Die Reihe Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung (MTNF) setzt seit mehreren Jahrzehnten die Agenda in der sich stetig verändernden Nietzsche-Forschung. Die Bände sind interdisziplinär und international ausgerichtet und spiegeln das gesamte Spektrum der Nietzsche-Forschung wider, von der Philosophie über die Literaturwissenschaft bis zur politischen Theorie. Die Reihe veröffentlicht Monographien und Sammelbände, die einem strengen Peer-Review-Verfahren unterliegen.
Die Buchreihe wird von einem internationalen Redaktionsteam geleitet.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.04.1998Der Wille zum Buch
Sigmund Freud fand Nietzsche zu interessant, um ihn zu lesen
Zweimal hat Sigmund Freud jenen Aphorismus aus "Jenseits von Gut und Böse" von Friedrich Nietzsche ausdrücklich zitiert, der unweigerlich an die Verdrängung und an das Unbewußte denken läßt: ",Das habe ich gethan' sagt mein Gedächtniss. Das kann ich nicht gethan haben - sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich - giebt das Gedächtniss nach." Aber hat Freud Nietzsche nun gelesen oder nicht?
Alle Indizien, die die monumentale Monographie von Reinhard Gasser sammelt, sprechen dagegen, allen voran die Art und Weise, wie Freud den Aphorismus aus "Jenseits von Gut und Böse" zitiert, den ihm der sogenannte "Rattenmann" während jener Analyse zugespielt hat, die Freud 1909 in seinen "Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose" beschreibt. Dort führt er als Quelle korrekt "Jenseits von Gut und Böse, IV, 68" an. Doch nur ein Jahr später taucht das Zitat in einer Fußnote in entstellter Form und mit dem irreführenden Hinweis "Jenseits von Gut und Böse, II. Hauptstück 68" auf. Ein bislang unveröffentlichtes Zitatenbuch Freuds im Freud-Museum in Hampstead erhellt die Entstellung: Freud scheint bei sich selbst falsch abgeschrieben zu haben.
Leider ist dies - neben einigen für die Fragestellung letztlich unerheblichen Details zu Freuds Mitgliedschaft im "Leseverein der deutschen Studenten Wiens" - die einzige Entdeckung, die Gasser auf 746 sündhaft teuren Seiten zu bieten hat. Immerhin rekonstruiert er mit einiger Plausibilität, daß sich Freuds Mitteilung an Fließ vom 1. Februar 1900: "Ich habe mir jetzt den Nietzsche beigelegt, in dem ich die Worte für vieles, was in mir stumm bleibt, zu finden hoffe, aber ihn noch nicht aufgeschlagen. Vorläufig zu träge", auf die 1899 erschienene Kleinoktavausgabe bezieht. Die Freud von Otto Rank zum siebzigsten Geburtstag geschenkte "Musarionausgabe" blieb offenbar ebenfalls unangetastet. Alle bereits bekannten Dokumente und Anekdoten, die Gasser vollständig verzeichnet und ausführlich kommentiert, weisen in dieselbe Richtung: Nietzsche war für Sigmund Freud die verbotene Frucht, an die ihn eine traumatische Berührungsscheu fesselte. Die unfehlbarste Form, den Psychoanalytiker zu kränken, bestand darin, seinen Namen mit demjenigen des Philosophen in Verbindung zu bringen. Alfred Adler, Carl Gustav Jung, Fritz Wittels und Otto Rank haben sich auf diese Weise von Freud gelöst.
Gasser nimmt Freud trotz des Datums beim Wort, wenn dieser am 1. April 1908 in der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung zu Protokoll gibt: "Auch Nietzsche kenne er nicht; ein gelegentlicher Versuch, ihn zu lesen, sei an einem Übermaß von Interesse erstickt. Trotz der von vielen Seiten hervorgehobenen Ähnlichkeiten könne er versichern, daß Nietzsches Gedanken auf seine eigenen Arbeiten gar keinen Einfluß gehabt hätten." Über eine halbe Seite will Freud bei der Lektüre Nietzsches "wegen des inhaltlichen Reichtums seiner Schriften" nicht hinausgekommen sein. Freud verneigt sich laut Gasser spöttisch vor dem Zeitgeist, der in Wiens Kaffeehäusern übermenschlich spukt, wenn er Nietzsche aus zweiter oder gar dritter Hand zitiert, mehr nicht. Schuldig bleibt Gasser allerdings die Erklärung, woher Freuds Berührungsscheu rührt.
Geboten wird statt dessen auf den über fünfhundert folgenden Seiten "die Konfrontation der Ideen". Wie aber will Gasser einen "systematischen Vergleich beider Theorienkomplexe" leisten, wenn auf der einen Seite ein im Bau befindliches wissenschaftliches Gebäude steht, während auf der anderen Seite Aphorismen mehr und mehr die rohe Gestalt von Gesetzestafeln annehmen, die Nietzsche im Dienst einer höheren Sache als der Wissenschaft meißelt? Die Konfrontation ist am enttäuschendsten dort, wo sie am lohnendsten gewesen wäre: bei der jeweiligen Konzeption des Gedächtnisses. Gasser fehlt jede Kenntnis des gemeinsamen wissenschaftsgeschichtlichen Kontextes. Nietzsche liest, um nur ein Beispiel zu nennen, die "Physiologie des Rechts" (Wien 1884) von Salomon Stricker, an dessen Institut für experimentelle Pathologie Freud zwischen 1883 und 1884 physiologische Untersuchungen am Nervengewebe lebender Flußkrebse durchgeführt hat, die nicht ohne Folgen für seine Psychophysik des Unbewußten geblieben sind. Stricker legt seiner Lehre "ein physiologisches Moment - die Beziehung der Willensvorstellung zu den Organen der Willkür - zugrunde", die er ausdrücklich als "Associations-Theorie" bezeichnet. Sie trifft sich mit Nietzsches Konzeption des Willens und des Gedächtnisses, was zahlreiche zustimmende Notate in Nietzsches Handexemplar der "Physiologie des Rechts" dokumentieren. MARTIN STINGELIN
Reinhard Gasser: "Nietzsche und Freud". Verlag Walter de Gruyter, Berlin 1997. 746 S., geb., 410,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sigmund Freud fand Nietzsche zu interessant, um ihn zu lesen
Zweimal hat Sigmund Freud jenen Aphorismus aus "Jenseits von Gut und Böse" von Friedrich Nietzsche ausdrücklich zitiert, der unweigerlich an die Verdrängung und an das Unbewußte denken läßt: ",Das habe ich gethan' sagt mein Gedächtniss. Das kann ich nicht gethan haben - sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich - giebt das Gedächtniss nach." Aber hat Freud Nietzsche nun gelesen oder nicht?
Alle Indizien, die die monumentale Monographie von Reinhard Gasser sammelt, sprechen dagegen, allen voran die Art und Weise, wie Freud den Aphorismus aus "Jenseits von Gut und Böse" zitiert, den ihm der sogenannte "Rattenmann" während jener Analyse zugespielt hat, die Freud 1909 in seinen "Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose" beschreibt. Dort führt er als Quelle korrekt "Jenseits von Gut und Böse, IV, 68" an. Doch nur ein Jahr später taucht das Zitat in einer Fußnote in entstellter Form und mit dem irreführenden Hinweis "Jenseits von Gut und Böse, II. Hauptstück 68" auf. Ein bislang unveröffentlichtes Zitatenbuch Freuds im Freud-Museum in Hampstead erhellt die Entstellung: Freud scheint bei sich selbst falsch abgeschrieben zu haben.
Leider ist dies - neben einigen für die Fragestellung letztlich unerheblichen Details zu Freuds Mitgliedschaft im "Leseverein der deutschen Studenten Wiens" - die einzige Entdeckung, die Gasser auf 746 sündhaft teuren Seiten zu bieten hat. Immerhin rekonstruiert er mit einiger Plausibilität, daß sich Freuds Mitteilung an Fließ vom 1. Februar 1900: "Ich habe mir jetzt den Nietzsche beigelegt, in dem ich die Worte für vieles, was in mir stumm bleibt, zu finden hoffe, aber ihn noch nicht aufgeschlagen. Vorläufig zu träge", auf die 1899 erschienene Kleinoktavausgabe bezieht. Die Freud von Otto Rank zum siebzigsten Geburtstag geschenkte "Musarionausgabe" blieb offenbar ebenfalls unangetastet. Alle bereits bekannten Dokumente und Anekdoten, die Gasser vollständig verzeichnet und ausführlich kommentiert, weisen in dieselbe Richtung: Nietzsche war für Sigmund Freud die verbotene Frucht, an die ihn eine traumatische Berührungsscheu fesselte. Die unfehlbarste Form, den Psychoanalytiker zu kränken, bestand darin, seinen Namen mit demjenigen des Philosophen in Verbindung zu bringen. Alfred Adler, Carl Gustav Jung, Fritz Wittels und Otto Rank haben sich auf diese Weise von Freud gelöst.
Gasser nimmt Freud trotz des Datums beim Wort, wenn dieser am 1. April 1908 in der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung zu Protokoll gibt: "Auch Nietzsche kenne er nicht; ein gelegentlicher Versuch, ihn zu lesen, sei an einem Übermaß von Interesse erstickt. Trotz der von vielen Seiten hervorgehobenen Ähnlichkeiten könne er versichern, daß Nietzsches Gedanken auf seine eigenen Arbeiten gar keinen Einfluß gehabt hätten." Über eine halbe Seite will Freud bei der Lektüre Nietzsches "wegen des inhaltlichen Reichtums seiner Schriften" nicht hinausgekommen sein. Freud verneigt sich laut Gasser spöttisch vor dem Zeitgeist, der in Wiens Kaffeehäusern übermenschlich spukt, wenn er Nietzsche aus zweiter oder gar dritter Hand zitiert, mehr nicht. Schuldig bleibt Gasser allerdings die Erklärung, woher Freuds Berührungsscheu rührt.
Geboten wird statt dessen auf den über fünfhundert folgenden Seiten "die Konfrontation der Ideen". Wie aber will Gasser einen "systematischen Vergleich beider Theorienkomplexe" leisten, wenn auf der einen Seite ein im Bau befindliches wissenschaftliches Gebäude steht, während auf der anderen Seite Aphorismen mehr und mehr die rohe Gestalt von Gesetzestafeln annehmen, die Nietzsche im Dienst einer höheren Sache als der Wissenschaft meißelt? Die Konfrontation ist am enttäuschendsten dort, wo sie am lohnendsten gewesen wäre: bei der jeweiligen Konzeption des Gedächtnisses. Gasser fehlt jede Kenntnis des gemeinsamen wissenschaftsgeschichtlichen Kontextes. Nietzsche liest, um nur ein Beispiel zu nennen, die "Physiologie des Rechts" (Wien 1884) von Salomon Stricker, an dessen Institut für experimentelle Pathologie Freud zwischen 1883 und 1884 physiologische Untersuchungen am Nervengewebe lebender Flußkrebse durchgeführt hat, die nicht ohne Folgen für seine Psychophysik des Unbewußten geblieben sind. Stricker legt seiner Lehre "ein physiologisches Moment - die Beziehung der Willensvorstellung zu den Organen der Willkür - zugrunde", die er ausdrücklich als "Associations-Theorie" bezeichnet. Sie trifft sich mit Nietzsches Konzeption des Willens und des Gedächtnisses, was zahlreiche zustimmende Notate in Nietzsches Handexemplar der "Physiologie des Rechts" dokumentieren. MARTIN STINGELIN
Reinhard Gasser: "Nietzsche und Freud". Verlag Walter de Gruyter, Berlin 1997. 746 S., geb., 410,- DM.
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