In den Geschichten dieses Buches folgt Uwe Timm der Spur des Wunderbaren, das in scheinbar gewöhnlichen Alltagssituationen nistet. Mit seinem absoluten Gehör für die gesprochene Sprache, voller Sinn für Ironie und Situationskomik, erzählt Timm von überraschenden Wendungen im Leben seiner Figuren. Wie kann ein einziges Abendessen eine recht ungewöhnliche Ehe beenden, und was wird aus der blutjungen Frau, die mit verdorbenem Magen aus der Wohnung flieht? Wie wird sie, die ewig Ungeschickte, ihr Leben meistern? Was mag der Fahrer eines Lastwagens, von zwei jungen Frauen engagiert, wohl von der Tour nach Polen in den Westen transportieren und warum lässt er den Wagen dann einfach stehen? Und welch tückische Rolle kann ein Schließfach im Leben eines Querkopfes spielen?
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.08.1999Die Kunst des Kürschners
Uwe Timms erster Erzählband "Nicht morgen, nicht gestern"
Im Sommer ist auch hier nicht viel los. Jedenfalls scheint es manchmal so. In Wirklichkeit ist wohl selbst die Ereignislosigkeit erdacht und jene Langeweile eine Erfindung, nach der die Ungeduld des Herzens verlangt. Immerhin passieren den andern die tollsten Dinge: "Ich lebe wochen-, ja monatelang in dieser Stadt", heißt es in Uwe Timms Erzählung "Das Schließfach", "und nichts Erzählenswertes passiert. Steiner hingegen steigt in München aus und wird sofort in eine Geschichte verwickelt. Er erlebt das, was ich mir nur am Schreibtisch ausdenke." Wieder einmal scheinen Literatur und Leben, dieses seltsame Zwillingspärchen, einfach nicht zusammenkommen zu wollen.
"Nicht morgen, nicht gestern" nennt der Romanautor Timm seinen ersten Band mit Erzählungen und lässt, dem Titel entsprechend, seine Geschichten mit zufälligen und plötzlichen Momenten beginnen, die ganz in die Gegenwart weisen: Ein Telephon durchdringt die Stille und kündigt unerwartet Besuch an oder übertönt den Hip-Hop-Sound aus dem Wohnzimmer und ruft den Computerfreak zur Arbeit; an den Gates des Kennedy - Airport kommt es unverhofft zur Begegnung mit einer alten Bekannten; wie aus dem Nichts richtet ein Fremder im Zug plötzlich das Wort an seinen Nachbarn. Jedesmal bestimmt die Störung einer vertrauten Ordnung den Ort des Erzählens.
Was dann folgt, sind unerhörte Begebenheiten: Nichtigkeiten manchmal, gewöhnliche Alltagshürden, die - hochgespielt - jedoch die gesamte Existenz in Frage stellen. Zu Recht hat die Kritik in Uwe Timms Romanen die Eindringlichkeit der Alltagsbeschreibungen hervorgehoben. Auch hier treibt er sie wieder in die Höhe, jongliert erzählerisch mit dem, was eben noch Lappalie schien. Dabei haben eigentlich nur die andern etwas zu sagen, nicht der Erzähler. Er ist nur der Lauscher, ein Protokollant der Figuren: "Aber das dicke Ende kommt noch", prahlt Gumbi in der "Wendegeschichte", und einen Moment lang zögert der Mitreisende, ob er den Speisewagen wirklich verlassen oder nicht einfach bis Göttingen weiterfahren soll. Das Abenteuer mit Waffenhandel, Zollvergehen und Fahndern des Militärischen Abschirmdienstes beginnt ihn gerade zu interessieren.
Am Bahnhof in Kassel ärgert er sich schon beim großen Anblick des Schriftplakats "Politics and Poetics. Documenta X", dass er nicht mehr als Zuhörer im Zug sitzt.
Die Literatur als Lauschangriff? Timm gelingt es, mit der altbekannten Figur des akustischen Parasiten die unterschiedlichsten Stimmen einzufangen. Den zotigen Atem des Stammtischs in der "Wendegeschichte" genauso wie den Jugendslang in "Screen", wo alle "die Krise kriegen" und die "Jugos und Lesben nebenan die größten Spießer" sind. In der Titelerzählung ist es die verhaltene Stimme einer jungen Frau; ein für allemal hat sie genug von den dozierenden Ergüssen des Liebhabers, der (fatalerweise) seine Doktorarbeit zur privaten Obsession erklärt. Die protokollierten Szenen verwandeln das Akustische in ein Bild, werden zu Porträts.
Man hat den Prozess literarischen Schreibens einmal mit der Arbeit einer Spinne verglichen, die den Faden des Gewebes aus ihrem Körper hervorbringt und im transparenten Gespinst des eigenen Sekrets auf geheimnisvolle Weise wieder verschwindet. In seiner Erzählung "Der Mantel" greift Timm auf ein anderes, benachbartes Bild zurück.
Er beschreibt die Technik desKürschners als Kunst und macht sie dabei zum poetologischen Modell. "Das ist doch das Wunderbare an dem Beruf", heißt es, "dass kein Fell wie das andere ist. Es gab Unterschiede in der Farbe, der Haarlänge, oft nur winzige Unterschiede, die man berücksichtigen musste. Und die Felle, stammten sie denn von Tieren aus der freien Wildbahn, hatten kleine Schäden. Dort, wo sich die Tiere gebissen oder an Dornen oder Felsen verletzt hatten, blieben Narben, kahle Stellen, Kahlauer, solche Stellen mussten dann vorsichtig ausgebessert werden. Es war eine Kunst."
"Der Mantel" ist die Geschichte einer alten Pelznäherin. Sechsundvierzig Jahre verbringt sie damit, Mäntel mit Seide zu füttern und an Pelznähmaschinen Felle zusammenzunähen: Persianer, Seehund, Nerz, Ozelot, Nutria und Biber. Noch bevor sie in Rente geht, befindet sich eines Morgens eine aufgeregte Menschenmenge vor dem Geschäft, darunter zwei Polizisten, die die weinende Besitzerin zu beruhigen versuchen. "Mörder" steht in weißer Farbe über die Scheiben geschrieben. Es hatte Vorwarnungen gegeben. Das Geschäft mit Pelzen war tot.
Natürlich ist eine solche Erzählung vor allem Schicksalsgeschichte. Beiläufig aber durchwebt sie der Autor mit Passagen, die zugleich die Geschichte einer Metapher entstehen lassen: das Bild vom Text als ein aus Fellstücken zusammengesetztes Ganzes, als Komposition aus Einzelbeobachtungen und Wortfetzen, die durch die Zackennaht der Schrift verbunden sind.
Der gelernte Kürschner Uwe Timm beherrscht diese Kunst in seinen Fallgeschichten des Alltags und maßgeschneiderten Porträts. Er rechnet, zeichnet, schneidet Auslassschnitte. Am Ende möchte man selbst gern so einen Mantel tragen, kunstvoll und filigran gearbeitet und gefüttert mit dunkelroter Seide.
JULIA ENCKE
Uwe Timm: "Nicht morgen, nicht gestern". Erzählungen. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 1999. 158 S., geb., 29,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Uwe Timms erster Erzählband "Nicht morgen, nicht gestern"
Im Sommer ist auch hier nicht viel los. Jedenfalls scheint es manchmal so. In Wirklichkeit ist wohl selbst die Ereignislosigkeit erdacht und jene Langeweile eine Erfindung, nach der die Ungeduld des Herzens verlangt. Immerhin passieren den andern die tollsten Dinge: "Ich lebe wochen-, ja monatelang in dieser Stadt", heißt es in Uwe Timms Erzählung "Das Schließfach", "und nichts Erzählenswertes passiert. Steiner hingegen steigt in München aus und wird sofort in eine Geschichte verwickelt. Er erlebt das, was ich mir nur am Schreibtisch ausdenke." Wieder einmal scheinen Literatur und Leben, dieses seltsame Zwillingspärchen, einfach nicht zusammenkommen zu wollen.
"Nicht morgen, nicht gestern" nennt der Romanautor Timm seinen ersten Band mit Erzählungen und lässt, dem Titel entsprechend, seine Geschichten mit zufälligen und plötzlichen Momenten beginnen, die ganz in die Gegenwart weisen: Ein Telephon durchdringt die Stille und kündigt unerwartet Besuch an oder übertönt den Hip-Hop-Sound aus dem Wohnzimmer und ruft den Computerfreak zur Arbeit; an den Gates des Kennedy - Airport kommt es unverhofft zur Begegnung mit einer alten Bekannten; wie aus dem Nichts richtet ein Fremder im Zug plötzlich das Wort an seinen Nachbarn. Jedesmal bestimmt die Störung einer vertrauten Ordnung den Ort des Erzählens.
Was dann folgt, sind unerhörte Begebenheiten: Nichtigkeiten manchmal, gewöhnliche Alltagshürden, die - hochgespielt - jedoch die gesamte Existenz in Frage stellen. Zu Recht hat die Kritik in Uwe Timms Romanen die Eindringlichkeit der Alltagsbeschreibungen hervorgehoben. Auch hier treibt er sie wieder in die Höhe, jongliert erzählerisch mit dem, was eben noch Lappalie schien. Dabei haben eigentlich nur die andern etwas zu sagen, nicht der Erzähler. Er ist nur der Lauscher, ein Protokollant der Figuren: "Aber das dicke Ende kommt noch", prahlt Gumbi in der "Wendegeschichte", und einen Moment lang zögert der Mitreisende, ob er den Speisewagen wirklich verlassen oder nicht einfach bis Göttingen weiterfahren soll. Das Abenteuer mit Waffenhandel, Zollvergehen und Fahndern des Militärischen Abschirmdienstes beginnt ihn gerade zu interessieren.
Am Bahnhof in Kassel ärgert er sich schon beim großen Anblick des Schriftplakats "Politics and Poetics. Documenta X", dass er nicht mehr als Zuhörer im Zug sitzt.
Die Literatur als Lauschangriff? Timm gelingt es, mit der altbekannten Figur des akustischen Parasiten die unterschiedlichsten Stimmen einzufangen. Den zotigen Atem des Stammtischs in der "Wendegeschichte" genauso wie den Jugendslang in "Screen", wo alle "die Krise kriegen" und die "Jugos und Lesben nebenan die größten Spießer" sind. In der Titelerzählung ist es die verhaltene Stimme einer jungen Frau; ein für allemal hat sie genug von den dozierenden Ergüssen des Liebhabers, der (fatalerweise) seine Doktorarbeit zur privaten Obsession erklärt. Die protokollierten Szenen verwandeln das Akustische in ein Bild, werden zu Porträts.
Man hat den Prozess literarischen Schreibens einmal mit der Arbeit einer Spinne verglichen, die den Faden des Gewebes aus ihrem Körper hervorbringt und im transparenten Gespinst des eigenen Sekrets auf geheimnisvolle Weise wieder verschwindet. In seiner Erzählung "Der Mantel" greift Timm auf ein anderes, benachbartes Bild zurück.
Er beschreibt die Technik desKürschners als Kunst und macht sie dabei zum poetologischen Modell. "Das ist doch das Wunderbare an dem Beruf", heißt es, "dass kein Fell wie das andere ist. Es gab Unterschiede in der Farbe, der Haarlänge, oft nur winzige Unterschiede, die man berücksichtigen musste. Und die Felle, stammten sie denn von Tieren aus der freien Wildbahn, hatten kleine Schäden. Dort, wo sich die Tiere gebissen oder an Dornen oder Felsen verletzt hatten, blieben Narben, kahle Stellen, Kahlauer, solche Stellen mussten dann vorsichtig ausgebessert werden. Es war eine Kunst."
"Der Mantel" ist die Geschichte einer alten Pelznäherin. Sechsundvierzig Jahre verbringt sie damit, Mäntel mit Seide zu füttern und an Pelznähmaschinen Felle zusammenzunähen: Persianer, Seehund, Nerz, Ozelot, Nutria und Biber. Noch bevor sie in Rente geht, befindet sich eines Morgens eine aufgeregte Menschenmenge vor dem Geschäft, darunter zwei Polizisten, die die weinende Besitzerin zu beruhigen versuchen. "Mörder" steht in weißer Farbe über die Scheiben geschrieben. Es hatte Vorwarnungen gegeben. Das Geschäft mit Pelzen war tot.
Natürlich ist eine solche Erzählung vor allem Schicksalsgeschichte. Beiläufig aber durchwebt sie der Autor mit Passagen, die zugleich die Geschichte einer Metapher entstehen lassen: das Bild vom Text als ein aus Fellstücken zusammengesetztes Ganzes, als Komposition aus Einzelbeobachtungen und Wortfetzen, die durch die Zackennaht der Schrift verbunden sind.
Der gelernte Kürschner Uwe Timm beherrscht diese Kunst in seinen Fallgeschichten des Alltags und maßgeschneiderten Porträts. Er rechnet, zeichnet, schneidet Auslassschnitte. Am Ende möchte man selbst gern so einen Mantel tragen, kunstvoll und filigran gearbeitet und gefüttert mit dunkelroter Seide.
JULIA ENCKE
Uwe Timm: "Nicht morgen, nicht gestern". Erzählungen. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 1999. 158 S., geb., 29,80 DM.
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Timms Erzählungen sind "schöne, ernste, komische und traurige Geschichten", meint Martin Lüdtke, schön und nicht sehr verkaufsträchtig, denn Erzählungen verkauften sich nicht gut. Das lassen wir mal dahingestellt. Bei Timm jedenfalls, so Lüdtke, passieren Schicksalsschläge oder Zufallsbegegnungen, schlagen unvorhersehbar ein und beleuchten in diesem Moment ein ganzes Leben - das Vorher und Nachher, Hin und Her, Kreuz und Quer eines Lebensweges wird mit einem Mal einleuchtend. Dafür bediene sich der Autor einer raffinierten Technik des Vorgreifens und Rückblickens, schreibt der Rezensent, "eine verschachtelte Schreibweise", die nicht auf Pointen aus sei, sondern einem Lebensgeschichten nahebringe und die Leser den eigenen Spielraum überdenken lasse.
© Perlentaucher Medien GmbH
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