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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Der Jugendroman „No Alternative“ über eine sich radikalisierende junge Frau
rückt Klimaaktivisten in die Nähe der RAF. Was soll man daraus lernen?
VON SEBASTIAN JUTISZ
Naturbeherrschung, so lehren es die Imperialisten, ist Sinn aller Technik“, schrieb Walter Benjamin 1928 in seinem Werk „Einbahnstraße“. Kaum ein Philosoph hat bereits Anfang des vorigen Jahrhunderts so eindringlich vor den Gefahren des Industriekapitalismus für Natur und Mensch gewarnt wie er. Technische Innovation geht nicht automatisch einher mit zivilisatorischem Fortschritt, das war die Botschaft des linken Melancholikers.
Fast einhundert Jahre später hat die globale Durchschnittstemperatur einen Höchststand erreicht, in weiten Teilen Europas leiden die Menschen unter einer extremen Hitzewelle. Für Emma Larsen, die Protagonistin des neuen Jugendromans „No Alternative“ von Dirk Reinhardt, besteht kein Zweifel, wer schuld daran ist. „Radikal sind nicht die, die die Umwelt schützen, sondern die, die sie zerstören. Sie sitzen in den Vorstandsetagen der Konzerne und an den Schaltstellen der Politik“, sagt sie.
Emma ist davon überzeugt, dass die kapitalistische Wirtschaftsweise in die Katastrophe führt und die Technik die Menschheit nicht retten wird, da ist sie sich mit Walter Benjamin einig. Im „grünen Kapitalismus“ sieht sie nichts als eine Schimäre. Was es braucht, laut Emma, ist eine Revolution des Alltags. „Was der Zerstörung des Planeten mehr als alles andere zugrunde liegt, ist der maßlose Lebensstil der wohlhabenden Schichten des Nordens“, heißt es in einem Manifest der Umweltbewegung No Alternative, mit der Emma bald im Untergrund Aktionen gegen Autofirmen und Flughäfen vorbereitet.
Doch der Reihe nach. Emma Larsen, das ist eine junge Frau, die gerade ihr Abitur gemacht hat. Sie wohnt mit ihrer Schwester in Frankfurt am Main bei ihrer Stiefmutter und interessiert sich seit ihrer frühen Jugend für Klimaschutz. Ein ganz normaler Teenager von heute also. Doch Emma wird immer radikaler. Mit ihrem Freund Patrick schleust sie sich als Praktikantin in ein Unternehmen ein, das Tierversuche macht. Dabei kommt Patrick unter seltsamen Umständen ums Leben. Von diesem Zeitpunkt an ist Emma zu allem bereit. Patricks Opfer soll nicht einfach verpuffen.
Dirk Reinhardt beschreibt das fesselnd: Wie Emma auf der Spitze des Frankfurter Messeturms ein Transparent von No Alternative anbringt – eine halsbrecherische Aktion. Ihr Mut bringt der Protagonistin viel Anerkennung bei ihren Mitstreitern ein, doch auch die Strafermittlungsbehörden interessieren sich fortan für sie. Und das ist erst der Anfang. Valerie, eine charismatische Revoluzzerin, für die Emma bald Gefühle entwickelt, überzeugt sie, sich ihrer „Zelle“ anzuschließen und ihr altes Leben hinter sich zu lassen. Und dann ist da noch Emmas früherer Klassenkamerad Finn, ein aufgeweckter junger Reporter, der ihr auf Schritt und Tritt folgt und in ihrem Umfeld recherchiert.
„Was tun?“ Diese Frage zieht sich durch den Roman von Reinhardt, der sich in zwei früheren Büchern, „Train Kids“ und „Über die Berge und über das Meer“, dem Thema Flucht und Migration gewidmet hat. „Wir können uns nicht ewig damit rausreden, dass die anderen auch nichts tun. Dann ändert sich nie etwas“, erklärt Emma ihre Entscheidung, nicht zu studieren. Sie gibt ihr bürgerliches Leben auf, lebt stattdessen in stickigen Wohnungen und verbringt ihre Zeit mit konspirativen Treffen.
In den Medien wird über Klimapolitik oft aus der Perspektive der Mehrheitsgesellschaft berichtet, also der von Eigenheimbesitzern, die künftig Wärmepumpen einbauen müssen und mit dem Auto mit Verbrennermotor zur Arbeit fahren. Die Perspektive einmal umzudrehen und die Verhältnisse aus der Sicht der Klimaaktivisten zu betrachten, ist ein durchaus origineller Ansatz. Anschaulich schildert Reinhardt ihren Ärger über diejenigen, die nichts fürs Klima tun. Ein einziges Kreuzfahrtschiff verbrenne jede Stunde fünf Tonnen hochgiftiges Schweröl, redet sich Vincent, ein Mitglied von Emmas Gruppe, in Rage. „Und die Fahrten sind völlig sinnlos, nur für dekadente, verfettete, versoffene Touristen.“
Der Leser kann die Wut der Protagonistin nachvollziehen und weil der Roman Emmas Gefühlen, Zweifeln und Schwächen viel Raum gibt, wirkt sie auf Anhieb nahbar und sympathisch. Die Gruppe No Alternative allerdings, die offensichtlich an die „Letzte Generation“ angelehnt ist, stellt der Autor bald in die Traditionslinie der RAF, denn ihre Mitglieder verüben Brandanschläge, die auch Menschen in Gefahr bringen. Diese fiktive Gewalteskalation erstaunt, versteht sich die „Letzte Generation“ doch gerade nicht als eine Art Klima-RAF, sondern als Akteur des zivilen Ungehorsams. Es geht ihnen im Unterschied zu der von Baader, Meinhof, Mahler und Ensslin gegründeten Terrororganisation nicht um den grundlegenden Umsturz der demokratischen Ordnung.
Jürgen Habermas definiert zivilen Ungehorsam als „moralisch begründeten Protest“ und „öffentlichen Akt“, der die vorsätzliche Verletzung einzelner Rechtsnormen einschließe, ohne den „Gehorsam gegenüber der Rechtsordnung im Ganzen zu affizieren“ und ausschließlich symbolischen Charakter habe. Habermas’ Ausführungen machen deutlich, dass es etwas völlig anderes ist, ein Banner auf einem Messeturm anzubringen (oder sich auf der Straße festzukleben), als Brandsätze zu zünden, was den symbolischen Rahmen des zivilen Ungehorsams eindeutig sprengt. Leider wird dieser Unterschied im Roman kaum thematisiert.
Es ist zweifellos couragiert, ein solch ebenso aktuelles wie virulentes Thema wie die Klimabewegung in einem Jugendbuch aufzugreifen und mit einer packenden Geschichte zu verbinden. Wäre Reinhardt näher an den Zielen und Aktionen der reellen Akteure geblieben, wäre der Gewinn für junge Leser jedoch größer gewesen. So verdrängt die Gewalteskalation zum einen schnell die wichtige Frage nach der Legitimität von zivilem Ungehorsam. Oder die Frage, warum die jungen Klimaaktivisten kein Vertrauen mehr in Medien haben und auch nicht in Parteien wie die Grünen?
Indem die Grenze des gewaltfreien Protests schnell überschritten wird, lässt sich Reinhardt zum anderen die Chance entgehen, die Verhältnismäßigkeit der staatlichen Reaktionen auf die Proteste der Klimaaktivisten stärker zu hinterfragen. Bedenkt man, dass viele verfassungsmäßige Grundrechte, die Bürgern heute selbstverständlich erscheinen, gegen große Widerstände erstritten wurden, stellt sich die Frage, ob in einem liberalen Staat Härte immer die richtige Antwort auf eine unbequeme Protestform ist.
Die Klimabewegung nicht als Terrorgruppe zu beschreiben, der Einhalt geboten werden muss, sondern als Chance für die Demokratie, das wäre eine neue Perspektive gewesen. Zu fragen: Wie geht es weiter, nachdem die „Notbremse“ (Walter Benjamin) gezogen wurde? Wie könnte eine Postwachstumsgesellschaft gestaltet werden, wie sieht der Alltag in einer ökologischen Gesellschaft aus? Es hätte dem Buch gutgetan, hätte der Autor ein bisschen weniger auf Action gesetzt und dafür diesen Fragen etwas mehr Raum gegeben.
Eigentlich steht die
echte „Letzte Generation“
für zivilen Ungehorsam
Protagonistin Emma gibt für den Kampf gegen die Klimakatastrophe ihr Studium auf und jede Aussicht auf ein bürgerliches Leben – sie geht in den Untergrund.
Foto: Francisco Seco / AP
Dirk Reinhardt:
No Alternative.
Gerstenberg,
Hildesheim 2024.
320 Seiten, 20 Euro.
Ab 14 Jahren.
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