Kinder und Jugendliche sind bis heute die großen Verlierer der Corona-Pandemie. Die Schließungen von Kitas, Schulen und Freizeitangeboten haben ihnen lebenswichtige soziale Bezugssysteme genommen, zu deutlichen Lernrückständen geführt, ihre psychische Gesundheit gefährdet und bereits bestehende Ungleichheiten verschärft. Was vorher galt, zeigte die Pandemie überdeutlich: Junge Menschen in Deutschland haben keine Lobby, wenig Rechte oder Mitsprache.
Gestützt auf aktuelle empirische Studien zieht Christoph Schickhardt die bittere Bilanz einer verfehlten Corona-Politik. Er benennt kinderethische Grundbegriffe und diskutiert diese mit Blick auf die UN-Kinderrechtskonvention und das Grundgesetz. Es ist symptomatisch für die Rechte junger Menschen, dass erst ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Schulschließungen eine grundgesetzliche Anerkennung des Rechts auf schulische Bildung ermöglichte.
Schickhardts kinderethische Überlegungen und Reformvorschläge sind ein wertvoller Anstoß in einer überfälligen Debatte über die Rolle von Kindern und Jugendlichen in der zukünftigen Gesellschaft.
»Systemrelevant waren andere und anderes. Die Selbstverständlichkeit und Geräuschlosigkeit, mit der Maßnahmen mit teilweise einschneidenden Folgen über die Köpfe der jungen Menschen hinweg erlassen und aufrechterhalten wurden, lässt sich nur teilweise mit dem Krisenmodus der Pandemie erklären.«
Gestützt auf aktuelle empirische Studien zieht Christoph Schickhardt die bittere Bilanz einer verfehlten Corona-Politik. Er benennt kinderethische Grundbegriffe und diskutiert diese mit Blick auf die UN-Kinderrechtskonvention und das Grundgesetz. Es ist symptomatisch für die Rechte junger Menschen, dass erst ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Schulschließungen eine grundgesetzliche Anerkennung des Rechts auf schulische Bildung ermöglichte.
Schickhardts kinderethische Überlegungen und Reformvorschläge sind ein wertvoller Anstoß in einer überfälligen Debatte über die Rolle von Kindern und Jugendlichen in der zukünftigen Gesellschaft.
»Systemrelevant waren andere und anderes. Die Selbstverständlichkeit und Geräuschlosigkeit, mit der Maßnahmen mit teilweise einschneidenden Folgen über die Köpfe der jungen Menschen hinweg erlassen und aufrechterhalten wurden, lässt sich nur teilweise mit dem Krisenmodus der Pandemie erklären.«
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Paul Gross liest die Lockdown-Aufarbeitung aus kinderethischer Sicht des Philosophen Christoph Schickhardt mit Gewinn. Über eine aus wahltaktischen Überlegungen in Kauf genommene Kindeswohlgefährdung durch den Staat, über verstärkte Mediensucht und Depression und eine höchst kurzsichtige Bildungspolitik während der Pandemie erfährt Gross Wissenswertes. Dass der Autor hier und dort pauschalisiert, ist die Ausnahme in der Regel einer ansonsten gründlichen Argumentation, meint der Rezensent. Schickhardts bildungspolitische Forderungen (Ferienreform, Mindestbildung) findet er plausibel.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.06.2024Im Blindflug
Christoph Schickhardt rechnet mit der Corona-Politik in Bezug auf Kinder und Jugendliche ab. Und macht ein paar Vorschläge, wie die Alten zur Wiedergutmachung beitragen könnten.
Im Grunde sagt der Titel schon alles. „Nicht systemrelevant“ hat der Philosoph und Medizinethiker Christoph Schickhardt seine Abrechnung mit der fatalen deutschen Corona-Politik in Bezug auf Kinder und Jugendliche überschrieben. Die Erkenntnis, dass in den Jahren 2020 bis 2022 vieles falsch gemacht wurde und noch viel mehr schiefgelaufen ist bei den staatlichen Maßnahmen, hat sich ja inzwischen bis zum Gesundheitsminister herumgesprochen. Doch es steht zu befürchten, dass diese Erkenntnisse schnell wieder vergessen sein werden. Darum kommt das Büchlein des in Heidelberg forschenden Kinderethikers Schickhardt zur rechten Zeit.
Über Kinder und Jugendliche wundern sich Erwachsene ja gern nur, wenn sie aus Erwachsenensicht seltsame Sachen machen, FDP wählen (2021), AfD wählen (2024) oder sich auf der Straße festkleben etwa. Über Rechte und Bedürfnisse von Null- bis Siebzehnjährige wird in der Politik aber selten geredet. Schickhardt spart hier nicht an klaren Worten: Als es etwa Anfang 2020 beim ersten Lockdown darum ging, wer besonders zu privilegieren sei, „waren viele Gruppen wie u. a. die Deutsche Fußballliga, die Friseure oder Gastronomen wesentlich wichtiger als die etwa 13,7 Millionen Kinder und Jugendliche“. Und warum wohl? „Die für die Corona-Politik Verantwortlichen mussten sich vor den jungen Menschen nicht an den Wahlurnen verantworten und das wussten sie auch.“
Nüchtern und zahlengesättigt führt der Philosoph durch die düstere Zeit „im Blindflug“: etwa drei Monate Schulausfall durch die verschiedenen Lockdownphasen, mangelhafter Distanzunterricht, weniger Schutz vor Kindeswohlgefährdungen, psychische Belastungen und so weiter... Und immer wieder mit dem Hinweis, dass vor allem benachteiligte Familien besonders unter den Maßnahmen zu leiden hatten. Sein Fazit: Die Corona-Politik war in Bezug auf die Kinder in ihrer Härte „nicht nötig und nicht verhältnismäßig“. Dazu kam aus seiner Sicht ein „großes Maß an fehlender Achtung, Sprach- und Empathielosigkeit“.
Durch den starken Fokus auf die Kinder und die hochmoralischen Kategorien „Gerechtigkeit“ und „Wohlbefinden“ entsteht allerdings auch ein schiefes Bild vom Pandemiemanagement der Regierungen. Die massive Wirtschaftshilfe und auch die Impfkampagne waren große Leistungen, die gleichwohl kritisch hinterfragt werden müssen. Und viele der teils vernünftigen Forderungen, die Schickhardt am Ende jedes Kapitels aufstellt – etwa wissenschaftliche Begleitung und Evaluierung von Maßnahmen, Monitoringprogramme oder bessere gesetzliche Regelungen für Kinderrechte –, dürften leider wenig Chancen auf Realisierung haben.
Am Schluss rüttelt Schickhardt auch noch an der Erzählung von der solidarischen Gesellschaft in den Corona-Jahren. Zu Recht stellt er die Frage, ob nicht die älteren Gruppen, zu deren Schutz die meisten Maßnahmen ja erfolgten, den jüngeren etwas schuldeten. „Haben diejenigen Senioren, die auch dank der Corona-Schutzmaßnahmen gesund durch die Pandemie kamen, zuvor reich und nach der Pandemie womöglich noch reicher waren, nicht die moralische Pflicht, den jungen Menschen etwas ‚zurückzugeben‘?“ Da schließlich die Corona-Milliardenausgaben vor allem die Schulden der jüngeren Generation seien, wäre aus seiner Sicht eine Sonderabgabe der Superreichen eine gute Idee.
Was lernen wir daraus? „Dieses obrigkeitsstaatliche Agieren trug sicherlich nicht dazu bei, Kinder und Jugendliche für die Verfahren und Institutionen der bundesrepublikanischen Demokratie oder für die Idee der Demokratie generell zu gewinnen.“ Siehe etwa Europawahl. Lektüreempfehlung für Politiker, Ministeriumsbürokraten und das Robert-Koch-Institut. Und für Leute, die ihr Bewusstsein schärfen wollen, woran es grundsätzlich hapert bei deutscher Jugendpolitik.
ROBERT PROBST
Christoph Schickhardt:
Nicht systemrelevant.
Eine Aufarbeitung der Corona-Politik aus kinderethischer Sicht. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2024.
175 Seiten, 18 Euro.
E-Book: 15,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Christoph Schickhardt rechnet mit der Corona-Politik in Bezug auf Kinder und Jugendliche ab. Und macht ein paar Vorschläge, wie die Alten zur Wiedergutmachung beitragen könnten.
Im Grunde sagt der Titel schon alles. „Nicht systemrelevant“ hat der Philosoph und Medizinethiker Christoph Schickhardt seine Abrechnung mit der fatalen deutschen Corona-Politik in Bezug auf Kinder und Jugendliche überschrieben. Die Erkenntnis, dass in den Jahren 2020 bis 2022 vieles falsch gemacht wurde und noch viel mehr schiefgelaufen ist bei den staatlichen Maßnahmen, hat sich ja inzwischen bis zum Gesundheitsminister herumgesprochen. Doch es steht zu befürchten, dass diese Erkenntnisse schnell wieder vergessen sein werden. Darum kommt das Büchlein des in Heidelberg forschenden Kinderethikers Schickhardt zur rechten Zeit.
Über Kinder und Jugendliche wundern sich Erwachsene ja gern nur, wenn sie aus Erwachsenensicht seltsame Sachen machen, FDP wählen (2021), AfD wählen (2024) oder sich auf der Straße festkleben etwa. Über Rechte und Bedürfnisse von Null- bis Siebzehnjährige wird in der Politik aber selten geredet. Schickhardt spart hier nicht an klaren Worten: Als es etwa Anfang 2020 beim ersten Lockdown darum ging, wer besonders zu privilegieren sei, „waren viele Gruppen wie u. a. die Deutsche Fußballliga, die Friseure oder Gastronomen wesentlich wichtiger als die etwa 13,7 Millionen Kinder und Jugendliche“. Und warum wohl? „Die für die Corona-Politik Verantwortlichen mussten sich vor den jungen Menschen nicht an den Wahlurnen verantworten und das wussten sie auch.“
Nüchtern und zahlengesättigt führt der Philosoph durch die düstere Zeit „im Blindflug“: etwa drei Monate Schulausfall durch die verschiedenen Lockdownphasen, mangelhafter Distanzunterricht, weniger Schutz vor Kindeswohlgefährdungen, psychische Belastungen und so weiter... Und immer wieder mit dem Hinweis, dass vor allem benachteiligte Familien besonders unter den Maßnahmen zu leiden hatten. Sein Fazit: Die Corona-Politik war in Bezug auf die Kinder in ihrer Härte „nicht nötig und nicht verhältnismäßig“. Dazu kam aus seiner Sicht ein „großes Maß an fehlender Achtung, Sprach- und Empathielosigkeit“.
Durch den starken Fokus auf die Kinder und die hochmoralischen Kategorien „Gerechtigkeit“ und „Wohlbefinden“ entsteht allerdings auch ein schiefes Bild vom Pandemiemanagement der Regierungen. Die massive Wirtschaftshilfe und auch die Impfkampagne waren große Leistungen, die gleichwohl kritisch hinterfragt werden müssen. Und viele der teils vernünftigen Forderungen, die Schickhardt am Ende jedes Kapitels aufstellt – etwa wissenschaftliche Begleitung und Evaluierung von Maßnahmen, Monitoringprogramme oder bessere gesetzliche Regelungen für Kinderrechte –, dürften leider wenig Chancen auf Realisierung haben.
Am Schluss rüttelt Schickhardt auch noch an der Erzählung von der solidarischen Gesellschaft in den Corona-Jahren. Zu Recht stellt er die Frage, ob nicht die älteren Gruppen, zu deren Schutz die meisten Maßnahmen ja erfolgten, den jüngeren etwas schuldeten. „Haben diejenigen Senioren, die auch dank der Corona-Schutzmaßnahmen gesund durch die Pandemie kamen, zuvor reich und nach der Pandemie womöglich noch reicher waren, nicht die moralische Pflicht, den jungen Menschen etwas ‚zurückzugeben‘?“ Da schließlich die Corona-Milliardenausgaben vor allem die Schulden der jüngeren Generation seien, wäre aus seiner Sicht eine Sonderabgabe der Superreichen eine gute Idee.
Was lernen wir daraus? „Dieses obrigkeitsstaatliche Agieren trug sicherlich nicht dazu bei, Kinder und Jugendliche für die Verfahren und Institutionen der bundesrepublikanischen Demokratie oder für die Idee der Demokratie generell zu gewinnen.“ Siehe etwa Europawahl. Lektüreempfehlung für Politiker, Ministeriumsbürokraten und das Robert-Koch-Institut. Und für Leute, die ihr Bewusstsein schärfen wollen, woran es grundsätzlich hapert bei deutscher Jugendpolitik.
ROBERT PROBST
Christoph Schickhardt:
Nicht systemrelevant.
Eine Aufarbeitung der Corona-Politik aus kinderethischer Sicht. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2024.
175 Seiten, 18 Euro.
E-Book: 15,99 Euro.
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»Schickhardt gelingt es, einen blinden Fleck zu markieren.« Paul Gross Frankfurter Allgemeine Zeitung 20240903