das Unverwechselbare eines Menschen "nur eine Cuvée von lauter Typischem" sei. Auch in der Maske der gekränkten Lyrikerin kann sich der Dichter auf seine Miniaturenkunst verlassen - oder vielleicht gerade in ihr. Denn der schroffe, oft verschrobene Hochmut, der sich in früheren Prosabänden von Strauß austobt, ist hier einer glühenden Demut gewichen. Aus ihr strömen die schönsten Sätze des Buches: "Jemand kam und brach wie Brot das 'Wir' mit mir." - "Ich selbst bin erst, wenn ich einem anderen die Fremdeste bin." - "Tu alles so, als sähe dir dabei der Liebste zu." Die Schlussworte der verlassenen Geliebten nehmen den Buchtitel auf und verwandeln ihn in einen Ausruf: "Mehr nicht!" Dann folgt eine Regieanweisung: "Sie tritt, nur um wegzusehen, vor die Tür." Es ist, als hätte das Bühnendrama, das Gefühlstheater, das unter den Aphorismen lag, zuletzt wieder die Oberhand gewonnen. Zugegeben, es war nur ein Einakter, ein Zwischenspiel. Aber das Zuschauen hat sich gelohnt.
Botho Strauß: "Nicht mehr. Mehr nicht". Chiffren für sie.
Hanser Verlag, München 2021. 160 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 01.12.2021Sein besseres Ich
Von Liebe und ihrem Ende hat Botho Strauß schon häufiger erzählt. Dieses Mal aber schlüpft er in die Rolle der verlassenen Frau
Für Botho Strauß gibt es nur zwei existentielle Grundbefindlichkeiten: Warten und Suchen. Entweder, so schreibt er, bleibt der Mensch an seinem Ort, „bis alles vorüber ist“, oder er geht hinaus und sucht, „bis alles verschwunden ist“. Der Unterschied ist nicht sehr groß. Am Ende steht in beiden Fällen das Nichts. Vielleicht macht das den Konservativen aus, dass er zwischen Ortsfestigkeit und Welterkundung keinen großen Unterschied erkennt. Also bleibt man lieber zu Hause und bei sich. Strauß gehört damit wohl zu den Wartenden. Jedenfalls läuft er in seinen Büchern keinem Geschehen, keinen Ereignissen hinterher.
Dabei wären die Voraussetzungen für einen handlungshaften Roman durchaus gegeben: Da ist die Frau, und dort ist der Mann. Die beiden haben sich womöglich geliebt. Dann hat er sie verlassen. So etwas passiert. Sie bleibt als Verlassene zurück und sinnt dieser Begegnung und diesem Mann hinterher. In ihren Worten lässt sich das Geschehen in einem einzigen Satz zusammenfassen: „Wie zwei voreinander sich rasend entkleiden und wieder ankleiden, das wird, im Zeitraffer gesehen, ihre ganze Geschichte gewesen sein.“ Mehr nicht? Mehr nicht. Doch wer die Zeit abschaltet – und das geschieht ja im Schreiben – macht aus diesem Nichts ein ganzes Buch. Was Roman werden könnte, hat sich damit jedoch erledigt. In seinen jüngeren Jahren hat Strauß aus einer ähnlichen Konstellation die Erzählung „Die Widmung“ gemacht. Damals war es der Mann, der als Verlassener mit seiner Trauer fertig werden musste. Jetzt ist es die Frau, die spricht. Sie ist Lyrikerin und heißt Gertrud Vormweg, erzählt von sich aber auch gerne in der dritten Person als „sie“. Der Wechsel zur weiblichen Perspektive ist von großer Bedeutung. Sie ist für Strauß nicht nur eine schützende Hülle und die Gelegenheit zu distanzierter Rollenprosa, sondern vielleicht auch eine Art besseres Ich, in das er schlüpft, empathie- und poesiefähig, wie es der in den Augen der Frau liebesunfähige Mann nicht sein könnte. Außerdem sind ihr, der Frau, gelegentliche misogyne Sätze weniger vorzuwerfen, als sie ihm, dem Mann vorgeworfen werden würden.
Alles ist Rollenprosa. Doch die Sprecherin ist keine Figur, keine ausgeführte Person, sondern eher ein lyrisches Ich, das aus nichts als Sprache besteht. Was Handlung sein könnte, wird zum Sprechakt und schließlich in Stimmung und Gedanken aufgelöst. „Sollte ich je eine Geschichte erzählen,“ schreibt Botho Strauß in der Rolle dieser Frau, „sie verlöre sich in einem fortwährenden Stimmungswechsel, und dieser Wechsel wäre das Letzte, was sich noch bewegte im Stillstand des Vermissens.“
Zunächst klingt der in kurze Abschnitte, Szenen, Gedankensplitter unterteilte Text wie ein Monolog für die Theaterbühne, mythisch überhöht, als spräche da Christa Wolfs „Kassandra“. Auch Strauß‘ Rednerin versetzt sich in die Antike, indem sie sich mit der karthagischen Prinzessin Dido vergleicht. Dido verliebte sich in Aeneas auf seiner Flucht, wurde von ihm aber, weil er ja Rom gründen musste, verlassen. In ihrer Trauer stürzte sie sich in ihr eigenes Schwert. Derlei handlungshafte Tragik liegt Gertrud Vormweg nicht. Doch was sie in der Sprache vollzieht, ist eine andere Form der Selbstauflösung und Auslöschung als Bewegung hin zum Verstummen. Das Leben ist vergangen zwischen dem „Noch nicht“ der Jugend und dem „Nie wieder“ des Alters. Dabei überwiegt jedoch der Tonfall des „Nicht mehr“, den Strauß‘ Protagonistin im Lauf der Rede von der Trauer des Verlusts des Geliebten in ein aktives Abschiednehmen aus Überdruss an der dinglichen Welt überführt. So endet das Buch mit den Worten, die ihm den Titel geben: „Nicht mehr! Mehr nicht! Sie tritt, nur um wegzusehen, vor die Tür. Nicht mehr davon! Und dann einfach: mehr nicht, nichts mehr. Nicht.“
Nichts bleibt von dieser existentiellen Abwendung unberührt, nicht einmal die Sprache selbst, die Strauß der medialen Kommunikation und der bloßen Unterhaltung entgegensetzt. Nur in und mit der Sprache ist das Sein berührbar. Da gelingen Strauß immer wieder schlichte, wunderschöne Miniaturen. Dann sind es die Wörter selbst, die materielle Gestalt gewinnen und die Schrift zu einem unmittelbaren religiösen Erfahrungsraum werden lassen. So schreibt die Erzählerin über sich als „sie“: „Von nun an, wenn sie das Wort Gott schreiben wollte, kam sie aus dem O-Rund nicht wieder heraus. Das O entließ ihre Hand und ihren Stift nicht mehr. Sie kreisten endlos darin.“ Da ist es auch nicht verwunderlich, wenn Strauß – oder vielmehr seine Protagonistin – sich nach Hieroglyphen sehnt, nach Chiffren, nach „Zeichen der Geheimhaltung“, nach „Schonung“, nach einer „Sprache des gesenkten Lids“. Die „Chiffren für sie“ – so der Untertitel des Buches – wären demnach eine Art Geheimsprache, die „das Weltwissen aufbewahrt wie in einem Fingerhut“. „Chiffren für sie“ heißt aber auch, dass sie selbst, die Lyrikerin Gertrud Vormweg, als sprechendes Ich nur eine Chiffre ist, damit die Sprache einen Leib erhält, mit dem sie sprechen kann. Strauß sucht nach „Worten der vollkommenen Sinnlichkeit, wie keine Haut, kein Körper sie je erregen könnte“. Sein Ideal wären „Worte, an die man sich lehnt, in sie verloren, wie an eine Mauer im Weinberg.“
Kann das gelingen? Ja, aber zu einem hohen Preis. Denn Leib und Sinnlichkeit sind nicht ohne Vergänglichkeit zu haben. Am Ende ist also auch die Sprache nicht vor dem Zerfall gefeit. Auch Mauern im Weinberg, so poetisch sie sein mögen, stürzen irgendwann ein. Am Ende allen Schrifttums sieht Strauß einen Menschen, der von den tausend Büchern, die er las, nichts behalten hat als das Alphabet, das er aufsagt. Was bleibt von Gott, wenn er nichts ist als ein rundes O? Strauß‘ weibliches Alter Ego bezieht sich auch darin auf die mythische Figur der Dido. Dido erhielt vom Numiderkönig eine Kuhhaut, die die Fläche des Gebiets bestimmen sollte, auf dem sie mit ihrem Gefolge siedeln durfte. Sie zerschnitt die Haut in feinste Streifen und legte so die Grenzen fest, innerhalb derer Karthago entstand. So wie Dido die Kuhhaut, zerschneidet die Autorin ihren Text in einzelne Zeilen. Exakt darin besteht das ästhetische Verfahren von Botho Strauß. Er hofft darauf, dass die einzelnen Sätze, aneinandergelegt, ein größeres Terrain öffnen, als es ein von Handlung, Dialog und Geschehen begrenzter Roman je könnte.
Botho Strauß ist der wortreiche Romantiker des Verstummens. Er spricht, wo niemand mehr zuhört, spricht mit sich selbst auf seinen einsamen Wegen durch die Uckermark mit ihren Weiden, Seen, Rapsfeldern und Rebhühnern, die auch diesem Buch einen konkreten Ort geben. Das Geschriebene bietet Gelegenheit, ihn dabei zu belauschen, so wie den Wind, der durch die Bäume fährt.
JÖRG MAGENAU
Botho Strauß spricht mit sich
selbst auf seinen einsamen
Wegen durch die Uckermark
Botho Strauß:
Nicht mehr. Mehr nicht. Chiffren für sie.
Hanser, München 2021.
156 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Von Liebe und ihrem Ende hat Botho Strauß schon häufiger erzählt. Dieses Mal aber schlüpft er in die Rolle der verlassenen Frau
Für Botho Strauß gibt es nur zwei existentielle Grundbefindlichkeiten: Warten und Suchen. Entweder, so schreibt er, bleibt der Mensch an seinem Ort, „bis alles vorüber ist“, oder er geht hinaus und sucht, „bis alles verschwunden ist“. Der Unterschied ist nicht sehr groß. Am Ende steht in beiden Fällen das Nichts. Vielleicht macht das den Konservativen aus, dass er zwischen Ortsfestigkeit und Welterkundung keinen großen Unterschied erkennt. Also bleibt man lieber zu Hause und bei sich. Strauß gehört damit wohl zu den Wartenden. Jedenfalls läuft er in seinen Büchern keinem Geschehen, keinen Ereignissen hinterher.
Dabei wären die Voraussetzungen für einen handlungshaften Roman durchaus gegeben: Da ist die Frau, und dort ist der Mann. Die beiden haben sich womöglich geliebt. Dann hat er sie verlassen. So etwas passiert. Sie bleibt als Verlassene zurück und sinnt dieser Begegnung und diesem Mann hinterher. In ihren Worten lässt sich das Geschehen in einem einzigen Satz zusammenfassen: „Wie zwei voreinander sich rasend entkleiden und wieder ankleiden, das wird, im Zeitraffer gesehen, ihre ganze Geschichte gewesen sein.“ Mehr nicht? Mehr nicht. Doch wer die Zeit abschaltet – und das geschieht ja im Schreiben – macht aus diesem Nichts ein ganzes Buch. Was Roman werden könnte, hat sich damit jedoch erledigt. In seinen jüngeren Jahren hat Strauß aus einer ähnlichen Konstellation die Erzählung „Die Widmung“ gemacht. Damals war es der Mann, der als Verlassener mit seiner Trauer fertig werden musste. Jetzt ist es die Frau, die spricht. Sie ist Lyrikerin und heißt Gertrud Vormweg, erzählt von sich aber auch gerne in der dritten Person als „sie“. Der Wechsel zur weiblichen Perspektive ist von großer Bedeutung. Sie ist für Strauß nicht nur eine schützende Hülle und die Gelegenheit zu distanzierter Rollenprosa, sondern vielleicht auch eine Art besseres Ich, in das er schlüpft, empathie- und poesiefähig, wie es der in den Augen der Frau liebesunfähige Mann nicht sein könnte. Außerdem sind ihr, der Frau, gelegentliche misogyne Sätze weniger vorzuwerfen, als sie ihm, dem Mann vorgeworfen werden würden.
Alles ist Rollenprosa. Doch die Sprecherin ist keine Figur, keine ausgeführte Person, sondern eher ein lyrisches Ich, das aus nichts als Sprache besteht. Was Handlung sein könnte, wird zum Sprechakt und schließlich in Stimmung und Gedanken aufgelöst. „Sollte ich je eine Geschichte erzählen,“ schreibt Botho Strauß in der Rolle dieser Frau, „sie verlöre sich in einem fortwährenden Stimmungswechsel, und dieser Wechsel wäre das Letzte, was sich noch bewegte im Stillstand des Vermissens.“
Zunächst klingt der in kurze Abschnitte, Szenen, Gedankensplitter unterteilte Text wie ein Monolog für die Theaterbühne, mythisch überhöht, als spräche da Christa Wolfs „Kassandra“. Auch Strauß‘ Rednerin versetzt sich in die Antike, indem sie sich mit der karthagischen Prinzessin Dido vergleicht. Dido verliebte sich in Aeneas auf seiner Flucht, wurde von ihm aber, weil er ja Rom gründen musste, verlassen. In ihrer Trauer stürzte sie sich in ihr eigenes Schwert. Derlei handlungshafte Tragik liegt Gertrud Vormweg nicht. Doch was sie in der Sprache vollzieht, ist eine andere Form der Selbstauflösung und Auslöschung als Bewegung hin zum Verstummen. Das Leben ist vergangen zwischen dem „Noch nicht“ der Jugend und dem „Nie wieder“ des Alters. Dabei überwiegt jedoch der Tonfall des „Nicht mehr“, den Strauß‘ Protagonistin im Lauf der Rede von der Trauer des Verlusts des Geliebten in ein aktives Abschiednehmen aus Überdruss an der dinglichen Welt überführt. So endet das Buch mit den Worten, die ihm den Titel geben: „Nicht mehr! Mehr nicht! Sie tritt, nur um wegzusehen, vor die Tür. Nicht mehr davon! Und dann einfach: mehr nicht, nichts mehr. Nicht.“
Nichts bleibt von dieser existentiellen Abwendung unberührt, nicht einmal die Sprache selbst, die Strauß der medialen Kommunikation und der bloßen Unterhaltung entgegensetzt. Nur in und mit der Sprache ist das Sein berührbar. Da gelingen Strauß immer wieder schlichte, wunderschöne Miniaturen. Dann sind es die Wörter selbst, die materielle Gestalt gewinnen und die Schrift zu einem unmittelbaren religiösen Erfahrungsraum werden lassen. So schreibt die Erzählerin über sich als „sie“: „Von nun an, wenn sie das Wort Gott schreiben wollte, kam sie aus dem O-Rund nicht wieder heraus. Das O entließ ihre Hand und ihren Stift nicht mehr. Sie kreisten endlos darin.“ Da ist es auch nicht verwunderlich, wenn Strauß – oder vielmehr seine Protagonistin – sich nach Hieroglyphen sehnt, nach Chiffren, nach „Zeichen der Geheimhaltung“, nach „Schonung“, nach einer „Sprache des gesenkten Lids“. Die „Chiffren für sie“ – so der Untertitel des Buches – wären demnach eine Art Geheimsprache, die „das Weltwissen aufbewahrt wie in einem Fingerhut“. „Chiffren für sie“ heißt aber auch, dass sie selbst, die Lyrikerin Gertrud Vormweg, als sprechendes Ich nur eine Chiffre ist, damit die Sprache einen Leib erhält, mit dem sie sprechen kann. Strauß sucht nach „Worten der vollkommenen Sinnlichkeit, wie keine Haut, kein Körper sie je erregen könnte“. Sein Ideal wären „Worte, an die man sich lehnt, in sie verloren, wie an eine Mauer im Weinberg.“
Kann das gelingen? Ja, aber zu einem hohen Preis. Denn Leib und Sinnlichkeit sind nicht ohne Vergänglichkeit zu haben. Am Ende ist also auch die Sprache nicht vor dem Zerfall gefeit. Auch Mauern im Weinberg, so poetisch sie sein mögen, stürzen irgendwann ein. Am Ende allen Schrifttums sieht Strauß einen Menschen, der von den tausend Büchern, die er las, nichts behalten hat als das Alphabet, das er aufsagt. Was bleibt von Gott, wenn er nichts ist als ein rundes O? Strauß‘ weibliches Alter Ego bezieht sich auch darin auf die mythische Figur der Dido. Dido erhielt vom Numiderkönig eine Kuhhaut, die die Fläche des Gebiets bestimmen sollte, auf dem sie mit ihrem Gefolge siedeln durfte. Sie zerschnitt die Haut in feinste Streifen und legte so die Grenzen fest, innerhalb derer Karthago entstand. So wie Dido die Kuhhaut, zerschneidet die Autorin ihren Text in einzelne Zeilen. Exakt darin besteht das ästhetische Verfahren von Botho Strauß. Er hofft darauf, dass die einzelnen Sätze, aneinandergelegt, ein größeres Terrain öffnen, als es ein von Handlung, Dialog und Geschehen begrenzter Roman je könnte.
Botho Strauß ist der wortreiche Romantiker des Verstummens. Er spricht, wo niemand mehr zuhört, spricht mit sich selbst auf seinen einsamen Wegen durch die Uckermark mit ihren Weiden, Seen, Rapsfeldern und Rebhühnern, die auch diesem Buch einen konkreten Ort geben. Das Geschriebene bietet Gelegenheit, ihn dabei zu belauschen, so wie den Wind, der durch die Bäume fährt.
JÖRG MAGENAU
Botho Strauß spricht mit sich
selbst auf seinen einsamen
Wegen durch die Uckermark
Botho Strauß:
Nicht mehr. Mehr nicht. Chiffren für sie.
Hanser, München 2021.
156 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de