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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Wie erkennt man eine Lüge? Der Psychologe Max Steller findet vor Gericht immer wieder den Mittelweg zwischen Bagatelle und Skandal
Er ist der berühmteste menschliche Lügendetektor Deutschlands. Wenn die höchsten deutschen Gerichte endgültig wissen wollen, ob jemand die Wahrheit sagt, fragt man Max Steller. Als der RTL-Moderator Andreas Türck wegen Vergewaltigung vor Gericht stand, war es ein Gutachten von Steller, das die Staatsanwaltschaft überzeugte, auf Freispruch zu plädieren.
Spektakulär war auch der sogenannte Wormser Fall, bei dem Anfang der neunziger Jahre eine Großfamilie in den Verdacht des massenhaften Kindesmissbrauchs geriet. Die Kinder kamen in Heime, Familien zerbrachen, einundvierzig Menschen wurden schwer traumatisiert. Nach drei Jahren urteilten die Richter, die Vorwürfe seien allesamt unwahr, und ein Vorsitzender Richter entschuldigte sich mit bewegenden Worten bei den unschuldig Beschuldigten für die größte Justizkatastrophe der Nachkriegszeit. Es war ein Gutachten von Steller, auf das sich die Richter stützten. Im Jahr 1999 legte der Bundesgerichtshof Standards der Glaubhaftigkeitsbegutachtung fest, die im Wesentlichen auf der Expertise von Steller beruhten.
Sein Buch mit dem erschreckenden Titel "Nichts als die Wahrheit. Warum jeder unschuldig verurteilt werden kann" macht nicht nur seine jahrzehntelange Erfahrung in der Entlarvung von Lügen und Scheinerinnerungen, sondern auch die Wissenschaft der Aussagepsychologie allgemeinverständlich einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich. Das ist deswegen dringlich, weil im Schatten der großen Missbrauchswelle seit 2010 neben Kindern und Jugendlichen längst eine zweite Opfergruppe entstanden ist: die unschuldig Beschuldigten. Diese Menschen haben keine Lobby, sie können den Medien keine Story liefern, sie leiden still. Nicht selten stehen sie nach dem Freispruch vor den Trümmern ihres Lebens. "Überspitzt formuliert, würde es im Moment genügen, eine Aussage zu machen wie: ,Religionslehrer Schmidt hat mich vor zwanzig Jahren umarmt', um dafür zu sorgen, dass dieser Lehrer unehrenhaft aus dem Amt entlassen würde."
Das Grundproblem bei Sexualdelikten ist, dass es in der Regel keine Zeugen gibt, daher Aussage gegen Aussage steht und jedes Fehlurteil dramatische Folgen haben kann. Ein Fall für den Lügendetektor? Doch was ist, wenn der Lügendetektor lügt? Bei Max Steller kann man verstehen, warum diese Geräte keinerlei Sicherheit bieten, denn sie messen bloß körperliche Stressreaktionen. Zweifellos kann Lügen Stress bedeuten, aber auch die Konfrontation mit einer unfassbaren Falschbeschuldigung bedeutet Stress.
Die technische Entlarvung von Lügen funktioniert nicht. Wie soll man herausfinden, ob ein Lügner lügt? Steller sagt: mit hoher Sicherheit durch eine sorgfältige fachpsychologische Exploration. Zwar hält man Psychologie landläufig für eine etwas vage Disziplin, die höchstens zu Vermutungen, aber nie zu Sicherheit führt. Doch der Psychologe Max Steller schafft es, mit präziser Beschreibung, zwingender Logik und klarem Urteil den Leser zu überzeugen, dass man sich auf die Beweisführungen der modernen Aussagepsychologie verlassen kann.
Schon Konrad Adenauer hat davor gewarnt, dass Lügen einfach zu anstrengend sei. Man muss sich etwas einigermaßen Plausibles ausdenken, muss es überzeugend darstellen und sich dann auch noch genau daran erinnern. Lügen ist daher eine anspruchsvolle geistige Leistung. Wer lügt, hat alle Mühe, die wichtigsten Elemente der Lüge in geordneter Reihenfolge so vorzubringen, dass er sie auch wiederholen kann. Detaillierte Nebenbeobachtungen überfordern die intellektuelle Kapazität: Jeder Mensch hat nur eine begrenzte "Erfindungskompetenz". Daher sind "Realkennzeichen" plastische Beschreibungen, die auch nebensächliche Kleinigkeiten einschließen, ein eher ungeordneter Bericht und sogar Unsicherheiten sprechen eher gegen eine Lüge. Steller entfaltet die Arbeit der Aussagepsychologen an spannenden Fällen, die sich lesen wie Kurzkrimis.
Aber nicht bloß Lügen kann die Aussagepsychologie mit erstaunlicher Sicherheit entlarven. Ein besonders brisantes Feld sind Scheinerinnerungen, die durch unbeabsichtigte Suggestionen nicht zuletzt von dilettantischen "Psychotherapeuten" produziert werden und von denen der Betroffene - im Gegensatz zur Lüge - auch selbst überzeugt ist. Steller schildert drastische Fälle, in denen er durch sein Gutachten Opfern zu ihrem Recht verholfen hat, aber auch solche, in denen er die Verurteilung von Unschuldigen verhindern konnte. Er tut das wissenschaftlich nüchtern, aber immer mit Herz. Der vielfach Ausgezeichnete wurde von Ideologen übel beschimpft, denn solchen Leuten ist Wissenschaft immer suspekt. "Wenn heute jemand behauptet, ein Opfer zu sein, werden kritische Überlegungen zuweilen als politisch unkorrekt angesehen und unterlassen." Damit aber stehen die Grundlagen unserer Rechtsordnung in Frage.
Das Buch offenbart erschreckende Mängel des Justizwesens. Der Politik wirft Steller unsachgemäßen Opportunismus vor. Dabei stellt er das Opferentschädigungsgesetz auf den Prüfstand. Und den Kirchen schreibt er ins Stammbuch: "Häufig war ich über den rüden Umgang der Kirchen mit ihren Bediensteten überrascht (...), der Beschuldigte wurde häufig behandelt, als sei er schon überführt."
Entscheidend ist, den Mittelweg zwischen verhängnisvoller Bagatellisierung und lärmender Skandalisierung zu finden. Diesen Weg weist die Wissenschaft. Davon handelt dieses lesenswerte Buch. Man kann nur hoffen, dass die Aussagepsychologie Eingang in die Juristenausbildung findet. Das Buch ist ein Muss für Personalverantwortliche in Kirche und Jugendverbänden, aber auch für Planer von Präventionsprogrammen und Journalisten, die sich mit dem Thema Missbrauch befassen.
MANFRED LÜTZ
Max Steller: "Nichts als die Wahrheit". Warum jeder unschuldig verurteilt werden kann.
Heyne Verlag, München 2015. 288 S., geb., 19,99 [Euro].
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