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Christoph W. Bauers Roman "Niemandskinder" ist Paris-Porträt und Plädoyer für Humanität zugleich
Er ist Anachronist im wahren Wortsinn: Für Christoph W. Bauer, 1968 in Kärnten geborener Wahltiroler, spiegelt sich ein waches Gemüt von heute in Irrtümern und Lektionen vergangener Tage. Zwar nimmt Überlieferung ihren Ausgang im Ehemaligen, huldigt jedoch nicht dem Alten, bezeugt vielmehr vitale Dynamik und weist unverbrüchlich konstruktiv ins Künftige. Jeder Baustein in Bauers seit 25 Jahren entstehendem Werk bekräftigt diese Brücke durch die Zeit, seien es historische Porträts wie "Graubart Boulevard" (2008) oder "Die zweite Fremde" (2013), seien es die Gedichtbände "die mobilität des wassers müßte man mieten können" (2001), "supersonic" (2005) oder "stromern" (2015), die mit Hilfe antiker oder mittelalterlicher Gewährsleute wie Catull, Cavalcanti und Villon das zeitlose Wesen der Liebe erkunden.
Das erprobte Verfahren, die meist unverständlich komplexe Gegenwart mittels historischer Kontexte zu dechiffrieren, überträgt Bauer mit "Niemandskinder" nun auf einen Roman. In kunstvoll verbundenen Facetten erzählt er vom Leben des Hannoveraner Historikers Broeger, der in Innsbruck aufwächst und als junger Heißsporn mit Gedichten Rimbaud und Apollinaire nacheifert. In der Wendestimmung der Neunziger zieht der Ich-Erzähler nach Paris und lernt dort Samira kennen, eine Französin mit marokkanischen Wurzeln aus La Courneuve, schon damals ein sozialer Brennpunkt im Nordosten der Metropole. Doch die Liebe hält nicht; zwischen Differenzen über Herkunft und Haltung, Politik und Perspektive wird sie zerrieben. Bauer zeichnet die verheerenden Auswirkungen quasiobjektiver Diskurse auf Selbstbild und Partnerschaft feinsinnig nach: Samiras Leiden an den Hürden, dem gesellschaftlichen Rand zu entkommen, Broegers als Leistungsverweigerung missverstandenes Flanieren, seine Flucht zu Versen, die in Cafés, wo einst Oscar Wilde und Ezra Pound saßen, nur mehr eine pseudointellektuelle Fake-Boheme goutiert.
Fünfzehn Jahre später. Lustlos forscht der Historiker an der Innsbrucker Uni über die "Niemandskinder" der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als Vorarlberg und Tirol unter dem Hochkommissar Béthouart französisch besetzt waren. Aus Liebesbeziehungen von Tirolerinnen mit marokkanischen Soldaten, aber auch Vergewaltigungen gingen Kinder hervor, die aufgrund ihrer Hautfarbe und Namen von Gleichaltrigen und Nachbarn ebenso geächtet wurden wie von den Einheimischen jene Besatzer, die, oft lebensfroh, mit Turbanen und langen Bärten auf Panzern durch Innsbruck oder Bregenz rollten, bis man sie im Zuge der "Blanchissement"-Verordnung abzog und durch weißhäutige Soldaten ersetzte. Die Marokkaner hatten zurückzukehren in den Maghreb. Von seinem Jugendfreund Stefan, der als Dokumentarfilmer in Paris lebt, erhält Broeger ein Foto aus jenen Jahren, das eine seit langem Vermisste zeigt: das "Niemandskind" Marianne. Sie sieht seiner früheren Freundin Samira verblüffend ähnlich.
Auf diese Weise kommt Bauers Alter Ego nach Paris zurück und geht in der durch das Attentat auf die Redaktion des Satiremagazins "Charlie Hebdo" vom 7. Januar 2015 wie unter kollektivem Schock stehenden Stadt auf die Suche nach Marianne, Samira und eigenen verdrängten Erinnerungen. Ständige Begleiterin von Broegers atemlosem Hin und Her in den Métros und auf den Boulevards ist eine Reizüberflutung, deren schleichende Beklemmung auch den Leser erfasst. Meisterhaft bildet Bauer das notgedrungene Überblenden überbordender Eindrücke nicht bloß inhaltlich nach, sondern ebenso mittels rhythmisierter Satzstafetten, die vermeintlich Unverbundenes auf irritierende Weise aneinanderkoppeln: ". . . in der Métro begafft wie einer aus der Anderswelt, die Métro hat keine erste Klasse, doch sie hebt auch keine Unterschiede auf, ich spüre, was es heißt, sich nicht wohlzufühlen in der eigenen Haut, an der Gare du Nord steigen viele aus, spätestens ab Réaumur-Sébastopol sind Bleichgesichter wie ich in der Überzahl, Étienne Marcel, Les Halles, Châtelet, Cité . . ."
Immer mehr wirkt Broeger wie eine in die Zukunft katapultierte Figur von Joseph Roth, so ziellos, dabei schlaflos wachen Auges, treibt es ihn von einer Bar zur nächsten durch die Straßenschluchten. Er ist Trinker wie Roth und sieht darin eher Verhängnis denn Ausdruck einer Depression, er folgt Roths Spuren bis zu dessen Stammcafé "Le Tournon" in Saint-Germain-des-Prés, ist wie Roth ein Menschenfreund ohne eigene Mitte und registriert wohl deshalb berührt und schockiert auf seinen Streifzügen durch die Arrondissements jede kleinste Regung der Versprengten und Abgehängten aus den Banlieues, die in Clichy oder im Quartier Latin einen Hilfsjob haben, wenn sie nicht einfach herumlaufen. Darüber Gedichte zu schreiben oder den Roman, zu dem Samira ihn stets drängte, kommt für Broeger nicht in Frage: ". . . nichts fiel mir ein außer ein Satz von Joseph Roth: Man verliert eine Heimat nach der anderen."
Sandrine, die verbitterte, aus bürgerlichen Verhältnissen stammende Frau von Broegers Freund Stefan, trinkt und macht sich rechtsextreme Ansichten zu eigen. Rachid, ein alter Freund von Samira, der Verzweiflung und Wut der "Banlieusards" aus eigener Erfahrung kennt, hält die demokratischen Ideale "Liberté, égalité, fraternité" für verlogene Worthülsen: "Hast du eine Ahnung, was sich dort täglich tut in Chêne Pointu, Clichy-sous-Bois?"
Man kann "Niemandskinder" als rasante Gesellschaftskritik, als Porträt eines Paris am Abgrund lesen. Es geht jedoch um mehr in diesem fulminanten Roman, in dem kein Wort zu viel steht und dessen schlaglichtartige Bilder einem lange nachgehen. Realitätsverlust und Unwirklichkeitsempfinden, Verlorenheit und Vereinsamung so vieler ganz unterschiedlicher Großstädter hält Bauer ein empathisches Erzählen vom eigenen unverwechselbaren Leben entgegen.
Philippe Lançon, schwer verletzt beim Anschlag auf "Charlie Hebdo", bei dem elf Menschen starben, schreibt in seiner literarischen Rekonstruktion "Der Fetzen" (F.A.Z. vom 26. März 2019): "Es ist ungerecht, aber nicht zu ändern: Das Opfer muss schlau und hartnäckig sein, bedenkenlos und gut gewappnet; im Gegensatz zu denen, von denen es abhängt, hat es kein Recht auf Schwäche." Es ist diese Verletzlichkeit, auf die Christoph W. Bauer setzt, ein Bekenntnis zu verbindender menschlicher Schwäche.
MIRKO BONNÉ
Christoph W. Bauer: "Niemandskinder". Roman.
Haymon Verlag, Innsbruck 2019. 184 S., geb., 19,90 [Euro].
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