In wenigen Jahren wird es niemanden geben, der den Nationalsozialismus »ganz« - von 1933 an - bewusst miterlebt hat. Die Geschichtsschreibung hingegen nimmt zu. Ihre Urteile wandeln sich und widersprechen einander, und fast alle versuchen, die Deutung und Bewertung der Zeit an sich zu reißen, sie »neu« vorzunehmen - die der Nazis, der Mitläufer, der Gegner. Hartmut von Hentig tut etwas anderes: Aus der Fülle des vorhandenen Wissens über die Brüder Claus und Berthold Stauffenberg destilliert er das heraus, was den Nachgeborenen hilft, die Voraussetzungen ihrer Tat zu verstehen. Die Stauffenberg-Brüder zeigen nicht nur »Entschlossenheit und Rationalität« gegenüber den übermächtigen »Verhältnissen«; sie vollziehen eine schwierige Abkehr von eigenen, nunmehr missbrauchten Idealen; sie wissen, es genügt nicht, den Tyrannen zu beseitigen, man muss auch für das aufkommen, was danach geschieht; sie nehmen die Einsamkeit bewusst auf sich. Können die Attentäter vom 20. Juli Vorbild sein? Hentig antwortet: Ja, indem sie in schwerster Zeit das getan haben, was man selber gern getan hätte. Es gibt notwendige Taten, die nicht sinnlos werden, indem sie misslingen. Und: Man muss nicht von vornherein das Richtige gewusst und gewollt haben.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.07.2008Die eigentliche Bombe
Im Oktober 2007 wurde in Stuttgart die Stauffenberg-Gesellschaft gegründet. Aus diesem Anlass unterschied der 1925 geborene Erziehungswissenschaftler und Festredner Hartmut von Hentig trefflich zwischen Abstand, Widerstand und Aufstand. Innere Vorbehalte gegen Hitlers Regime - also Abstand - hätten viele nach dem Kriege als Ausweis für Widerstand angesehen oder ausgegeben. Widerstand müsse jedoch "von dem wahrgenommen werden, dem er geleistet wird". Dabei hätten die Nationalsozialisten hin und wieder manches absichtlich übersehen, weil sie selbst davon ausgehen wollten, dass das deutsche Volk geschlossen hinter ihnen stehe. Den Aufstand habe Claus Schenk Graf von Stauffenberg gewagt, ihn "Erhebung" genannt. Den Ablauf des gescheiterten Staatsstreichs kenne man mittlerweile vor allem aus Filmen. Jedoch lasse sich "das eigentliche Wunder, das den Verschwörern in der Not gelang", in Bildern gar nicht darstellen: "Sie haben sich nicht nur geeinigt, sie haben ihrer Sache eine einfache, starke, bleibende Sprache verliehen." So zitiert Hentig ausführlich aus dem Aufruf, den Generaloberst Ludwig Beck unterzeichnet hatte: "Wir werden die Beweise für den ungeheuerlichen Verrat an dem deutschen Volke und an seiner Seele, für die totale Beugung des Rechts, für die Verhöhnung der edlen Forderung, dass Gemeinnutz vor Eigennutz zu gehen habe, für schamlose Korruption offen darlegen." Der Text sei doch "die eigentliche Bombe" des 20. Juli 1944 gewesen, eigne sich daher immer noch als Pflichtlektüre für jeden Deutschen. "Mit der Verbreitung des Aufrufs im Rundfunk, mit der Auslösung der Operation Walküre und mit der sofortigen Öffnung der KZs wäre es nicht mehr entscheidend gewesen, was die andere Bombe in der Wolfsschanze angerichtet hatte oder nicht." (Hartmut von Hentig: Nichts war umsonst. Stauffenbergs Not. Wallstein Verlag, Göttingen 2008. 64 S., 9,90 [Euro].)
RAINER BLASIUS
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Im Oktober 2007 wurde in Stuttgart die Stauffenberg-Gesellschaft gegründet. Aus diesem Anlass unterschied der 1925 geborene Erziehungswissenschaftler und Festredner Hartmut von Hentig trefflich zwischen Abstand, Widerstand und Aufstand. Innere Vorbehalte gegen Hitlers Regime - also Abstand - hätten viele nach dem Kriege als Ausweis für Widerstand angesehen oder ausgegeben. Widerstand müsse jedoch "von dem wahrgenommen werden, dem er geleistet wird". Dabei hätten die Nationalsozialisten hin und wieder manches absichtlich übersehen, weil sie selbst davon ausgehen wollten, dass das deutsche Volk geschlossen hinter ihnen stehe. Den Aufstand habe Claus Schenk Graf von Stauffenberg gewagt, ihn "Erhebung" genannt. Den Ablauf des gescheiterten Staatsstreichs kenne man mittlerweile vor allem aus Filmen. Jedoch lasse sich "das eigentliche Wunder, das den Verschwörern in der Not gelang", in Bildern gar nicht darstellen: "Sie haben sich nicht nur geeinigt, sie haben ihrer Sache eine einfache, starke, bleibende Sprache verliehen." So zitiert Hentig ausführlich aus dem Aufruf, den Generaloberst Ludwig Beck unterzeichnet hatte: "Wir werden die Beweise für den ungeheuerlichen Verrat an dem deutschen Volke und an seiner Seele, für die totale Beugung des Rechts, für die Verhöhnung der edlen Forderung, dass Gemeinnutz vor Eigennutz zu gehen habe, für schamlose Korruption offen darlegen." Der Text sei doch "die eigentliche Bombe" des 20. Juli 1944 gewesen, eigne sich daher immer noch als Pflichtlektüre für jeden Deutschen. "Mit der Verbreitung des Aufrufs im Rundfunk, mit der Auslösung der Operation Walküre und mit der sofortigen Öffnung der KZs wäre es nicht mehr entscheidend gewesen, was die andere Bombe in der Wolfsschanze angerichtet hatte oder nicht." (Hartmut von Hentig: Nichts war umsonst. Stauffenbergs Not. Wallstein Verlag, Göttingen 2008. 64 S., 9,90 [Euro].)
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