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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Mirko Bonnés neuer Roman "Nie mehr Nacht" nimmt das Motiv der Geschwisterliebe mit aller Konsequenz auf
Mirko Bonnés letzter Roman, "Wie wir verschwinden" (2009) spielte in Frankreich; der neue Roman "Nie mehr Nacht" hat zum wesentlichen Teil denselben Schauplatz. Und doch bleiben beide Bücher unverwechselbar. Im Roman von 2009 sind die mehrfachen Hinweise auf den "Mythos des Sisyphos" von Albert Camus ein wichtiges Indiz: Die Philosophie des Absurden wirft ihre Schlaglichter auf die Handlung. Eine absolute Verneinung der Welt schlägt um in die absolute Bejahung. Einen ähnlichen Entwurf finden wir im neuen Roman wieder. Aber Handlung und historische Hintergrundsituation liegen in beiden Romanen weit auseinander.
In "Nie mehr Nacht" sollen Kriegsereignisse im Sommer 1944, genauer die Landung alliierter Truppen und die Kämpfe in der Normandie, künstlerisch neu dokumentiert werden. Markus Lee, von dem schon Skizzen von Brücken in Hamburg, St. Petersburg, Rio de Janeiro und New York bekanntgeworden sind, wird von seinem Schulfreund Kevin beauftragt, für ein Großprojekt seines Magazins Skizzen von Brücken zu zeichnen, um die besonders erbittert gekämpft worden war. Mit dem Sohn seiner Schwester Ira, seinem Neffen Jesse, der vorerst noch ganz in Smartphone, Playstation und Computerspiele vernarrt ist, fährt er an die Atlantikküste. Sie nehmen Quartier im heruntergekommenen Hotel "L'Angleterre", das nur noch von der Familie des dänischen Vogelbeobachters Ove Juhl bewohnt und zugleich gewartet wird.
Ira, einst eine weltläufige Frau von ungewöhnlicher Bildung, hatte nach der Geburt ihres Sohnes, als dessen Vater sie einen nach England übersiedelten Israeli angab, zunehmend den Boden unter den Füßen verloren und war, vollgepumpt mit Medikamenten, allen Freunden und schließlich auch ihrer Familie "abhandengekommen". Sie stirbt, und der Verlust der Schwester bedrückt Markus so stark, dass er den Auftrag seines Freundes Kevin nur widerwillig annimmt und an der Atlantikküste in schwere Depressionen fällt. Rätselhaft für den Leser bleibt das Ausmaß seiner Selbstpreisgabe: Er lässt sein Studio in Hamburg vermieten, wirft seine persönlichen Dokumente in den Mülleimer, möchte "sich auflösen, verschwinden". Er scheint Iras Weg der Selbstauslöschung gehen zu wollen.
Bonnés Erzählstil vernetzt ständig die verschiedensten Zeit- und Geschehensebenen, so dass die konkrete Handlung von einem weiten Horizont der Erinnerungen umschlossen ist. Das führt manchmal auf Schauplätze, für die das Interesse des Lesers nachlässt, öffnet andererseits einen breiten kulturellen Resonanzraum, in dem Hinweise auf Sisleys Bilder von der Seine-Überschwemmung des Jahres 1876 und auf Bücher Prousts oder Hemingways wie selbstverständlich wirken. Markus' Lieblingsbuch ist Gottfried Kellers "Der grüne Heinrich", und nicht zufällig gab Bonné seinem Protagonisten den Nachnamen von Heinrich Lee. Lee, McCoy Lee, ist aber auch der Name des jungen Lastensegelfliegers der Royal Air Force, der im Sommer 1944 die Erstürmung der Pegasusbrücke in der Normandie miterlebte und dessen Buch Markus seinem Neffen zur Lektüre empfiehlt. Der Autor Bonné liebt offenbar den Reiz der spielerischen Verknüpfung.
Bei einer Fahrt nach Bayeux besucht Markus mit Jesse einen Laden für Computerspiele und entdeckt auf einer Bilderwand ein Foto, das zwei Frauen am Strand zeigt: Wange an Wange. Eine der Frauen sah aus wie Ira. Die Kassiererin glaubt, die Frau neben Ira zu kennen. Nun spannt der Erzähler den auf den Fortgang wartenden Leser ein wenig auf die Folter. Zunächst fährt Annik, die Sekretärin des Autohändlers und Hotelbesitzers namens Flaubert Markus zu einer Frau, die auf dem Foto neben Ira zu sehen war. Diese Frau aber erkennt neben sich nicht Ira, sondern eine in Cherbourg bei einer Fährgesellschaft arbeitende Frau. Auf ihre Fährte begibt sich Markus nun. Dieser Frau fällt im Roman eine Schlüsselrolle zu.
Lilith, auch kein anspielungsarmer Name, heißt diese Frau in Cherbourg. Aber zunächst muss noch von einer der bewegendsten Szenen diese Romans gesprochen werden. Die Sekretärin Annik fährt Markus zum deutschen Soldatenfriedhof von La Combe, auf dem ihr deutscher Großvater, der nur neunzehn Jahre alt wurde, begraben liegt. Die Platten der Hauptwege zwischen den Grasflächen bedecken die eigentlichen Gräber, so dass die Besucher über sie hinwegschreiten müssen. Die nüchterne Zahl von mehr als einundzwanzigtausend Begrabenen beschwört übergroß das Bild vom Schnitter Tod. Noch am Tage vor seinem Tod habe Manfred Kreher, so berichtet Annik, "taumelnd vor Freude" die Nachricht von der Geburt seiner Tochter empfangen.
Markus erhält einen Brief von Lilith, in dem sie sich als Elsässerin vorstellt und ihm gesteht, vieles über seine Suche nach der Gefährtin seiner Schwester erfahren zu haben. Die Abwrackung eines außer Dienst gestellten Fährschiffes, das zur Demontage von Cherbourg nach Bremerhaven überführt werde, stehe bevor; sie gehöre zum Begleitpersonal. Sie weiß vom Verkauf seines alten Mercedes an den Autohändler und macht ihm den Vorschlag, mit nach Deutschland zu fahren. Markus stimmt zu und findet sich in Cherbourg ein. Die Überfahrt nach Bremerhaven, mit einem Minimum an Besatzung, wird für ihn zu einer Rückkehr ins fast schon weggeworfene Leben. Lilith ist nicht Ira, aber sie ist ihr ähnlich, sie kann die geliebte Schwester ersetzen. Als das Schiff zum Abwracken in Bremerhaven übergeben wird, sind die Lebensgeister von Markus wieder erwacht: Lilith und er sind Liebende geworden.
Nach dem Muster des analytischen Dramas wie des Spannungsromans setzt Mirko Bonné die Auflösung an den Schluss, aber was schließlich alles enthüllt wird, sei hier im Einzelnen nicht verraten. Bonné hat den Mut, das alte literarische Motiv des Inzests, genauer der Geschwisterliebe, mit aller Konsequenz aufzunehmen. Obwohl keine absolute Gewissheit besteht, dass Markus wirklich Jesses Vater ist, wird die früh beginnende inzestuöse Beziehung nicht verschwiegen. "Nie mehr Nacht" ist der geglückte Versuch, ein wahrlich traditionsbeschwertes Motiv in die Gegenwart zu versetzen, und zwar in der Gestalt Iras mit all seiner tragischen Unerbittlichkeit. Mirko Bonné ist mit seinem neuen Roman ein Wagnis eingegangen, wie es zur Zeit nur wenige unserer Romanautoren auf sich nehmen.
WALTER HINCK
Mirko Bonné: "Nie mehr Nacht". Roman.
Schöffling Verlag, Frankfurt am Main 2013. 259 S., geb. 19,95 [Euro].
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