In wenigen Jahren wird es niemanden geben, der den Nationalsozialismus "ganz" - von 1933 an - bewusst miterlebt hat. Die Geschichtsschreibung hingegen nimmt zu. Ihre Urteile wandeln sich und widersprechen einander, und fast alle versuchen, die Deutung und Bewertung der Zeit an sich zu reißen, sie "neu" vorzunehmen - die der Nazis, der Mitläufer, der Gegner. Hartmut von Hentig tut etwas anderes: Aus der Fülle des vorhandenen Wissens über die Brüder Claus und Berthold Stauffenberg destilliert er das heraus, was den Nachgeborenen hilft, die Voraussetzungen ihrer Tat zu verstehen. Die Stauffenberg-Brüder zeigen nicht nur "Entschlossenheit und Rationalität" gegenüber den übermächtigen "Verhältnissen"; sie vollziehen eine schwierige Abkehr von eigenen, nunmehr missbrauchten Idealen; sie wissen, es genügt nicht, den Tyrannen zu beseitigen, man muss auch für das aufkommen, was danach geschieht; sie nehmen die Einsamkeit bewusst auf sich. Können die Attentäter vom 20. Juli Vorbild sein? Hentig antwortet: Ja, indem sie in schwerster Zeit das getan haben, was man selber gern getan hätte. Es gibt notwendige Taten, die nicht sinnlos werden, indem sie misslingen. Und: Man muss nicht von vornherein das Richtige gewusst und gewollt haben.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.07.2008Vor der Geschichte
Hartmut von Hentig über Claus Graf von Stauffenberg
Es ist eine hohe Kunst, zu einem bekannten Gegenstand mit wenigen Worten grundsätzlich Neues zu sagen. Am 25. Oktober 2007 wurde in Stuttgart die Stauffenberg-Gesellschaft gegründet. Aus diesem Anlass hielt der Bildungsforscher Hartmut von Hentig die erste Stauffenberg-Gedächtnisvorlesung. Er sprach nicht als Historiker, sondern als Pädagoge. Er fragt, welche Wirkung der 20. Juli heute noch hat. Hentig zeigt, wie Claus Schenk Graf von Stauffenberg zum politischen Täter wurde. Wie die meisten Zeitgenossen hatte er die Verruchtheit Hitlers nicht sogleich erkannt, ihm zugetraut, eine dauerhafte Ordnung zu schaffen. Als Berufsoffizier tat er deshalb seine Pflicht. Hitlers Unverstand, der in der Winterkatastrophe 1941/42 manifest wurde, vor allem aber der Völkermord, leiteten Stauffenbergs Sinneswandel ein. Er wusste, dass ein Tyrannenmord allein nicht genügte. An die Stelle des Hitlerregimes musste ein demokratisches Deutschland treten.
Nur ein hoher Offizier konnte die Tat ausführen, von der Henning von Tresckow sagte, sie müsse um jeden Preis, ohne Blick auf den praktischen Nutzen erfolgen. Es komme allein darauf an, dass die deutsche Widerstandsbewegung vor der Welt und der Geschichte unter Einsatz des Lebens den entscheidenden Wurf wage. Hentig lässt uns die moralischen Bedenken, die kreatürliche Angst und die existentielle Einsamkeit miterleben, die Stauffenberg überwinden musste. Seine heroische Tat tauge, so der Redner, dennoch nicht als deutscher „Erhebungs”-Mythos: Sie sei misslungen, sie gründe in der abscheulichen Eindeutigkeit des Gegners und sie vermöchte nichts gegen die heutige Bedrohung der Freiheit, die sich an Begriffen, nicht an Personen festmachen lasse: Arbeitslosigkeit, Umweltzerstörung, Klimawandel, und wie die Plagen sonst noch heißen. Dennoch, dank Stauffenberg und seiner Tat sichert das Grundgesetz in Art. 20 Abs. 4 jedem Deutschen ein Widerstandsrecht zu. FRANK-RUTGER HAUSMANN
HARTMUT VON HENTIG: Nichts war umsonst – Stauffenbergs Not. Wallstein Verlag, Göttingen 2008. 64 S., 9,90 Euro
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Hartmut von Hentig über Claus Graf von Stauffenberg
Es ist eine hohe Kunst, zu einem bekannten Gegenstand mit wenigen Worten grundsätzlich Neues zu sagen. Am 25. Oktober 2007 wurde in Stuttgart die Stauffenberg-Gesellschaft gegründet. Aus diesem Anlass hielt der Bildungsforscher Hartmut von Hentig die erste Stauffenberg-Gedächtnisvorlesung. Er sprach nicht als Historiker, sondern als Pädagoge. Er fragt, welche Wirkung der 20. Juli heute noch hat. Hentig zeigt, wie Claus Schenk Graf von Stauffenberg zum politischen Täter wurde. Wie die meisten Zeitgenossen hatte er die Verruchtheit Hitlers nicht sogleich erkannt, ihm zugetraut, eine dauerhafte Ordnung zu schaffen. Als Berufsoffizier tat er deshalb seine Pflicht. Hitlers Unverstand, der in der Winterkatastrophe 1941/42 manifest wurde, vor allem aber der Völkermord, leiteten Stauffenbergs Sinneswandel ein. Er wusste, dass ein Tyrannenmord allein nicht genügte. An die Stelle des Hitlerregimes musste ein demokratisches Deutschland treten.
Nur ein hoher Offizier konnte die Tat ausführen, von der Henning von Tresckow sagte, sie müsse um jeden Preis, ohne Blick auf den praktischen Nutzen erfolgen. Es komme allein darauf an, dass die deutsche Widerstandsbewegung vor der Welt und der Geschichte unter Einsatz des Lebens den entscheidenden Wurf wage. Hentig lässt uns die moralischen Bedenken, die kreatürliche Angst und die existentielle Einsamkeit miterleben, die Stauffenberg überwinden musste. Seine heroische Tat tauge, so der Redner, dennoch nicht als deutscher „Erhebungs”-Mythos: Sie sei misslungen, sie gründe in der abscheulichen Eindeutigkeit des Gegners und sie vermöchte nichts gegen die heutige Bedrohung der Freiheit, die sich an Begriffen, nicht an Personen festmachen lasse: Arbeitslosigkeit, Umweltzerstörung, Klimawandel, und wie die Plagen sonst noch heißen. Dennoch, dank Stauffenberg und seiner Tat sichert das Grundgesetz in Art. 20 Abs. 4 jedem Deutschen ein Widerstandsrecht zu. FRANK-RUTGER HAUSMANN
HARTMUT VON HENTIG: Nichts war umsonst – Stauffenbergs Not. Wallstein Verlag, Göttingen 2008. 64 S., 9,90 Euro
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.07.2008Die eigentliche Bombe
Im Oktober 2007 wurde in Stuttgart die Stauffenberg-Gesellschaft gegründet. Aus diesem Anlass unterschied der 1925 geborene Erziehungswissenschaftler und Festredner Hartmut von Hentig trefflich zwischen Abstand, Widerstand und Aufstand. Innere Vorbehalte gegen Hitlers Regime - also Abstand - hätten viele nach dem Kriege als Ausweis für Widerstand angesehen oder ausgegeben. Widerstand müsse jedoch "von dem wahrgenommen werden, dem er geleistet wird". Dabei hätten die Nationalsozialisten hin und wieder manches absichtlich übersehen, weil sie selbst davon ausgehen wollten, dass das deutsche Volk geschlossen hinter ihnen stehe. Den Aufstand habe Claus Schenk Graf von Stauffenberg gewagt, ihn "Erhebung" genannt. Den Ablauf des gescheiterten Staatsstreichs kenne man mittlerweile vor allem aus Filmen. Jedoch lasse sich "das eigentliche Wunder, das den Verschwörern in der Not gelang", in Bildern gar nicht darstellen: "Sie haben sich nicht nur geeinigt, sie haben ihrer Sache eine einfache, starke, bleibende Sprache verliehen." So zitiert Hentig ausführlich aus dem Aufruf, den Generaloberst Ludwig Beck unterzeichnet hatte: "Wir werden die Beweise für den ungeheuerlichen Verrat an dem deutschen Volke und an seiner Seele, für die totale Beugung des Rechts, für die Verhöhnung der edlen Forderung, dass Gemeinnutz vor Eigennutz zu gehen habe, für schamlose Korruption offen darlegen." Der Text sei doch "die eigentliche Bombe" des 20. Juli 1944 gewesen, eigne sich daher immer noch als Pflichtlektüre für jeden Deutschen. "Mit der Verbreitung des Aufrufs im Rundfunk, mit der Auslösung der Operation Walküre und mit der sofortigen Öffnung der KZs wäre es nicht mehr entscheidend gewesen, was die andere Bombe in der Wolfsschanze angerichtet hatte oder nicht." (Hartmut von Hentig: Nichts war umsonst. Stauffenbergs Not. Wallstein Verlag, Göttingen 2008. 64 S., 9,90 [Euro].)
RAINER BLASIUS
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Im Oktober 2007 wurde in Stuttgart die Stauffenberg-Gesellschaft gegründet. Aus diesem Anlass unterschied der 1925 geborene Erziehungswissenschaftler und Festredner Hartmut von Hentig trefflich zwischen Abstand, Widerstand und Aufstand. Innere Vorbehalte gegen Hitlers Regime - also Abstand - hätten viele nach dem Kriege als Ausweis für Widerstand angesehen oder ausgegeben. Widerstand müsse jedoch "von dem wahrgenommen werden, dem er geleistet wird". Dabei hätten die Nationalsozialisten hin und wieder manches absichtlich übersehen, weil sie selbst davon ausgehen wollten, dass das deutsche Volk geschlossen hinter ihnen stehe. Den Aufstand habe Claus Schenk Graf von Stauffenberg gewagt, ihn "Erhebung" genannt. Den Ablauf des gescheiterten Staatsstreichs kenne man mittlerweile vor allem aus Filmen. Jedoch lasse sich "das eigentliche Wunder, das den Verschwörern in der Not gelang", in Bildern gar nicht darstellen: "Sie haben sich nicht nur geeinigt, sie haben ihrer Sache eine einfache, starke, bleibende Sprache verliehen." So zitiert Hentig ausführlich aus dem Aufruf, den Generaloberst Ludwig Beck unterzeichnet hatte: "Wir werden die Beweise für den ungeheuerlichen Verrat an dem deutschen Volke und an seiner Seele, für die totale Beugung des Rechts, für die Verhöhnung der edlen Forderung, dass Gemeinnutz vor Eigennutz zu gehen habe, für schamlose Korruption offen darlegen." Der Text sei doch "die eigentliche Bombe" des 20. Juli 1944 gewesen, eigne sich daher immer noch als Pflichtlektüre für jeden Deutschen. "Mit der Verbreitung des Aufrufs im Rundfunk, mit der Auslösung der Operation Walküre und mit der sofortigen Öffnung der KZs wäre es nicht mehr entscheidend gewesen, was die andere Bombe in der Wolfsschanze angerichtet hatte oder nicht." (Hartmut von Hentig: Nichts war umsonst. Stauffenbergs Not. Wallstein Verlag, Göttingen 2008. 64 S., 9,90 [Euro].)
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