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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Per Leos Essay über das Ruhrgebiet
Wo spürt man den Herzschlag des Ruhrgebiets? Auf der Zeche Zollverein in Essen, vor dem Schauspielhaus Bochum, auf dem Schalker Markt, auf dem Borsigplatz in Dortmund? Per Leo führt an keinen dieser Orte und überrascht mit der Auskunft, dass "man den Herzschlag des Reviers kaum irgendwo deutlicher" als in den Beiträgen von LUSIR hören könne. LUSIR? Das ist das Akronym von "Lebensgeschichte und Sozialkultur im Ruhrgebiet 1930 bis 1960", einem Oral-History-Projekt, das Lutz Niethammer 1980 an der Universität Essen auf den Weg gebracht und die Fernuniversität Hagen als Onlinearchiv bereitgestellt hat.
Auf "diese Diamanten in einem Meer von Rost" stieß Leo als "Metropolenschreiber Ruhr", als der er auf Einladung der Brost-Stiftung ein halbes Jahr in Mülheim residierte. Die Entdeckung kennzeichnet seine Annäherung, die nicht so sehr über die eigene Anschauung als über die Literatur erfolgte. Dass sie nicht in, aber mit Bielefeld beginnt, das als Gegenbild, auch als Gegenklang des "zerklüfteten Ballungsraums" ausgemacht wird, ist nur die erste Besonderheit seines Buches, und wie Leo einem "Vater" die Klischees um die Ohren haut, gibt den Anstoß seiner kritischen Lektüren: "Heinrich Böll schreibt über das Ruhrgebiet wie ein Hausmeister, der lieber auf seinem Schlüsselbund musiziert, als den Konzertsaal zu öffnen. Ständig klimpert er mit Worten herum, die einfach nicht zum Gegenstand passen wollen."
"Das Ruhrgebiet ist noch nicht entdeckt worden": Bölls viel zitierter erster Satz von 1958 enthält aber auch die blochsche Kategorie des "Noch-nicht", die den von früheren "schreibenden Ruhrgebietsgästen" (Joseph Roth, Heinrich Hauser, auch Paul Berglar-Schröer) geschärften Außenblick des Autors leitet. Die Radikalität, mit der es sich verändert hat, mache das Ruhrgebiet zu einem "bipolaren Sozialraum", in dem es - da folgt Leo einem seiner Vorgänger als Metropolenschreiber, dem Philosophen Wolfram Eilenberger - simultan, doch unverbunden in "mythischer Nachzeitigkeit" und als "ewige Zukunftsspur" existiere. Eine Wechselbeziehung von Altem und Neuem habe sich in der Region nie stabilisiert, das bestimme ihre Identitätskrise. Der Titel bringt sie aufs Wortspiel: "Noch nicht mehr".
Die Darstellung springt zwischen Diskurskritik und Feuilleton, Reportage und Recherche und leistet sich satirische Abschweifungen. Im zweiten Teil nimmt Leo einen neuen Anlauf und zeichnet nach, wie die Gründung der Heinrich-Heine-Buchhandlung in Essen 1978 zum Impuls für eine Gegenöffentlichkeit wurde, in der Geschichtswerkstatt und akademische Wissenschaft zusammenfanden, um die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit und die Erforschung der Industriegesellschaft zu verknüpfen. Der in sowjetischer Gefangenschaft geschulte Antifaschist Ernst Schmidt und der aus Schwaben eingewanderte Lutz Niethammer waren ihre Protagonisten, die Alte Synagoge ihr Treffpunkt, der von Ludger Claßen geführte Klartext-Verlag ihr Forum. Die Erinnerung an die "Essener Schule", von der Niethammer lieber, mit Reverenz an den Ort, als "Essener Schul" spricht, gerät zu einer Würdigung, die Studien ihrer Exponenten (Ulrich Herbert, Detlev Peukert, Michael Zimmermann, Franz-Josef Brüggemeier, Dirk van Laak) vorstellt und einordnet.
Wie die regionale Geschichtskultur der Internationalen Bauausstellung Emscher Park das Terrain bereiten half, wird nicht erörtert: Der "Narbenpark" kommt über den Münchner Olympiapark ins Ruhrgebiet. Der Umweg lässt den Historiker Leo hinter den Metropolenschreiber Leo zurücktreten. In der Nachspielzeit besucht er die Arena Auf Schalke, um ein Satyrspiel zu inszenieren: Das Steigerlied kontrapunktiert ein Gespräch, in das ihn der Impresario der Mythos-Schalke-Tour verwickelte. Innensicht und Außenperspektive geraten über Kreuz.
Per Leo schreibt eloquent, assoziativ, pointiert, auch polemisch. Wie die beiden Teile von "Noch nicht mehr" sich aufeinander beziehen, wird zur Frage an den Leser; wie aus dem Spiel mit Zeitbezügen eine Ruhrgebietsidentität erwachsen soll, bleibt Zukunftsmusik. Der Essay setzt Noten für eine Melodie, die noch nicht gefunden ist. ANDREAS ROSSMANN
Per Leo:
"Noch nicht mehr".
Die Zeit des Ruhrgebiets.
Tropen Verlag, Stuttgart 2023, 192 S., Abb., geb., 20,- Euro.
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