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Gabi Kreslehner erzählt von Mobbing als Strukturfrage
Womöglich gibt es eine gar nicht so kleine Zahl von Kindern und Jugendlichen, die Corona bislang ziemlich gut fanden. Weil endlich, endlich mal Ruhe war. Bald werden die selbsternannten Klassenhelden es wieder schaffen, ihre Mitläufer bei Laune zu halten und ihren Opfern aufzulauern. Für Kinder und Jugendliche, die Opfer der körperlichen und seelischen Gewalt von Gleichaltrigen in der Schule werden, könnten die harten Wochen der Corona-Isolation regelrecht eine Verschnaufpause gewesen sein.
Für Nils, die geradezu unfreiwillige Hauptfigur in Gabi Kreslehners Jugendroman "Nils geht", kommt keine hilfreiche Seuche um die Ecke. Er geht jeden Tag durch die Hölle, die ihm von den "fürchterlichen Vier" bereitet wird. Von Jo und Fadi, Rasmus und Mila. Wobei sehr schnell deutlich wird, dass diese vier keine Chance hätten - wäre da nicht die große Menge der schweigenden anderen. Es ist sogar eine dieser Unauffälligen, die mal vorsichtig helfen, mal vorsichtig mitmobben, meist aber zusehen, der Kreslehner das erste Wort gibt. Sarah, die Nils schon lange kennt, gibt stockend zu Protokoll, was vorgefallen ist - und wie es dazu kam.
Die Leser erleben das Ende eines schrecklichen Schuljahrs: Voll von Demütigungen eines einzelnen Jungen, der ohne Grund zum Feind erklärt wird. Nils, kleiner und zarter als die anderen Jungs, Kind einer alleinerziehenden Mutter und neu in der Klasse, ist zu allem Übel auch noch ein Genie in allen Schulfächern. Und, wie die Klassenschönste Mila irgendwann feststellt, auch noch ein wirklich netter, empathischer Mensch. Erst als sie das tut, nimmt die Katastrophe vollends ihren Lauf.
Mobbing ist meist das erste Thema, das Erwachsenen einfällt, wenn ein sozialpädagogisches Projekt, am besten in Verbindung mit Theater oder Kunst, an Schulen angeboten werden soll. Von Mobbing handeln unzählige Schullektüren. Als wirke Literatur- oder Theaterkonsum direkt auf weit verbreitete Probleme, so wie Hustensaft oder Blasenpflaster. Wenn auch Kreslehners Roman demnächst als Schullektüre eingesetzt wird, könnten manche Schüler ins Grübeln kommen. Ob nicht der eine oder andere Täter zu Hause, bei den Eltern, Opfer sein könnte. Und ob nicht der ein oder andere Erwachsene seinen Job verfehlt hat: als Elternteil, Lehrer oder Schulrektor.
Denn einerseits ist die Handlung sehr schlicht. Nils ist das Opfer einer starken Clique, die den schweigenden Rest der Klasse hinter sich bringt. Anderseits versucht der Roman in Sprache und Struktur die Beweggründe der Figuren so anzureißen, dass sie ein Weiterspinnen im Kopf ermöglichen. Kreslehner verwebt Protokolle aus der direkten Befragung der jungen Täter und Zuschauer mit erzählenden Passagen aus einer allwissenden Perspektive. Das geht oft von banalen Klischees aus, die regelrecht zum Fürchten sind. Leider sind sie dann doch näher an der Realität, als man selbst gerne wahrhätte.
Kreslehner, Lehrerin, Theaterpädagogin und Autorin in Oberösterreich, ruht sich nicht darauf aus, so zu tun, als sei es unerklärlich, warum einer Opfer und eine bestimmte Gruppe Täter wird. Sie versucht nachzuzeichnen, was die einzelnen Gruppenmitglieder bewegt. Das gelingt überraschend unterschiedlich, als ob ihr die selbsterfundenen Charaktere bisweilen zu unsympathisch für eine differenziertere Darstellung wären. Ihre eigene Berufsgruppe kommt dabei nicht gerade gut weg. Kreslehner beschreibt den Mathelehrer, der über Jugend sinniert und dabei Mädchen auf den Po starrt, sie erzählt vom Direktor des privaten Gymnasiums, der sich zu darwinistischen Thesen aufschwingt, um einen hochbegabten Schüler ohne gesellschaftliche Verbindungen dem Mob preiszugeben, während er die Kinder bekannter Geschäftsleute, mögen sie auch noch so aggressiv und dumm sein, an der Schule halten will.
Das Ende dieser Geschichte sieht nur auf den ersten Blick positiv aus. Kluge, empathische Leser werden bohrende Fragen mitnehmen.
EVA-MARIA MAGEL.
Gabi Kreslehner: "Nils geht". Roman.
Tyrolia Verlag, Innsbruck 2020. 144 S., geb., 16,95 [Euro]. Ab 13 J.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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