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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Kneipentour mit Rasputin: In seinem Roman "Nordlicht" schickt Drago Jancar einen verwirrten Fremden im slowenischen Maribor auf Höllenfahrt
Den Mann, der ihn in seinem Hotelzimmer aufsucht, hat Josef Erdmann kurz zuvor zum ersten Mal gesehen. Er hat ihn vertraulich angesprochen, im Park an der Eislaufbahn, hat ihn gefragt, ob er nach dem Essen in seinem Hotel sein werde, und ist dann tatsächlich dort erschienen.
Jetzt schließt der Fremde die Tür hinter sich, wechselt augenblicklich vom "Sie" zum "Du", nennt irgendwelche Namen und spricht von "Konspiration", die es zu beachten gelte. Schließlich richtet er Erdmann etwas von einem gewissen Filip aus: Man habe auf der Hochzeit beschlossen, "dass es noch eine Menge Tanz geben wird. Aber vorerst einmal, innerhalb der nächsten vierzehn Tage, beginnt der große Abverkauf der Drucksachen zu stark gesenkten Preisen. Das Datum wird kurz vor dem Abverkauf festgelegt. Die Verkäufer stehen bereit, und die Käufer ahnen nichts. Klar?"
Was immer damit kodiert werden soll, Erdmann kann nichts damit anfangen und weiß erst recht nicht, was nun von ihm erwartet wird. Das jedenfalls berichtet er in Drago Jancars Roman "Nordlicht", wo er als Icherzähler auftritt. Dass sein Bericht nur einen Teil der Geschehnisse wiedergibt, ahnt man rasch, und dass auch dieser Ausschnitt massiv von Erdmanns spezieller Wahrnehmung eingefärbt ist, teilt sich ebenfalls mit. Ihm zur Seite steht kapitelweise ein zweiter Erzähler, der andere Figuren in den Fokus nimmt, die Erdmann begegnen, von denen er aber nichts Näheres weiß, und der sich von der eigentlichen Handlung löst, um in die Vergangenheit und die Zukunft der Protagonisten zu blicken.
Das schließt den wichtigsten Akteur ein: die slowenische Stadt Maribor, auf Deutsch Marburg an der Drau, auf deren Bahnhof Erdmann am Neujahrstag 1938 strandet und die er ein gutes Vierteljahr später, kurz vor Ostern, vom selben Bahnhof aus wieder verlässt. Der Kreis schließt sich auch in anderer Hinsicht. Im Januar hatte ihn Fedjatin, eine Art Rasputingestalt, empfangen, mit den jahreszeitlich unpassenden Worten "Christus ist auferstanden". Nun sind sie bald am Platz.
Trägt man das Bild zusammen, das die beiden Erzähler von den Ereignissen in diesem Zeitraum überliefern, dann kann man durchaus von einer Höllenfahrt sprechen, ganz sicher für Erdmann und, wenn auch weniger dramatisch und schleichender, für die Stadt. Josef Erdmann, der von sich behauptet, als österreichischer Verkäufer von Speziallaboreinrichtungen in Maribor mit seinem aus Triest anreisenden Chef Jaroslav verabredet zu sein, wartet auf ihn vergeblich. Er schickt Telegramme, die als unzustellbar zurückkommen, und als sich am Ende herausstellt, dass die betreffende Firma schon längst nicht mehr existiert, ist das keine große Überraschung. Erdmann beginnt eine Affäre mit der verheirateten Margerita - die Worte "das Dach reparieren" etablieren sie als Chiffre für ihre Liebesbegegnungen - und verbringt viel Zeit in einer stinkenden Kaschemme, wo er mit Fedjatin und dessen gewalttätigem Freund Glavina bis zum Umfallen trinkt.
Maribor, die Stadt, in der Drago Jancar zehn Jahre nach der erzählten Zeit des Romans geboren wurde, entzieht sich Erdmanns Verständnis umso mehr, je länger er sich dort aufhält. Er erlebt sie wie ein Gegenüber, das sich ihm öffnet und wieder entzieht, das ihn abweisend und finster empfängt und am Ende ohne das geringste Bedauern gehen lässt. Der zweite Erzähler, ein Chronist der Stadt und ihrer Bewohner, betont ihre Wandelbarkeit unter den wechselnden politischen Systemen, zählt die Namen auf, die Straßen und Plätze vom Kaiserreich bis zum sozialistischen Jugoslawien nacheinander tragen, je nachdem, wer gerade herrscht, und erspart den Lesern auch nicht die Verirrungen einer sich polarisierenden Bevölkerung am Vorabend des Zweiten Weltkriegs, die Aufmärsche, Parolen und Gewaltausbrüche bis hin zum Mord, und auch nicht die Machenschaften einer Obrigkeit, die sich ihrer Erfolge rühmt und der dennoch die Kontrolle allmählich entgleitet.
In alldem spielt wie auch in anderen Romanen Drago Jancars der Zufall keine Rolle, schon gar nicht in den wahnhaften Erlebnissen und Deutungen Erdmanns, und auch die Entscheidung ausgerechnet für Maribor als Treffpunkt der beiden Geschäftspartner ist nicht beliebig, sondern hat einen Grund, der allerdings nichts mit Laboreinrichtungen zu tun hat. Erdmann ist in Osttirol aufgewachsen, wurde aber in Maribor geboren und jagt nun in der Stadt verschwommenen Kindheitserinnerungen nach.
Eine davon ist an ein Altarbild geknüpft, auf dem die Welt als blaue Kugel in Gottes Hand dargestellt ist. Erdmann, so erinnert er sich, besuchte als Kind mit seinen Eltern dort einen Gottesdienst und verlangte dabei lautstark nach der Kugel. Nun widerfährt ihm das Gegenteil, die Welt kommt ihm immer weiter abhanden, er spürt, wie unter ihm der Boden zittert, und meint, eine Achse habe sich verschoben - fraglich sei nur, ob in ihm oder in der Stadt. Und als er einen versoffenen Abend mit Fedjatin und Glavina rekapituliert, heißt es über den Kneipenbesuch: "Dort unten habe ich gefühlt, dass in der Luft dieser Stadt und dieser Welt etwas verkehrt ist, dass sich etwas anbahnt und heraufzieht, und ich weiß wirklich nicht, was Schlimmes geschehen wird."
Drago Jancars Roman erschien ursprünglich vor gut dreißig Jahren, Klaus Detlefs Übersetzung erstmals 2011. Nun kommt sie im Vorfeld des slowenischen Gastlandauftritts während der Frankfurter Buchmesse ein weiteres Mal heraus und spricht eindrucksvoll für die Literatur des Landes wie für das Werk des Autors. Wie hier die Auswirkungen europäischer Zeitgeschichte auf die slowenische Stadt eingefangen und glaubwürdig mit ihren Bewohnern verknüpft werden, ist ebenso beeindruckend wie eine Erzählerfigur, die versucht, im Strudel der Ereignisse die Orientierung zu behalten, und dabei immer mehr ins Abseits driftet.
"Entweder fahre ich weg, oder es passiert etwas mit mir", sagt Erdmann nach wenigen Tagen in Maribor. Für den Leser gilt dasselbe. TILMAN SPRECKELSEN
Drago Jancar: "Nordlicht". Roman.
Mit einem Nachwort von Claudio Magris. Aus dem Slowenischen von Klaus Detlef Olof. Folio Verlag, Wien 2022. 271 S., geb., 24,- Euro.
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