Es hat etwas von Größenwahn, die Vielschichtigkeit, Gleichzeitigkeit und Energie eines Jahrzehnts mit Anspruch auf Vollständigkeit in 380 Seiten zusammenzuführen, doch Balzer gelingt es effortless zum dritten Mal. Nachdem er schon die Siebziger und die Achtziger ausgehend vom Popkulturellen
nahebrachte, reinszeniert er nun die Atmosphäre der Neunziger. Er verblendet die wichtigsten politischen…mehrEs hat etwas von Größenwahn, die Vielschichtigkeit, Gleichzeitigkeit und Energie eines Jahrzehnts mit Anspruch auf Vollständigkeit in 380 Seiten zusammenzuführen, doch Balzer gelingt es effortless zum dritten Mal. Nachdem er schon die Siebziger und die Achtziger ausgehend vom Popkulturellen nahebrachte, reinszeniert er nun die Atmosphäre der Neunziger. Er verblendet die wichtigsten politischen Ereignisse, technische Neuerungen, sich verändernde Bedürfnisse, Codes, Praktiken und popkulturelle Phänomene des Jahrzehnts. Insbesondere die Popkultur beschreibt Balzer hinreißend in einem an die Neunziger anklingenden Habitus, der die Begeisterungen und Überzeugungen des Jahrzehnts mit Abstand in leiser Ironie betrachtet und es vermeidet, sich zu identifizieren. Die technischen Neuerungen, etwa Privatfernsehen, MTV, Internet und immer mobilere Telefonie, arbeitet er findig heraus. Den politischen Diskursen und Ereignissen stehen die Komprimierung und Haltung hingegen nicht immer gut. Sie bekommen zu viel Raum für eine zeitgeschichtliche Rahmung und zu wenig für eine gelungene Einordnung. Aber das ist Kritik auf hohem Niveau, denn »No Limit« gelingt es zu gut, die Stimmungen und Widersprüche der Neunziger aufleben zu lassen und die Fäden ihrer Einflüsse bis heute zu spannen.
Fast waren mir die 380 Seiten zu kurz. Ich wollte noch länger mit
»No Limit« verweilen, fing an Leute darüber vollzuquatschen, mir zu wünschen, Balzer hätte mehr über Indiemusik geschrieben, was er beiläufig über Dinosaur Jr. schrieb, war interessant. Ebenso anregend war es, sich mit Balzer die Ambivalenzen des Jahrzehnts präsent zu machen, Aufbruchstimmung und Enttäuschung, Friedenshoffnung und Kriege, rassistische Gewalt, deren Rechtfertigung und Repräsentation von Anderen Deutschen|BIPoC, der Drang der Massen zu Distinktion und Individualität. Balzer fängt das Jahrzehnt ein, um dann wieder Abstand zu nehmen und die beschriebenen Phänomene aus heutiger Sicht zu bewerten. »No Limit« ist unterhaltsam und überlegt zugleich, es sitzt. Ich empfehle euch die Lektüre sehr, wenn ihr Lust auf Sachbücher, Popkultur und Zeitgeschichte habt.