Henry Drax kennt kein Gewissen. Er ist Harpunierer auf der Volunteer, einem Walfangschiff, das von England Kurs auf die arktischen Gewässer der Baffinbucht nimmt. Ebenfalls an Bord ist Patrick Sumner, ein Arzt von zweifelhaftem Ruf, der glaubt, schon alles gesehen zu haben – nicht ahnend, dass seine größte Prüfung noch bevorsteht, nachdem er Drax einer ungeheuerlichen Tat überführt hat. Während sich der Konflikt zwischen den beiden Männern zuspitzt, wird auch der eigentliche Sinn der verhängnisvollen Expedition zunehmend klar … Die erschütternde Schönheit und Einsamkeit des Nordpolarmeers bilden die Kulisse für Ian McGuires dramatischen Roman um Gut und Böse, eine in ihrer philosophischen und psychologischen Dimension zeitlose Geschichte über die tiefsten Abgründe des menschlichen Herzens.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.03.2018In eisiger Tiefe
Der historische Roman von Ian McGuire über das Hässliche und das Böse ist teuflisch gut: "Nordwasser"
Gewalt gehört leider zum Leben - und deshalb gehört sie auch in die Kunst und insbesondere in den Roman, der von den Antrieben und Ängsten der Menschen handelt. Gewalt ist eine zutiefst körperliche Erfahrung. In früheren Epochen waren die Körper der Menschen allerdings längst nicht so präsent in Erzählwerken wie heute. Heute sollen oder wollen die Leser offenbar ganz genau wissen, wie es aussieht, wenn ein menschlicher Körper, diese nur von ein bisschen Haut und Fleisch zusammengehaltene Ansammlung lebenswichtiger Organe, zerstückelt und zersprengt wird: "Er hebt das Gewehr zur Schulter und schießt. Das Gesicht des Mannes verschwindet schlagartig und weicht einer flachen, schalenförmigen Mulde voll Fleisch, Knorpel und einem chaotischen Durcheinander von Zähnen und Zungenfetzen."
Ian McGuires in England und den Vereinigten Staaten zu Recht gefeierter Roman "Nordwasser" ist ein Buch extremer Gewalt. Er spielt zum größten Teil auf einem gottverdammten Walfangschiff, ums Jahr 1860. Hauptfigur ist der Arzt Patrick Sumner, der bei Kapitän Brownlee angeheuert hat, um seinem Leben für eine Weile zu entkommen - einem Leben der verpassten Chancen und gescheiterten Pläne. Zuletzt war er in Indien; als Militärarzt war er an der Niederschlagung der Aufstände von 1857 beteiligt, er hat Massaker erlebt, den Horror des Kolonialkrieges. Dazu gehört der zitierte Schuss, der ihn aus schier hoffnungsloser Lage rettete.
Sumner hat selbst eine Verwundung erlitten, seitdem humpelt er und hat sich an die regelmäßige Zufuhr von Laudanum gewöhnt. Mit Opium gefällt ihm die Welt, ein bisschen. Die traumatischen Erfahrungen in Indien, die zu seiner unehrenhaften Entlassung aus der Armee geführt haben, rücken wie Traumsequenzen in die Handlung ein - obwohl das Opium ihn doch in schönere Welten tragen soll. Sumner ist ein Intellektueller, der immer seinen Homer bei sich führt, dem Denken und den erhabenen Worten aber misstraut: "Das Leben lässt sich nicht gefügig quasseln, man muss es durchstehen."
Sumners Gegenspieler ist, genaugenommen, ein radikalerer Geistesverwandter seiner selbst. Henry Drax folgt ganz der Vernunft seiner Eingeweide und den Impulsen seiner "ruppigen Gelüste". Auf den ersten Seiten gibt der Harpunier des Grauens seine Visitenkarte ab, indem er rasch hintereinander zwei brutale Morde begeht. Der Roman setzt ihn wieder und wieder in Szene: als Robbenschlächter, als Eisbärentöter. Und als Mann pointierter Aussagen: "Ich hab' auch schon Augäpfel gegessen, ein Augapfel ist ein leckerer Imbiss." Drax lässt sich als psychopathische Variante von Nietzsches selbstbestimmtem Übermenschen begreifen, eine Menschenbestie, die ganz in ihrer Animalität zu Hause ist und sich keinen Deut um Konventionen und Moral schert.
"Sehet den Menschen" lautet der erste Satz. Ecce homo. So wird dem Geschehen eine Rahmung gegeben. Die geschilderten Greueltaten sollen kein voyeuristischer Selbstzweck oder bloße Spannungstreiber sein, sondern Teil eines anthropologisch-literarischen Projekts: illusionslos den wölfischen Hobbes-Charakter des Menschen herausstellen, sein Talent zur Monstrosität. Der 1964 geborene Ian McGuire, der Literatur an der Universität Manchester unterrichtet, bedient sich dafür ausgiebig bei der Literaturgeschichte. In seinem Roman spiegeln sich die Klassiker über Walfang, Polarexpeditionen und die Schrecken des Eises und der Finsternis - Jack Londons "Seewolf", Poes "Arthur Gordon Pym", Thomas Manns metaphysischer Schneesturm im "Zauberberg"; auch die dunkelböse Erzählwelt Cormac McCarthys hat Pate gestanden. "Nordwasser" ist ein Buch, das aus Literatur gemacht ist, aber viel mehr als eine Zitatgeburt; ein Roman voller Ein- und Zuflüsse, aber doch ein ganz eigenes Gewässer.
Am markantesten sind natürlich die "Moby-Dick"-Bezüge. So begegnet Sumner auf dem Weg zu seinem Schiff unweigerlich einem wandelnden Menetekel, einem pockennarbigen Krüppel, der das chronische Unglück von Kapitän Brownlee beschwört und orakelt, dass die Fahrt mit der "Volunteer" ein Todeskommando sei. Tatsächlich gehe es dem Eigner, dem gerissenen Baxter, nicht wirklich um Wale. Die große Jagd sei vorbei, statt mit müffelndem Waltran erleuchte sich die Welt inzwischen lieber mit Paraffin. Die eigentliche Beute, um die es Baxter geht, ist die hohe Versicherungssumme für das Schiff. "Versperrt man dem Geld einen Weg, sucht es sich einen anderen", lautet seine Devise. Der Schiffbruch mit Tiger - Henry Drax - ist programmiert.
Ian McGuire zeigt in hyperrealistischer Erzählweise, was Herman Melville eher ausgespart hat: den Gestank der getöteten Tiere und einer Mannschaft ungewaschener Kerle, die sich vor dem Arzt entblößen. Während "Moby-Dick" manche Leser irritieren kann, weil es - aus heutiger Sicht - das heroisierende Epos eines zutiefst verabscheuungswürdigen Gewerbes ist (auch wenn die Kühnheit, in Nussschalenruderbooten gegen ein wütendes, verzweifeltes Fünfzig-Tonnen-Tier anzutreten, niemand bezweifeln dürfte), verklärt Ian McGuire nichts. Sein Roman zeigt nicht den todesmutigen Kampf, sondern die Schlächterarbeit an einem halbverwesten Walkadaver, mit widrigen Details, wenn etwa aus den bereits verfärbten Fettquadern eine übelriechende Gallerte tropft, die dem "Rektalausfluss eines menschlichen Leichnams nicht unähnlich" sei - Literatur soll ja die Vorstellungskraft anregen.
Die Handlung nimmt Fahrt auf, als einer der Schiffsjungen vergewaltigt und erwürgt wird. Das Böse und Hässliche kommt alle paar Seiten wie ein Springteufel aus der Kiste, bis zum finalen Showdown zwischen Drax, Baxter und Sumner. Aber dennoch hat das Gute und Schöne seinen Platz - denn dieser Roman ist verteufelt gut geschrieben (und von Joachim Körber trefflich übersetzt), in einem geschliffenen Stil, der wechselt zwischen der grimmigen Lakonie der Dialoge und der atmosphärischen Beschreibung des Nordmeer-Himmels und der zerklüfteten Packeis-Landschaft. Als die Männer ihr Schiff bereits verloren haben, kommt "wie eine bleichsüchtige Wanderdüne" ein riesiger Eisberg angetrieben und rammt die Eisscholle, auf der sie sich notdürftig eingerichtet haben, die Platten splittern und werden hochgewuchtet, der kleine Kanonenofen kippt um und setzt das Zelt in Brand. Das Erhabene und der Schrecken mischen sich in solchen Szenen. Immer wieder schreibt McGuire aber auch Sätze wie aus einer räudigen Tom-Waits-Ballade: "Der gelbe Mond hängt am Himmel über der Gasse wie eine Pille in einer zugeschnürten Kehle."
Grandios sind die Schilderungen des größten Landraubtiers der Erde, seiner Grausamkeit und Schönheit, seiner tapsigen Wucht auf bratpfannengroßen Pfoten. In einer der ungeheuerlichsten Szenen wird ein erlegter Eisbär zur letzten Zuflucht im Schneesturm: Der verwirrte, bereits halberfrorene Sumner reißt nach einer irrläuferhaften Verfolgungsjagd dem Tier die inneren Organe heraus und steigt selbst hinein in den dampfenden Kadaver. Die eigentlichen Schrecken, so lehrt es die düstere Philosophie dieses Romans, kommen nicht von außen - in Form von Eisbären oder Eisbergen auf Kollisionskurs -, sondern von innen: Es ist das groteske Gekröse im Leib, die prinzipielle Fremdheit des Organischen, das Zirkulieren seiner Säfte, das Grauen unter der Hautoberfläche.
Ian McGuire hat bisher nur den Campus-Roman "Incredible Bodies" veröffentlicht. Mit "Nordwasser" ist ihm nun ein geschliffener historischer Roman geglückt, der nicht nur im Präsens geschrieben ist, sondern in jeder Szene tatsächlich größtmögliche Präsenz erreicht - eine spannende, unbremsbare Lektüre wie Patrick Süskinds "Parfum". Wenn die Genauigkeit des Ausdrucks ein Kriterium für literarische Schönheit ist, dann ist dieser Roman, der alle Genauigkeit darauf verwendet, menschenfeindliche Landschaften und menschenfeindliche Handlungen zu schildern, ein sehr ästhetisches Werk.
WOLFGANG SCHNEIDER
Ian McGuire: "Nordwasser". Roman.
Aus dem Englischen von Joachim Körber. Mare Verlag, Hamburg 2018. 304 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der historische Roman von Ian McGuire über das Hässliche und das Böse ist teuflisch gut: "Nordwasser"
Gewalt gehört leider zum Leben - und deshalb gehört sie auch in die Kunst und insbesondere in den Roman, der von den Antrieben und Ängsten der Menschen handelt. Gewalt ist eine zutiefst körperliche Erfahrung. In früheren Epochen waren die Körper der Menschen allerdings längst nicht so präsent in Erzählwerken wie heute. Heute sollen oder wollen die Leser offenbar ganz genau wissen, wie es aussieht, wenn ein menschlicher Körper, diese nur von ein bisschen Haut und Fleisch zusammengehaltene Ansammlung lebenswichtiger Organe, zerstückelt und zersprengt wird: "Er hebt das Gewehr zur Schulter und schießt. Das Gesicht des Mannes verschwindet schlagartig und weicht einer flachen, schalenförmigen Mulde voll Fleisch, Knorpel und einem chaotischen Durcheinander von Zähnen und Zungenfetzen."
Ian McGuires in England und den Vereinigten Staaten zu Recht gefeierter Roman "Nordwasser" ist ein Buch extremer Gewalt. Er spielt zum größten Teil auf einem gottverdammten Walfangschiff, ums Jahr 1860. Hauptfigur ist der Arzt Patrick Sumner, der bei Kapitän Brownlee angeheuert hat, um seinem Leben für eine Weile zu entkommen - einem Leben der verpassten Chancen und gescheiterten Pläne. Zuletzt war er in Indien; als Militärarzt war er an der Niederschlagung der Aufstände von 1857 beteiligt, er hat Massaker erlebt, den Horror des Kolonialkrieges. Dazu gehört der zitierte Schuss, der ihn aus schier hoffnungsloser Lage rettete.
Sumner hat selbst eine Verwundung erlitten, seitdem humpelt er und hat sich an die regelmäßige Zufuhr von Laudanum gewöhnt. Mit Opium gefällt ihm die Welt, ein bisschen. Die traumatischen Erfahrungen in Indien, die zu seiner unehrenhaften Entlassung aus der Armee geführt haben, rücken wie Traumsequenzen in die Handlung ein - obwohl das Opium ihn doch in schönere Welten tragen soll. Sumner ist ein Intellektueller, der immer seinen Homer bei sich führt, dem Denken und den erhabenen Worten aber misstraut: "Das Leben lässt sich nicht gefügig quasseln, man muss es durchstehen."
Sumners Gegenspieler ist, genaugenommen, ein radikalerer Geistesverwandter seiner selbst. Henry Drax folgt ganz der Vernunft seiner Eingeweide und den Impulsen seiner "ruppigen Gelüste". Auf den ersten Seiten gibt der Harpunier des Grauens seine Visitenkarte ab, indem er rasch hintereinander zwei brutale Morde begeht. Der Roman setzt ihn wieder und wieder in Szene: als Robbenschlächter, als Eisbärentöter. Und als Mann pointierter Aussagen: "Ich hab' auch schon Augäpfel gegessen, ein Augapfel ist ein leckerer Imbiss." Drax lässt sich als psychopathische Variante von Nietzsches selbstbestimmtem Übermenschen begreifen, eine Menschenbestie, die ganz in ihrer Animalität zu Hause ist und sich keinen Deut um Konventionen und Moral schert.
"Sehet den Menschen" lautet der erste Satz. Ecce homo. So wird dem Geschehen eine Rahmung gegeben. Die geschilderten Greueltaten sollen kein voyeuristischer Selbstzweck oder bloße Spannungstreiber sein, sondern Teil eines anthropologisch-literarischen Projekts: illusionslos den wölfischen Hobbes-Charakter des Menschen herausstellen, sein Talent zur Monstrosität. Der 1964 geborene Ian McGuire, der Literatur an der Universität Manchester unterrichtet, bedient sich dafür ausgiebig bei der Literaturgeschichte. In seinem Roman spiegeln sich die Klassiker über Walfang, Polarexpeditionen und die Schrecken des Eises und der Finsternis - Jack Londons "Seewolf", Poes "Arthur Gordon Pym", Thomas Manns metaphysischer Schneesturm im "Zauberberg"; auch die dunkelböse Erzählwelt Cormac McCarthys hat Pate gestanden. "Nordwasser" ist ein Buch, das aus Literatur gemacht ist, aber viel mehr als eine Zitatgeburt; ein Roman voller Ein- und Zuflüsse, aber doch ein ganz eigenes Gewässer.
Am markantesten sind natürlich die "Moby-Dick"-Bezüge. So begegnet Sumner auf dem Weg zu seinem Schiff unweigerlich einem wandelnden Menetekel, einem pockennarbigen Krüppel, der das chronische Unglück von Kapitän Brownlee beschwört und orakelt, dass die Fahrt mit der "Volunteer" ein Todeskommando sei. Tatsächlich gehe es dem Eigner, dem gerissenen Baxter, nicht wirklich um Wale. Die große Jagd sei vorbei, statt mit müffelndem Waltran erleuchte sich die Welt inzwischen lieber mit Paraffin. Die eigentliche Beute, um die es Baxter geht, ist die hohe Versicherungssumme für das Schiff. "Versperrt man dem Geld einen Weg, sucht es sich einen anderen", lautet seine Devise. Der Schiffbruch mit Tiger - Henry Drax - ist programmiert.
Ian McGuire zeigt in hyperrealistischer Erzählweise, was Herman Melville eher ausgespart hat: den Gestank der getöteten Tiere und einer Mannschaft ungewaschener Kerle, die sich vor dem Arzt entblößen. Während "Moby-Dick" manche Leser irritieren kann, weil es - aus heutiger Sicht - das heroisierende Epos eines zutiefst verabscheuungswürdigen Gewerbes ist (auch wenn die Kühnheit, in Nussschalenruderbooten gegen ein wütendes, verzweifeltes Fünfzig-Tonnen-Tier anzutreten, niemand bezweifeln dürfte), verklärt Ian McGuire nichts. Sein Roman zeigt nicht den todesmutigen Kampf, sondern die Schlächterarbeit an einem halbverwesten Walkadaver, mit widrigen Details, wenn etwa aus den bereits verfärbten Fettquadern eine übelriechende Gallerte tropft, die dem "Rektalausfluss eines menschlichen Leichnams nicht unähnlich" sei - Literatur soll ja die Vorstellungskraft anregen.
Die Handlung nimmt Fahrt auf, als einer der Schiffsjungen vergewaltigt und erwürgt wird. Das Böse und Hässliche kommt alle paar Seiten wie ein Springteufel aus der Kiste, bis zum finalen Showdown zwischen Drax, Baxter und Sumner. Aber dennoch hat das Gute und Schöne seinen Platz - denn dieser Roman ist verteufelt gut geschrieben (und von Joachim Körber trefflich übersetzt), in einem geschliffenen Stil, der wechselt zwischen der grimmigen Lakonie der Dialoge und der atmosphärischen Beschreibung des Nordmeer-Himmels und der zerklüfteten Packeis-Landschaft. Als die Männer ihr Schiff bereits verloren haben, kommt "wie eine bleichsüchtige Wanderdüne" ein riesiger Eisberg angetrieben und rammt die Eisscholle, auf der sie sich notdürftig eingerichtet haben, die Platten splittern und werden hochgewuchtet, der kleine Kanonenofen kippt um und setzt das Zelt in Brand. Das Erhabene und der Schrecken mischen sich in solchen Szenen. Immer wieder schreibt McGuire aber auch Sätze wie aus einer räudigen Tom-Waits-Ballade: "Der gelbe Mond hängt am Himmel über der Gasse wie eine Pille in einer zugeschnürten Kehle."
Grandios sind die Schilderungen des größten Landraubtiers der Erde, seiner Grausamkeit und Schönheit, seiner tapsigen Wucht auf bratpfannengroßen Pfoten. In einer der ungeheuerlichsten Szenen wird ein erlegter Eisbär zur letzten Zuflucht im Schneesturm: Der verwirrte, bereits halberfrorene Sumner reißt nach einer irrläuferhaften Verfolgungsjagd dem Tier die inneren Organe heraus und steigt selbst hinein in den dampfenden Kadaver. Die eigentlichen Schrecken, so lehrt es die düstere Philosophie dieses Romans, kommen nicht von außen - in Form von Eisbären oder Eisbergen auf Kollisionskurs -, sondern von innen: Es ist das groteske Gekröse im Leib, die prinzipielle Fremdheit des Organischen, das Zirkulieren seiner Säfte, das Grauen unter der Hautoberfläche.
Ian McGuire hat bisher nur den Campus-Roman "Incredible Bodies" veröffentlicht. Mit "Nordwasser" ist ihm nun ein geschliffener historischer Roman geglückt, der nicht nur im Präsens geschrieben ist, sondern in jeder Szene tatsächlich größtmögliche Präsenz erreicht - eine spannende, unbremsbare Lektüre wie Patrick Süskinds "Parfum". Wenn die Genauigkeit des Ausdrucks ein Kriterium für literarische Schönheit ist, dann ist dieser Roman, der alle Genauigkeit darauf verwendet, menschenfeindliche Landschaften und menschenfeindliche Handlungen zu schildern, ein sehr ästhetisches Werk.
WOLFGANG SCHNEIDER
Ian McGuire: "Nordwasser". Roman.
Aus dem Englischen von Joachim Körber. Mare Verlag, Hamburg 2018. 304 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.03.2018Auf See
verschollen
Ian McGuires nüchterner
Abenteuerroman „Nordwasser“
Warum fährt jemand zur See? Die Literatur ist voller Gestalten, angefangen bei Odysseus, die sich den Gezeiten aussetzen. Es gibt eine Verwandtschaft zwischen Romanfiguren und Seefahrern. Beide befinden sich in einer Art Zwischenreich, sind zugleich an- und abwesend. Wer zur See fährt, verschwindet und ist doch nicht richtig weg, wie die Figuren, die aus den Büchern sprechen und mit denen man fühlt, obwohl es sie gar nicht gibt. Während die Körper der zur See Fahrenden irgendwo von den Wellen getragen werden, wird ihre Rückkehr oder Ankunft an Land erwartet. Für den Seefahrer gibt es dort einen leeren Platz. Und manchem ist es ganz recht, wenn dieser Platz leer bleibt.
Ismael, der Erzähler aus Herman Melvilles „Moby Dick“ ist so jemand. In Ian McGuires Roman „Nordwasser“ sind es der betäubungsmittelsüchtige Feldchirurg Patrick Sumner und der Harpunier Henry Drax, die beide auf dem Walfangschiff Volunteer anheuern. Der eine, weil er sich während der Belagerung Delhis unerlaubt von der Truppe entfernt hatte und unehrenhaft aus der Armee entlassen wurde, der andere, weil es an Land außer Alkohol und Jungs wenig gibt, das ihn interessiert. Auf dem Walfangschiff herrschen Eintönigkeit und strenge Regeln, doch gerade darin liegt für viele eine Art Freiheit. „Was bedeutet frei überhaupt? Derlei Wörter sind dünn wie Papier, sie zerknittern und reißen beim geringsten Druck. Nur Taten zählen, denkt er zum zehntausendsten Mal, nur Ereignisse.“ Sumner sinniert nach dem Apothekenbesuch über seine verpasste Karriere als Arzt und obwohl die beiden später, als der Körper eines Schiffsjungen verschwindet und nur tot wieder auftaucht, zu Gegnern werden, sind sie sich in diesen Gedanken sehr nahe, wie zwei Aspekte derselben Sache.
Dieses Misstrauen der Figuren den Worten gegenüber scheint auch für den Roman selbst zu gelten. Ian McGuire ist Experte für englischsprachige Literatur des späten 19. Jahrhunderts und hat sich für „Nordwasser“ bei Herman Melville und Joseph Conrad bedient, erzählt aber mit wenigen Ausnahmen streng chronologisch und realistisch. Kaum ein Vergleich oder eine Metapher durchbrechen die Beschreibungen der Waljagd und wenn, dann werden erlegte Haie von ihren Artgenossen „abgenagt wie die Kerngehäuse von Äpfeln“. Nur einmal gibt es einen längeren Einschub des Erzählers, als Sumner bei der Robbenjagd zwischen zwei Eisschollen eingeklemmt wird, danach halb tot in seiner Kajüte deliriert und der Roman vom Eismeer des Nordatlantik ins staubige Delhi springt, wo die britische Armee brutal den indischen Aufstand gegen die Kolonialherrschaft niederschlug.
„Nordwasser“ scheut dabei in seinem Realismus keinen Operationstisch und keinen misshandelten Körper. Es bleibt von den Menschen auf der Volunteer auch scheinbar kaum etwas anderes, ihre Körper wandeln an Bord, den Rest haben sie irgendwo zurückgelassen. „Er erinnert sich an die Gläser mit zerlegten Gehirnen, die hilflos und sinnlos wie eingelegter Blumenkohl schweben und deren schwammige Hälften weder Gedanken noch Begierden mehr beherbergen. Die Redundanz allen Fleisches, denkt er, die Hilflosigkeit von Gewebe; wie können wir eine Seele aus einem Knochen beschwören?“ Auch die Tiere, die sie jagen, sind nur Material. „Der Tod, glaubt er, ist eine Art Schöpfungsakt, eine Art des Werdens. Etwas, das war, glaubt er, wird zu etwas anderem.“ Joachim Körber hat den Roman in ein sehr flüssiges und angenehm zu lesendes Deutsch gebracht.
„Nordwasser“ war für den Man Booker Prize nominiert und obwohl er in seiner Mischung aus Kriminal- und Abenteuerroman so klug wie mitreißend spannend erzählt wird, stellt sich die Frage, warum gerade jetzt ein Buch erscheint, das nüchtern vom Überlebenskampf seiner Figuren im eisigen Norden erzählt und diese Geschichte fast jeder Metaebene entledigt, die dem Sujet seit mehr als 150 Jahren übergestülpt worden war. In „Moby Dick“ werden die kapitellangen Exkurse zur Waljagd in der Regel als performativer Versuch gelesen, der Unbegreifbarkeit der Natur mit dem eingeschränkten Erkenntnisinstrument des Menschen zu Leibe zu rücken. Die metaphysische Ebene der Jagd und der rauen See rücken bei McGuire in weite Ferne, womit er sie aber zugleich für alle möglichen Zugriffe öffnet. Denn die Zeit der Walfänger ist auch in diesem Roman eigentlich vorbei, so wie die der Feldchirurgen und Harpuniere. Neue Techniken und Ausbildungen ersetzten diese Berufsfelder Ende des 19. Jahrhunderts, das einst zur Beleuchtung eingesetzte Walöl wird zunehmend durch das effizientere Paraffinöl ersetzt. Die reine Verzweiflung treibt die Menschen aufs Meer und degradiert sie zu Körpern, die irgendwann an einer fremden Küste anbranden. In seiner Offenheit ist der Roman auch als Flüchtlingsallegorie lesbar und so erscheint Ian McGuires brutale Überlebenskampferzählung ganz aktuell.
NICOLAS FREUND
Ian McGuire: Nordwasser. Roman. Aus dem Englischen von Joachim Körber. Mare Verlag, Hamburg 2018.
304 Seiten, 22 Euro.
E-Book 17,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
verschollen
Ian McGuires nüchterner
Abenteuerroman „Nordwasser“
Warum fährt jemand zur See? Die Literatur ist voller Gestalten, angefangen bei Odysseus, die sich den Gezeiten aussetzen. Es gibt eine Verwandtschaft zwischen Romanfiguren und Seefahrern. Beide befinden sich in einer Art Zwischenreich, sind zugleich an- und abwesend. Wer zur See fährt, verschwindet und ist doch nicht richtig weg, wie die Figuren, die aus den Büchern sprechen und mit denen man fühlt, obwohl es sie gar nicht gibt. Während die Körper der zur See Fahrenden irgendwo von den Wellen getragen werden, wird ihre Rückkehr oder Ankunft an Land erwartet. Für den Seefahrer gibt es dort einen leeren Platz. Und manchem ist es ganz recht, wenn dieser Platz leer bleibt.
Ismael, der Erzähler aus Herman Melvilles „Moby Dick“ ist so jemand. In Ian McGuires Roman „Nordwasser“ sind es der betäubungsmittelsüchtige Feldchirurg Patrick Sumner und der Harpunier Henry Drax, die beide auf dem Walfangschiff Volunteer anheuern. Der eine, weil er sich während der Belagerung Delhis unerlaubt von der Truppe entfernt hatte und unehrenhaft aus der Armee entlassen wurde, der andere, weil es an Land außer Alkohol und Jungs wenig gibt, das ihn interessiert. Auf dem Walfangschiff herrschen Eintönigkeit und strenge Regeln, doch gerade darin liegt für viele eine Art Freiheit. „Was bedeutet frei überhaupt? Derlei Wörter sind dünn wie Papier, sie zerknittern und reißen beim geringsten Druck. Nur Taten zählen, denkt er zum zehntausendsten Mal, nur Ereignisse.“ Sumner sinniert nach dem Apothekenbesuch über seine verpasste Karriere als Arzt und obwohl die beiden später, als der Körper eines Schiffsjungen verschwindet und nur tot wieder auftaucht, zu Gegnern werden, sind sie sich in diesen Gedanken sehr nahe, wie zwei Aspekte derselben Sache.
Dieses Misstrauen der Figuren den Worten gegenüber scheint auch für den Roman selbst zu gelten. Ian McGuire ist Experte für englischsprachige Literatur des späten 19. Jahrhunderts und hat sich für „Nordwasser“ bei Herman Melville und Joseph Conrad bedient, erzählt aber mit wenigen Ausnahmen streng chronologisch und realistisch. Kaum ein Vergleich oder eine Metapher durchbrechen die Beschreibungen der Waljagd und wenn, dann werden erlegte Haie von ihren Artgenossen „abgenagt wie die Kerngehäuse von Äpfeln“. Nur einmal gibt es einen längeren Einschub des Erzählers, als Sumner bei der Robbenjagd zwischen zwei Eisschollen eingeklemmt wird, danach halb tot in seiner Kajüte deliriert und der Roman vom Eismeer des Nordatlantik ins staubige Delhi springt, wo die britische Armee brutal den indischen Aufstand gegen die Kolonialherrschaft niederschlug.
„Nordwasser“ scheut dabei in seinem Realismus keinen Operationstisch und keinen misshandelten Körper. Es bleibt von den Menschen auf der Volunteer auch scheinbar kaum etwas anderes, ihre Körper wandeln an Bord, den Rest haben sie irgendwo zurückgelassen. „Er erinnert sich an die Gläser mit zerlegten Gehirnen, die hilflos und sinnlos wie eingelegter Blumenkohl schweben und deren schwammige Hälften weder Gedanken noch Begierden mehr beherbergen. Die Redundanz allen Fleisches, denkt er, die Hilflosigkeit von Gewebe; wie können wir eine Seele aus einem Knochen beschwören?“ Auch die Tiere, die sie jagen, sind nur Material. „Der Tod, glaubt er, ist eine Art Schöpfungsakt, eine Art des Werdens. Etwas, das war, glaubt er, wird zu etwas anderem.“ Joachim Körber hat den Roman in ein sehr flüssiges und angenehm zu lesendes Deutsch gebracht.
„Nordwasser“ war für den Man Booker Prize nominiert und obwohl er in seiner Mischung aus Kriminal- und Abenteuerroman so klug wie mitreißend spannend erzählt wird, stellt sich die Frage, warum gerade jetzt ein Buch erscheint, das nüchtern vom Überlebenskampf seiner Figuren im eisigen Norden erzählt und diese Geschichte fast jeder Metaebene entledigt, die dem Sujet seit mehr als 150 Jahren übergestülpt worden war. In „Moby Dick“ werden die kapitellangen Exkurse zur Waljagd in der Regel als performativer Versuch gelesen, der Unbegreifbarkeit der Natur mit dem eingeschränkten Erkenntnisinstrument des Menschen zu Leibe zu rücken. Die metaphysische Ebene der Jagd und der rauen See rücken bei McGuire in weite Ferne, womit er sie aber zugleich für alle möglichen Zugriffe öffnet. Denn die Zeit der Walfänger ist auch in diesem Roman eigentlich vorbei, so wie die der Feldchirurgen und Harpuniere. Neue Techniken und Ausbildungen ersetzten diese Berufsfelder Ende des 19. Jahrhunderts, das einst zur Beleuchtung eingesetzte Walöl wird zunehmend durch das effizientere Paraffinöl ersetzt. Die reine Verzweiflung treibt die Menschen aufs Meer und degradiert sie zu Körpern, die irgendwann an einer fremden Küste anbranden. In seiner Offenheit ist der Roman auch als Flüchtlingsallegorie lesbar und so erscheint Ian McGuires brutale Überlebenskampferzählung ganz aktuell.
NICOLAS FREUND
Ian McGuire: Nordwasser. Roman. Aus dem Englischen von Joachim Körber. Mare Verlag, Hamburg 2018.
304 Seiten, 22 Euro.
E-Book 17,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Nicolas Freund fühlt sich mitgerissen von dieser, Mitte des 19. Jahrhunderts angesiedelten Mischung aus Kriminal- und Abenteuerroman, die Ian McGuire mit "Nordwasser" vorlegt: Ein betäubungsmittelsüchtiger Ex-Feldchirurg, der unehrenhaft aus der Armee entlassen wurde, und ein Harpunier, der seiner Vorliebe für Alkohol und Jungs auf dem Schiff entgehen will, gehen auf Waljagd, wie Freund informiert, und werden zu Gegnern, als ein Schiffsjunge tot aufgefunden wird. Genauso, wie er die Sprache unnötiger Bilder entledige, suspendiere McGuire auch jegliche Metaebene, die dem geschichtsträchtigen Walfang-Sujet anhafte, befindet Freund. Zuletzt fragt sich der Rezensent trotz aller Spannung, die "Nordwasser" für ihn bietet, aber doch, wohin ein so offener Text eigentlich weist - und meint, in dem Motiv verzweifelter Menschen, die sich schicksalsergeben einschiffen, eine Flüchtlingsallegorie zu entdecken.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Ian McGuire kommt dem Schrecken des Eises und der Finsternis inmitten einer grandiosen Natur ganz nahe.« Hannoversche Allgemeine Zeitung