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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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Sechs Essays - ganz im Sinne der Politik der gegenwärtigen Regierung in Warschau
Marek Cichocki will sein Buch nicht als Argument im Konflikt zwischen den politischen Parteien in Polen verstanden wissen. Es betreffe selbstverständlich die Diskussion über Geschichtskultur und Identität. "Doch das Buch handelt nicht von der gegenwärtigen Politik", sagte der polnische Politikwissenschaftler, Philosoph und Germanist bei einer virtuellen Buchvorstellung. Dennoch liest sich "Nord und Süd. Texte zur polnischen Geschichtskultur" stellenweise so, als versuchte Cichocki, die antideutsche und antieuropäische Politik der Regierung Kaczynski geschichtsphilosophisch zu begründen und zu rechtfertigen. Dazu konstruiert er detailreich eine besondere Stellung Polens in der Welt. Polen sei der legitime Erbe der christlich-römischen Spätantike, das übrige Europa indes habe seine Seele verloren und sei ein westlich-bürokratisches Monstrum mit allerdings universalem Machtanspruch geworden.
In diesen Tagen ist die Liste der Streitpunkte zwischen Warschau und Europa lang. Nachdem Dutzende polnische Gemeinden im vergangenen Jahr zu "LGBT-freien Zonen" wurden, erklärte sich die EU zur "Freiheitszone für LGBTIQ". Als Polen im Herbst das Abtreibungsrecht verschärfte und Zehntausende in den größten Protesten seit 1989 auf die Straßen gingen, beschloss das EU-Parlament eine Resolution, die polnischen Frauen das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung zuspricht. Weil die regierende PiS nicht von ihrer umstrittenen Justizreform ablassen will, hat die EU-Kommission Polen Anfang April ein weiteres Mal vor dem Europäischen Gerichtshof verklagt; drei andere Verfahren laufen schon. Wer das weiß, kommt nicht umhin, schon auf der ersten Seite von Cichockis Buch zumindest kurz an die aktuelle Politik zu denken. Da schreibt er, es gelte in Europa als Erfüllung des Glücks, "ganz und gar eins zu werden". Es gebe einen politischen und intellektuellen Zwang zur Einheit. Das heutige Europa sei "politisch und intellektuell so langweilig und öde geworden", einige wollten es "gar mit einem altersschwachen Greis vergleichen".
Cichocki geht in seinem Buch, das in sechs Essays von der Antike bis in die Gegenwart führt, Polens Selbstverständnis innerhalb Europas auf den Grund. Dabei interessiert er sich weniger für Gemeinsamkeiten von Polen und Europa als für die Unterschiede zwischen beiden. Die Trennlinien, vor allem die Unterteilung in Ost und West, bestimmten das gegenwärtige Bewusstsein, bildeten "so etwas wie die verborgene Landkarte Europas". Und von ebenjener Trennung will sich der Autor lossagen. Wichtiger ist ihm die Teilung zwischen Nord und Süd, ein Schlüssel, "um das polnische Wesen und dessen Verquickung mit dem Entstehungsprozess der europäischen Kultur zu begreifen". Bei der Trennung zwischen Ost und West falle Polen "dem Nichtsein anheim" und werde zum Spielball äußerer Kräfte. Der wahre Ursprung der Polen liegt für Cichocki im Süden.
Die Essays sind weitgehend chronologisch aufgebaut. Cichocki erzählt die polnische Nationalgeschichte anschaulich und detailliert, bisweilen auch anekdotisch. Etwa, als er sein "erstes römisches Erlebnis" schildert: Mitte der neunziger Jahre sei er bei einer Europa-Konferenz des Goethe-Instituts in Rom eingeladen gewesen, habe die übliche "Rolle des armen Verwandten aus dem Osten" spielen sollen. Star der Debatte war der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk. Dieser machte jedoch mit einem Wutanfall von sich reden, nachdem ein hoher italienischer Gast, wohl von der EU-Kommission, während seines Vortrags das Handy benutzt habe. "Sloterdijk verhielt sich, wie es sich für einen Barbaren aus dem Norden geziemt", schreibt Cichocki. Er habe den Italiener als Eurokretin beschimpft, mit seinen Papieren auf den Tisch gehauen und den Raum verlassen. Dem römischen Publikum müsse das deutsche Gerede von Europa ohnehin seltsam vorkommen, sei Italien doch für jeden Italiener selbstverständlich die Mutter Europas.
In seinem Ritt durch die Jahrhunderte stellt Cichocki immer wieder polnische Autoren in den Mittelpunkt. So diskutiert er etwa ausführlich Vinzenz Kadubeks "Chronik der Polen", eine umstrittene, doch bedeutende Quelle der früh- und hochmittelalterlichen Geschichte Polens, oder schreibt über Romane des 1908 in Berlin geborenen Teodor Parnicki. Den längsten Essay, "Vom schwarzen Kanzler", widmet Cichocki mit hundert Seiten der polnischen Adelsrepublik, in deren Schatten er Polen bis zum heutigen Tag sieht. Durch ihre Gründung hätten die Polen "ihren imponierenden und enthusiastischen Eintritt in die mediterrane Kultur, die Kultur des Südens" vollzogen. In den Mittelpunkt rückt der Autor hier die Figur des polnischen Magnaten Jan Zamoyski, geboren 1542 und gestorben 1605. Als Sekretär des Königs, später Kanzler und Großkanzler der Rzeczpospolita, "besaß er doch faktisch eine Macht, die der eines Königs gleichkam oder sie gar übertraf", schreibt Cichocki. Zamoyski, der wie viele der späteren Elite der polnischen Adelsrepublik in Padua studiert hatte, ließ Ende des 16. Jahrhunderts die Renaissancestadt Zamo im südöstlichen Polen errichten - benannt nach ihm selbst.
Cichocki versucht, in seinem Buch zu belegen, dass der heutige Westen - einschließlich Europas - sich von seiner Herkunft aus dem spätantiken römisch-christlichen "Süden" losgesagt habe. Er spricht von einem "Irrweg" des postmodernen Westens und verdammt besonders den "kategorischen Universalismus der deutschen Liberalen". Deutschland sei in der EU via Brüssel der Motor dieser verderblichen Entwicklung. Seinem Heimatland Polen rät er: "Es würde genügen, dem westlichen Postmodernismus den Rücken zu kehren, der nicht mehr zu retten ist." Für Cichocki ist Europa keine Erfolgsgeschichte. Zudem: "Der Westen in seiner jetzigen Gestalt hat uns erschöpft." Mit seinem Buch liegt er im Einklang mit der antieuropäischen Politik der aktuellen nationalkonservativen Regierung Polens.
SOFIA DREISBACH
Marek Cichocki: Nord und Süd. Texte zur polnischen Geschichtskultur.
Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 2020. 297 S., 24,90 [Euro].
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