Judith Hermanns Debüt >Sommerhaus, später< wurde zu einem der größten literarischen Erfolge der letzten Jahrzehnte. >Nichts als Gespenster< ist ihr zweiter Erzählungsband. Von Jonina und Magnus, von Owen und Sikka, von Ruth und Raoul erzählen Judith Hermanns Geschichten, von Norwegen und Nevada, Prag, Karlsbad und Island. Sie erzählen vom Lieben und Reisen und davon, wie sich Liebe und Reisen auf wundersame Weise ähnlich sind. Mit großer literarischer Meisterschaft entfaltet Judith Hermann den ihr eigenen unwiderstehlichen Sog und mächtigen Zauber. Einige dieser Geschichten wurden für das Kino verfilmt. Judith Hermann ist eine der meist gelesenen Autorinnen der Gegenwartsliteratur.
Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, CY, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, IRL, I, L, M, NL, P, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.02.2003Ich will mich nehmen, wie ich bin
Schöne Seelen im Sinkflug: Judith Hermann legt ihr zweites Buch vor und erweist sich als Geisterjägerin ihrer Generation
Drei Jahre bevor Judith Hermanns Erzählungsband "Sommerhaus, später" erscheint, steht ein junger Mann bei Fisch-Gosch in List auf Sylt und trinkt ein Jever aus der Flasche. Weil es ein bißchen kalt ist und der Westwind weht, trägt er eine gefütterte Wachstuchjacke englischen Fabrikats, die damals zu einer Art Erkennnungszeichen unter Gleichgesinnten avanciert war. Er ißt Scampi mit Knoblauchsoße, zwei Portionen, schaut in den Himmel und unterhält sich mit einer Blondine mit Pagenkopf und zuviel Gold an den Fingern. Das Gespräch kreist um denkbar banale Gegenstände, unser Wachstuchjackenträger hört daher auch gar nicht zu, sondern beobachtet lieber, wie seine Gesprächspartnerin ihr Haar aus dem Nacken wirft, und schließt daraus auf hinreichende Qualitäten im Bett. Dann steigt man in einen offenen Sportwagen und schnüffelt freudlos am Leder der Sitze.
Nichts an dieser Szene, mit der Christain Krachts Kultbuch "Faserland" beginnt, ist zufällig, nichts beliebig oder austauschbar. Die Fischbude kann nur Gosch heißen, und das Bier muß von Jever sein. Undenkbar, den Helden in einer Lederjacke auftreten zu lassen. Und auch der Ort des Geschehens ist dramaturgisch vorgegeben: Krachts Roman konnte nur auf Sylt beginnen, denn hier trifft sich die Jeunesse dorée der Republik, die unser Held im Lauf des Romans durchqueren wird.
Auf einer der zahllosen Partys, die er unterwegs besucht, hätte er ohne weiteres auf eine jener jungen Frauen treffen können, die uns seit dem Erzählungsband "Sommerhaus, später" so vertraut scheinen. In ihrem Leben ist alles so zufällig wie dieses Treffen, das überall stattfinden könnte. Sie ist nicht unbedingt hübsch, aber höchst apart, schüchtern in einer Weise, die nahtlos ins Selbstbewußte übergeht, präsent durch die Aura der Abwesenheit, in die sie sich hüllt wie in die stets pelzbesetzten Mäntel, die sie statt der Wachstuchjacke trägt. Ihre Haare sind sehr wahrscheinlich hochgesteckt, ihr Schmuck ist nicht teuer, aber veredelt durch Erinnerung, das bunte Freundschaftsbändchen an ihrem Handgelenk ist so abgeschnuddelt wie ein Teddybär. Kurzum: Sie ist eine seltsam anziehende Mischung aus Hühnchen und Diva, Botschafterin einer anderen Welt, die von Gosch, Sylt, Barbour und Brooks Brothers nicht weiß und nicht davon wissen will.
Was wäre wohl passiert, wenn Kracht-Kerl und Hermann-Hühnchen einander begegnet wären? Die schönste Liebesgeschichte der jungen deutschen Literatur, Popliterat trifft Fräuleinwunder?
Ach, nichts wäre passiert. Kaum einen Blick hätten sie füreinander gehabt, ein paar banale Sätze hätten sie ausgetauscht, sie hätte geheimnisvoll geblinzelt, er hätte Desinteresse zunächst geheuchelt und dann tatsächlich empfunden. Die Botschaft aus der anderen Welt wäre nicht überbracht worden, denn es gibt sie nicht, und dann, nach kurzer Zeit, hätten sie voneinander gelassen, denn sie hätten einander nicht erkannt. Seltsam, hätte das Hermann-Hühnchen noch gedacht, Stunden später oder auch erst am nächsten Tag, an irgendwen hat er mich erinnert. Aber an wen bloß? Nie wäre sie darauf gekommen, daß dieser fremde junge Mann ihr ähnelt wie ein älterer Bruder seiner kleinen Schwester.
Judith Hermanns Erzählungen sind die Fortschreibung von Christian Krachts "Faserland" unter umgekehrten Vorzeichen: die Perspektive ist weiblich, nicht männlich, die Freundesclique ist nicht bestens situiert, sondern schlägt sich gerade so durch. An die Stelle des Markenfetischismus ist ein anderer Kult getreten, der nichts mit Statusdenken und sehr viel mit Sehnsucht zu tun hat. Wo Krachts Held sein Ungenügen an der Welt mit Herablassung und Verachtung bis zum Haß kompensiert, kultivieren Hermanns Figuren ihren Weltschmerz. Sie bewohnen die Leere in ihrem Inneren wie eine Altbauwohnung. Sie fühlen sich nicht wirklich wohl in diesem Ambiente, aber irgendwie ist es auch wieder schick.
Mit Anfang Dreißig befinden sie sich noch immer in der Ausbildung: eifrige Lehrlinge der Sehnsucht und der gemäßigten Verzweiflung, unfähig zu Zorn und jeder anderen Leidenschaft. Ihre Lieblingsbeschäftigung ist die Selbstbetrachtung, die jedoch nie zur Analyse führt, weshalb sie von ihrem Forschungsgegenstand auch nicht besonders viel wissen. Ein schwach ausgeprägtes Reflexionsbedürfnis zieht ihrer Selbsterkenntnis enge Grenzen. Geradezu panisch ist ihre Furcht, den Dingen auf den Grund zu gehen. So lautet ihr Lebensmotto, frei nach Magarine-Werbung und den Romantikern: Ich will mich nehmen, wie ich bin.
Nein, bei Lichte besehen, sind Judith Hermanns Figuren kaum sympathischer als Christian Krachts verzweifelte Dandys. Ein Jahr nachdem "Sommerhaus, später" erschienen war, hat Christian Kracht einen Sammelband mit Erzählungen seiner Generationsgenossen herausgegeben, von Eckhart Nickel und Elke Naters bis Moritz von Uslar und Benjamin von Stuckrad-Barre. Judith Hermann war in dem Band "Mesopotamia" nicht vertreten. Aber der Untertitel des Buches traf auch auf "Sommerhaus, später" zu: "Ernste Geschichten am Ende des Jahrtausends." Man muß nur eine Kleinigkeit ändern und aus dem Ende einen Anfang machen - schon paßt das Etikett auch auf den neuen Band, Judith Hermanns mit viel Spannung erwartetes zweites Buch.
Es ist kein Wunder, daß die sieben Erzählungen, die der Band "Nichts als Gespenster" versammelt, in einigen der ersten Rezensionen kräftig verrissen wurden. Nach dem übergroßen Erfolg des Debüts war vorhersehbar, daß die Kritik den Jungstar auf den Boden der Realität zurückholen wollte. Allerdings deutet nichts darauf, daß die Autorin diesen je verlassen hätte - ganz im Gegensatz zur Kritik.
Nicht wenige der Einwände, die jetzt erhoben werden, sind durchaus berechtigt: die Erfahrungsarmut der Figuren, die schlecht verhüllte Larmoyanz, die "Unterkomplexität" und der spätpubertäre Duktus der Beziehungsgeschichten, die Nähe zu Kitsch und Banalität, die stilistischen Mängel, die Dürftigkeit der Metaphern, die verunglückten Sätze. All dies ist nicht von der Hand zu weisen. Aber all dies galt schon für das Debüt. Dennoch wurde es von der Kritik in den Himmel gehoben und von den Lesern geliebt.
Wer Judith Hermann jetzt verreißt, korrigiert womöglich vor allem sein früheres Urteil. Das bedeutet aber keineswegs, daß die Verrisse dieser Autorin nun angemessener wären, als es zuvor die Lobeshymnen waren. Beim zweiten Band schmäht die Kritik, was sie beim Debüt übersehen hatte, und übersieht, was sie zuvor nicht laut genug loben konnte. Denn die große Stärke dieser Geschichten ist ja vor allem die Atmosphäre, ist die intensive Darstellung eines Lebensgefühls. Den Nerv ihrer Generation, den "Sommerhaus, später" so offenkundig traf, hat Judith Hermann auch mit ihrem zweiten Buch nicht verfehlt. Es ist wiederum der Ton, der in den Bann zieht. Wer bereit ist, über manches Knacken hinwegzuhören, wird ihn noch intensiver finden als im Debüt. Unzumutbar sind die falschen Töne nur für den, der die Gemälde der Impressionisten ausschließlich mit der Lupe in der Hand betrachtet.
Fünf weibliche Ich-Erzähler sind hier versammelt, und alle zieht es hinaus in die Welt. Die eine reist dem Schauspieler nach, den sie begehrt, obwohl oder weil er der Liebhaber der abgöttisch geliebten Freundin ist. Die andere reist mit dem besten Freund des Mannes, in den sie hoffnungslos verliebt ist, nach Prag, um dort den trostlosesten Jahreswechsel zu feiern, der sich denken läßt. Eine andere reist zu einem befreundeten Künstler, um einen Katalogtext für Bilder zu schreiben, die es nicht gibt. Immer geht es dabei um das Spiel, die Verliebtheit. Von einer Freundschaft, die keine Freundschaft war, zu einer Liebe, die keine Liebe sein wird, ist es ja nur ein kleiner Schritt. So klein allerdings, daß es kaum lohnt, ihn zu gehen.
Die Bewegungen bleiben äußerlich. So viel gereist wird in diesem Buch, so wenig bewegt sich in den Herzen. Nie legt sich jemand fest, alles wird dem Zufall, der Stimmung, der Laune des Augenblicks überlassen. Wohnhaft sind Judith Hermanns Figuren im weiten Land des Transitorischen. Darin sehen sie die Grundbedingung ihrer Freiheit. Dabei ist der Zustand des Übergangs in Permanenz nichts anderes als Stagnation.
Das Schwebende, Melancholische dieser Geschichten kann nicht überdecken, daß Judith Hermanns Erzählerinnen schöne Seelen in Sinkflug sind. Noch scheinen sie die Höhe zu halten, im Aufwind ihrer zarten Empfindungen und bittersüßen Selbstbetrachtungen. Aber wer den dreißigsten Geburtstag nahen sieht, beginnt zu ahnen, daß zwischen der prolongierten Pubertät und dem Alter noch etwas auf ihn warten könnte, etwas, das sich aufschieben läßt, dem aber niemand entgeht. Bald schon dürfte die Jugendschöne von Judith Hermanns Figuren verblichen sein. Schon jetzt haftet ihnen zuweilen etwas Gespensterhaftes an, und es liegt nahe, den Titel des Bandes als Kommentar der Autorin zu ihren Figuren zu lesen.
In "Nichts als Gespenster" reist die Erzählerin mit ihrem Freund durch die Vereinigten Staaten. Obwohl alles dafür spricht, daß die gemeinsame Fahrt mit dem Pick-up der maroden Beziehung den Rest geben wird, lebt sie am Ende mit ihrem schweigsamen Freund zusammen und hat sogar ein Kind von ihm. Ausschlaggebend für den Kinderwunsch war jedoch ein anderer Mann: eine Zufallsbekanntschaft aus einer Bar im Nirgendwo der Wüste von Nevada. Neben dem Motel, in dem sie übernachten wollen, liegt ein altes Hotel, in dem es spuken soll. Die Geister der Goldgräber gehören ebensowenig hierhin wie die beiden deutschen Touristen. Denn das Hotel stand früher in Kalifornien, bevor es abgerissen und Stück für Stück in der Wüste wieder aufgebaut wurde. Eine Geisterjägerin, die mit allerlei technischem Gerät Beweise für die Existenz übersinnlicher Erscheinungen sammeln will, macht schließlich mit dem letzten Bild ihrer Kamera ein Foto von der kleinen Gruppe, die der Zufall zusammengeführt hat.
Judith Hermann ist die Geisterjägerin ihrer Generation. Eine große Meisterin der deutschen Sprache ist sie nicht. Aber ihr Talent, Stimmungen zu beschreiben und banale Situationen aufzuladen, bis ihre Akteure deutlich vor uns stehen, ist unter den jungen deutschen Autoren zur Zeit einzigartig. Wem das nicht genügt, der hat schlicht Pech gehabt. Denn er wird lange suchen müssen, bis er hierzulande in diesem Genre Besseres findet.
Judith Hermann: "Nichts als Gespenster". Erzählungen. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2003. 318 S., geb., 17,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Schöne Seelen im Sinkflug: Judith Hermann legt ihr zweites Buch vor und erweist sich als Geisterjägerin ihrer Generation
Drei Jahre bevor Judith Hermanns Erzählungsband "Sommerhaus, später" erscheint, steht ein junger Mann bei Fisch-Gosch in List auf Sylt und trinkt ein Jever aus der Flasche. Weil es ein bißchen kalt ist und der Westwind weht, trägt er eine gefütterte Wachstuchjacke englischen Fabrikats, die damals zu einer Art Erkennnungszeichen unter Gleichgesinnten avanciert war. Er ißt Scampi mit Knoblauchsoße, zwei Portionen, schaut in den Himmel und unterhält sich mit einer Blondine mit Pagenkopf und zuviel Gold an den Fingern. Das Gespräch kreist um denkbar banale Gegenstände, unser Wachstuchjackenträger hört daher auch gar nicht zu, sondern beobachtet lieber, wie seine Gesprächspartnerin ihr Haar aus dem Nacken wirft, und schließt daraus auf hinreichende Qualitäten im Bett. Dann steigt man in einen offenen Sportwagen und schnüffelt freudlos am Leder der Sitze.
Nichts an dieser Szene, mit der Christain Krachts Kultbuch "Faserland" beginnt, ist zufällig, nichts beliebig oder austauschbar. Die Fischbude kann nur Gosch heißen, und das Bier muß von Jever sein. Undenkbar, den Helden in einer Lederjacke auftreten zu lassen. Und auch der Ort des Geschehens ist dramaturgisch vorgegeben: Krachts Roman konnte nur auf Sylt beginnen, denn hier trifft sich die Jeunesse dorée der Republik, die unser Held im Lauf des Romans durchqueren wird.
Auf einer der zahllosen Partys, die er unterwegs besucht, hätte er ohne weiteres auf eine jener jungen Frauen treffen können, die uns seit dem Erzählungsband "Sommerhaus, später" so vertraut scheinen. In ihrem Leben ist alles so zufällig wie dieses Treffen, das überall stattfinden könnte. Sie ist nicht unbedingt hübsch, aber höchst apart, schüchtern in einer Weise, die nahtlos ins Selbstbewußte übergeht, präsent durch die Aura der Abwesenheit, in die sie sich hüllt wie in die stets pelzbesetzten Mäntel, die sie statt der Wachstuchjacke trägt. Ihre Haare sind sehr wahrscheinlich hochgesteckt, ihr Schmuck ist nicht teuer, aber veredelt durch Erinnerung, das bunte Freundschaftsbändchen an ihrem Handgelenk ist so abgeschnuddelt wie ein Teddybär. Kurzum: Sie ist eine seltsam anziehende Mischung aus Hühnchen und Diva, Botschafterin einer anderen Welt, die von Gosch, Sylt, Barbour und Brooks Brothers nicht weiß und nicht davon wissen will.
Was wäre wohl passiert, wenn Kracht-Kerl und Hermann-Hühnchen einander begegnet wären? Die schönste Liebesgeschichte der jungen deutschen Literatur, Popliterat trifft Fräuleinwunder?
Ach, nichts wäre passiert. Kaum einen Blick hätten sie füreinander gehabt, ein paar banale Sätze hätten sie ausgetauscht, sie hätte geheimnisvoll geblinzelt, er hätte Desinteresse zunächst geheuchelt und dann tatsächlich empfunden. Die Botschaft aus der anderen Welt wäre nicht überbracht worden, denn es gibt sie nicht, und dann, nach kurzer Zeit, hätten sie voneinander gelassen, denn sie hätten einander nicht erkannt. Seltsam, hätte das Hermann-Hühnchen noch gedacht, Stunden später oder auch erst am nächsten Tag, an irgendwen hat er mich erinnert. Aber an wen bloß? Nie wäre sie darauf gekommen, daß dieser fremde junge Mann ihr ähnelt wie ein älterer Bruder seiner kleinen Schwester.
Judith Hermanns Erzählungen sind die Fortschreibung von Christian Krachts "Faserland" unter umgekehrten Vorzeichen: die Perspektive ist weiblich, nicht männlich, die Freundesclique ist nicht bestens situiert, sondern schlägt sich gerade so durch. An die Stelle des Markenfetischismus ist ein anderer Kult getreten, der nichts mit Statusdenken und sehr viel mit Sehnsucht zu tun hat. Wo Krachts Held sein Ungenügen an der Welt mit Herablassung und Verachtung bis zum Haß kompensiert, kultivieren Hermanns Figuren ihren Weltschmerz. Sie bewohnen die Leere in ihrem Inneren wie eine Altbauwohnung. Sie fühlen sich nicht wirklich wohl in diesem Ambiente, aber irgendwie ist es auch wieder schick.
Mit Anfang Dreißig befinden sie sich noch immer in der Ausbildung: eifrige Lehrlinge der Sehnsucht und der gemäßigten Verzweiflung, unfähig zu Zorn und jeder anderen Leidenschaft. Ihre Lieblingsbeschäftigung ist die Selbstbetrachtung, die jedoch nie zur Analyse führt, weshalb sie von ihrem Forschungsgegenstand auch nicht besonders viel wissen. Ein schwach ausgeprägtes Reflexionsbedürfnis zieht ihrer Selbsterkenntnis enge Grenzen. Geradezu panisch ist ihre Furcht, den Dingen auf den Grund zu gehen. So lautet ihr Lebensmotto, frei nach Magarine-Werbung und den Romantikern: Ich will mich nehmen, wie ich bin.
Nein, bei Lichte besehen, sind Judith Hermanns Figuren kaum sympathischer als Christian Krachts verzweifelte Dandys. Ein Jahr nachdem "Sommerhaus, später" erschienen war, hat Christian Kracht einen Sammelband mit Erzählungen seiner Generationsgenossen herausgegeben, von Eckhart Nickel und Elke Naters bis Moritz von Uslar und Benjamin von Stuckrad-Barre. Judith Hermann war in dem Band "Mesopotamia" nicht vertreten. Aber der Untertitel des Buches traf auch auf "Sommerhaus, später" zu: "Ernste Geschichten am Ende des Jahrtausends." Man muß nur eine Kleinigkeit ändern und aus dem Ende einen Anfang machen - schon paßt das Etikett auch auf den neuen Band, Judith Hermanns mit viel Spannung erwartetes zweites Buch.
Es ist kein Wunder, daß die sieben Erzählungen, die der Band "Nichts als Gespenster" versammelt, in einigen der ersten Rezensionen kräftig verrissen wurden. Nach dem übergroßen Erfolg des Debüts war vorhersehbar, daß die Kritik den Jungstar auf den Boden der Realität zurückholen wollte. Allerdings deutet nichts darauf, daß die Autorin diesen je verlassen hätte - ganz im Gegensatz zur Kritik.
Nicht wenige der Einwände, die jetzt erhoben werden, sind durchaus berechtigt: die Erfahrungsarmut der Figuren, die schlecht verhüllte Larmoyanz, die "Unterkomplexität" und der spätpubertäre Duktus der Beziehungsgeschichten, die Nähe zu Kitsch und Banalität, die stilistischen Mängel, die Dürftigkeit der Metaphern, die verunglückten Sätze. All dies ist nicht von der Hand zu weisen. Aber all dies galt schon für das Debüt. Dennoch wurde es von der Kritik in den Himmel gehoben und von den Lesern geliebt.
Wer Judith Hermann jetzt verreißt, korrigiert womöglich vor allem sein früheres Urteil. Das bedeutet aber keineswegs, daß die Verrisse dieser Autorin nun angemessener wären, als es zuvor die Lobeshymnen waren. Beim zweiten Band schmäht die Kritik, was sie beim Debüt übersehen hatte, und übersieht, was sie zuvor nicht laut genug loben konnte. Denn die große Stärke dieser Geschichten ist ja vor allem die Atmosphäre, ist die intensive Darstellung eines Lebensgefühls. Den Nerv ihrer Generation, den "Sommerhaus, später" so offenkundig traf, hat Judith Hermann auch mit ihrem zweiten Buch nicht verfehlt. Es ist wiederum der Ton, der in den Bann zieht. Wer bereit ist, über manches Knacken hinwegzuhören, wird ihn noch intensiver finden als im Debüt. Unzumutbar sind die falschen Töne nur für den, der die Gemälde der Impressionisten ausschließlich mit der Lupe in der Hand betrachtet.
Fünf weibliche Ich-Erzähler sind hier versammelt, und alle zieht es hinaus in die Welt. Die eine reist dem Schauspieler nach, den sie begehrt, obwohl oder weil er der Liebhaber der abgöttisch geliebten Freundin ist. Die andere reist mit dem besten Freund des Mannes, in den sie hoffnungslos verliebt ist, nach Prag, um dort den trostlosesten Jahreswechsel zu feiern, der sich denken läßt. Eine andere reist zu einem befreundeten Künstler, um einen Katalogtext für Bilder zu schreiben, die es nicht gibt. Immer geht es dabei um das Spiel, die Verliebtheit. Von einer Freundschaft, die keine Freundschaft war, zu einer Liebe, die keine Liebe sein wird, ist es ja nur ein kleiner Schritt. So klein allerdings, daß es kaum lohnt, ihn zu gehen.
Die Bewegungen bleiben äußerlich. So viel gereist wird in diesem Buch, so wenig bewegt sich in den Herzen. Nie legt sich jemand fest, alles wird dem Zufall, der Stimmung, der Laune des Augenblicks überlassen. Wohnhaft sind Judith Hermanns Figuren im weiten Land des Transitorischen. Darin sehen sie die Grundbedingung ihrer Freiheit. Dabei ist der Zustand des Übergangs in Permanenz nichts anderes als Stagnation.
Das Schwebende, Melancholische dieser Geschichten kann nicht überdecken, daß Judith Hermanns Erzählerinnen schöne Seelen in Sinkflug sind. Noch scheinen sie die Höhe zu halten, im Aufwind ihrer zarten Empfindungen und bittersüßen Selbstbetrachtungen. Aber wer den dreißigsten Geburtstag nahen sieht, beginnt zu ahnen, daß zwischen der prolongierten Pubertät und dem Alter noch etwas auf ihn warten könnte, etwas, das sich aufschieben läßt, dem aber niemand entgeht. Bald schon dürfte die Jugendschöne von Judith Hermanns Figuren verblichen sein. Schon jetzt haftet ihnen zuweilen etwas Gespensterhaftes an, und es liegt nahe, den Titel des Bandes als Kommentar der Autorin zu ihren Figuren zu lesen.
In "Nichts als Gespenster" reist die Erzählerin mit ihrem Freund durch die Vereinigten Staaten. Obwohl alles dafür spricht, daß die gemeinsame Fahrt mit dem Pick-up der maroden Beziehung den Rest geben wird, lebt sie am Ende mit ihrem schweigsamen Freund zusammen und hat sogar ein Kind von ihm. Ausschlaggebend für den Kinderwunsch war jedoch ein anderer Mann: eine Zufallsbekanntschaft aus einer Bar im Nirgendwo der Wüste von Nevada. Neben dem Motel, in dem sie übernachten wollen, liegt ein altes Hotel, in dem es spuken soll. Die Geister der Goldgräber gehören ebensowenig hierhin wie die beiden deutschen Touristen. Denn das Hotel stand früher in Kalifornien, bevor es abgerissen und Stück für Stück in der Wüste wieder aufgebaut wurde. Eine Geisterjägerin, die mit allerlei technischem Gerät Beweise für die Existenz übersinnlicher Erscheinungen sammeln will, macht schließlich mit dem letzten Bild ihrer Kamera ein Foto von der kleinen Gruppe, die der Zufall zusammengeführt hat.
Judith Hermann ist die Geisterjägerin ihrer Generation. Eine große Meisterin der deutschen Sprache ist sie nicht. Aber ihr Talent, Stimmungen zu beschreiben und banale Situationen aufzuladen, bis ihre Akteure deutlich vor uns stehen, ist unter den jungen deutschen Autoren zur Zeit einzigartig. Wem das nicht genügt, der hat schlicht Pech gehabt. Denn er wird lange suchen müssen, bis er hierzulande in diesem Genre Besseres findet.
Judith Hermann: "Nichts als Gespenster". Erzählungen. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2003. 318 S., geb., 17,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main