»Es ist für mich genau die richtige Art und Weise, über Umgebung, über das Gelände des Lebens zu schreiben.« Esther Kinsky
Eine Frau sitzt während des Lockdowns in ihrer Wohnung. Sie schaut auf den Ausschnitt vor ihrem Fenster und blickt zurück. In ihre Kindheit in einem Dorf in Yorkshire in den 1990er Jahren. Eine Zeit, in der sie alles erkundete. Eine Zeit, die sie lehrte, wie alles notwendigerweise Teil von etwas Größerem ist. Wie der örtliche Steinbruch, der zuvor Schauplatz einer Jagd zwischen einem Turmfalken und einer Wühlmaus war, nun von schweren Maschinen internationaler Konzerne zerstört wird. Wie das Nest einer unermüdlichen Kibitzin immer wieder von Traktoren zerquetscht wird und in der Blumenzucht nebenan Gastarbeiter ausgebeutet werden. Sie beginnt zu verstehen, wie belanglose Begebenheiten in ihrem Alltag in einem nordenglischen Dorf bis nach Nicaragua und China reichen und auf globale Warenketten und Klimaverschiebungen einwirken. Und wie sich in ihrem scheinbaren Idyll die Zeichen mehren, dass wir auf eine Katastrophe zusteuern.
Notstand, der vielgepriesene Roman der britischen Autorin Daisy Hildyard, zeigt uns den Reichtum der Welt – die betörenden Details ebenso wie ihre weitreichende und schicksalhafte Vernetztheit. Ein stilles und großartiges Buch, in dem Mensch und Natur eins sind und in dem eine geteilte Zerbrechlichkeit alle Spezies eint.
Eine Frau sitzt während des Lockdowns in ihrer Wohnung. Sie schaut auf den Ausschnitt vor ihrem Fenster und blickt zurück. In ihre Kindheit in einem Dorf in Yorkshire in den 1990er Jahren. Eine Zeit, in der sie alles erkundete. Eine Zeit, die sie lehrte, wie alles notwendigerweise Teil von etwas Größerem ist. Wie der örtliche Steinbruch, der zuvor Schauplatz einer Jagd zwischen einem Turmfalken und einer Wühlmaus war, nun von schweren Maschinen internationaler Konzerne zerstört wird. Wie das Nest einer unermüdlichen Kibitzin immer wieder von Traktoren zerquetscht wird und in der Blumenzucht nebenan Gastarbeiter ausgebeutet werden. Sie beginnt zu verstehen, wie belanglose Begebenheiten in ihrem Alltag in einem nordenglischen Dorf bis nach Nicaragua und China reichen und auf globale Warenketten und Klimaverschiebungen einwirken. Und wie sich in ihrem scheinbaren Idyll die Zeichen mehren, dass wir auf eine Katastrophe zusteuern.
Notstand, der vielgepriesene Roman der britischen Autorin Daisy Hildyard, zeigt uns den Reichtum der Welt – die betörenden Details ebenso wie ihre weitreichende und schicksalhafte Vernetztheit. Ein stilles und großartiges Buch, in dem Mensch und Natur eins sind und in dem eine geteilte Zerbrechlichkeit alle Spezies eint.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.06.2024Wie man
zur Welt gehört
Nature-Writing in Zeiten des Klimawandels: Die
britische Autorin Daisy Hildyard erzählt in
„Notstand“, wie alles mit allem zusammenhängt.
VON NICO BLEUTGE
Wenn der Vater der Erzählerin Pilze sammeln geht, nimmt er auch seinen Gärtnerhandschuh mit, ein klobiges ockerfarbenes Exemplar, das an den Fingerspitzen schwarz vor Öl ist – und dazu einen Plastikbeutel. Auf dem Weg zurück nach Hause räumt er den Müll weg. Am Straßenrand sind vom Winter Haufen aus Sand und Streukies geblieben, darin finden sich nicht nur Blätter, der Abfall wirkt wie eingewachsen in die Haufen, „als sprössen Verpackungen von Schokoriegeln wie hässliche Pflanzen aus ihnen, alles Bunte und die Beschriftung war abgewaschen, zurückgeblieben waren silbrige Streifen, die nur noch in den tiefsten Knicken die ursprünglichen Farben bewahrten, während Plastikflaschen und Aluminiumdosen in den Haufen steckten und sich allmählich mit Splitt füllten“.
Den Blick für Reste und menschliche Eingriffe in die Landschaft teilt die Erzählerin mit ihrem Vater. Doch was die Autorin Daisy Hildyard hier inszeniert, ist weit mehr als nur jenes etwas gutonkelig wirkende ökologische Bewusstsein, das der Vater in den 80er-Jahren zu kultivieren begann und für das er damals nicht selten belächelt wurde.
Hildyard, die 1984 in Yorkshire geboren wurde, hat die klimatischen Veränderungen unserer Zeit im Kopf. Und sie weiß, dass ein verändertes Denken und Wahrnehmen auch zu einer anderen Art von Schreiben führen muss. Einem Schreiben, das die Verknüpfungskraft der Assoziation ernst nimmt, das sich von planem Erzählen verabschiedet, ohne doch narrative Impulse aufzugeben, das sich genau mit der Wirkung von Bildern beschäftigt und vor allem der Kunst des Beobachtens nachforscht.
Man könnte es ein verwandeltes Beschreibungsbewusstsein nennen, das in dem Buch am Werk ist. Dabei spielt der Covid-Lockdown eine nicht unbedeutende Rolle. Während dieser Zeit hat Hildyard an ihrem Buch „Notstand“ gearbeitet. Und die Isolation der pandemischen Zeit hat gleich eine doppelte Auswirkung auf das Schreiben. Sie dient einerseits als Sprungbrett der Gegenwart, von dem aus die Erzählerin immer wieder in Phasen ihrer Kindheit in Yorkshire in den 90er-Jahren abtaucht.
Andererseits schärft sie das Sensorium und die Erinnerung für die Wahrnehmung kleinster Details und unscheinbarster Verbindungen. Dass sie sich in einer Ausnahmesituation befindet – auf Englisch heißt das Buch „Emergency“, also „Notfall“ –, hat Hildyard stets vor Augen. Nicht von ungefähr schreibt sie: „Normalerweise hätte ich nicht die Zeit und Geduld, das alles zu beobachten.“
Was sie schreibend entdeckt, den Blick Tag für Tag auf das Nachbarhaus gerichtet, ist zunächst einmal die soziale Position, die ihr Leben in der Kindheit bestimmte. Auch wenn ihre Mutter nur als Vertretungslehrerin arbeitete und der Vater mit seinen kurzfristigen Lehrstellen an Kollegs und Sommerschulen nicht durchkam und als Anstreicher oder Aushilfe auf Bauernhöfen jobben musste, war der familiäre Hintergrund dennoch privilegiert: „Mein weißer Körper und die Selbstsicherheit meiner Eltern ermöglichten mir ein Verhältnis zu dieser Umgebung, das irgendwo zwischen dem Gefühl meiner Zugehörigkeit zu ihr und ihrer Zugehörigkeit zu mir verlief.“
Das erinnert in seiner Verbindung von Beschreibung und Analyse bisweilen an Didier Eribon, ist aber materialgesättigter und zum Glück im Ton auch weniger eitel. Ebenso wie der französische Autor vergrößert Daisy Hildyard mit ihrem soziologischen Gespür fast beiläufig das Bewusstsein für gesellschaftliche Strukturen. Etwa den Blick dafür, dass die Vorstellung einer vermeintlichen „Normalität“ immer Normierung ist und Ausschlussmechanismen impliziert.
Überhaupt durchzieht ein Wissen um die Bedeutung von Maßstäben und Perspektiven die Sätze. Ähnlich wie Hildyard die Verpackungen von Schokoriegeln als Pflanzen und zugleich als eine künstlerische Skulptur erscheinen lassen kann, stellt sie andernorts die Wahrnehmungswelten von Menschen und nichtmenschlichen Lebewesen nebeneinander. Und sie findet keinen Grund, anzunehmen, dass die menschliche Wahrnehmung besser sei als die anderen: „Ich spürte, dass rings um mich ganz unterschiedliche zeitliche Zusammenhänge am Werk waren, die Welten mit unterschiedlichem Tempo und sonderbaren Abläufen offenbarten, denn ein Zug, ein Schmetterling, ein Maulwurf, eine Pflanze, ein Keim, ein Sprengkörper, ein Feuer, ein Kind, eine Dampfwolke – sie alle entdecken Raum auf unterschiedliche Weisen.“
Neben der Betonung kleiner Unterschiede gibt es zugleich eine große Lust, Verbindungen zu schaffen oder die Verwobenheit vieler Momente zu zeigen. Meist handelt es sich um Zusammenhänge, die nur aus unmittelbarer Nähe erfahrbar werden. Das können Kabelbündel genauso sein wie die Fäden eines Spinnennetzes oder die Geflechte von Pilzkolonien im Wald. Als bloße Illustration der Idee (und Ideologie) einer rundum vernetzten Welt wäre das nicht sonderlich originell. Doch Daisy Hildyard geht es um weit mehr. Sie entwirft die Vorstellung, vielleicht auch Utopie, einer Nähe aller Lebewesen und deren empathischen Zusammenlebens.
Vor allem aber behauptet sie diese Vorstellung nicht nur, sondern versucht sie in der Bildlichkeit und in der Form ihrer Sätze zu verwirklichen. Sie in ein anderes Sprechen zu verwandeln.
Immer wieder speist sie über Seiten hinweg hoch verschachtelte Beschreibungen von Pflanzen, Anpflanzungsarten und Wegen, von Verästelungen und Verschlingungen in die Abschnitte ihres Buches ein. Kindheitsgänge durch Felder oder über verstrauchte Waldböden werden zu veritablen Sprachgängen. Auf diese Weise schreibt sie ihren Sätzen die Verwobenheit bis in das letzte Satzglied hinein.
Das gehört zu den Stärken ihres Buches und unterscheidet es von ähnlichen Unternehmungen aus den vergangenen Jahren, Cal Flyns „Verlassene Orte“ etwa, die eher stofflich ausgerichtet sind. Hildyards Kunst der Assoziation indes bindet, manchmal auf kürzester Strecke, unterschiedliche Phänomene zusammen. Eben noch beobachtet sie ein Kiebitzweibchen, das seine Eier immer wieder in die Traktorspuren auf einer viel befahrenen Trasse legt, schon ist sie in einer Erinnerung an einen Auftritt von Michael Jackson, hüpft dann kurz zu dem Kiebitz zurück, um wenig später über „Mikro-Kolonien“ wie jene der Kleidermotten nachzudenken, die ihr in der Isolation des Lockdowns zusetzen.
Dabei gibt es durchaus übergreifende Motive. Die Geschichte der Freundin Clare etwa, die irgendwann schwer erkrankt und stirbt. Oder den örtlichen Steinbruch, der von einem kanadischen Konsortium übernommen wird, was nicht nur die Landschaft, sondern auch die Arbeitssituation vieler Menschen stark verändert. Einmal taucht die Erzählerin ihre Unterarme in einen Trog mit kaltem Wasser, ist überrascht von der Kühle – und beobachtet dann die winzigen Bläschen, die sich auf der Oberfläche der Haut bilden, „wie in einem Sprudelgetränk“. So ähnlich fühlt man sich bisweilen beim Lesen, wenn man die vielen Erzählbläschen nebeneinander sieht und mit den Augen von einem zum nächsten springt.
Esther Kinsky gelingt es in ihrer Übersetzung, sich Hildyards Satzführung geradezu idealtypisch anzuverwandeln, auch den manchmal sehr eigenwilligen Ton und die miteinander verschränkten Bildwelten: „In der Stille, die herrschte, als der Hundsfuchs verschwunden war, hörte ich die Wespen, die die Rinde vom Baum kratzten und zu ihrem grauen Gewebe verarbeiteten.“ Ein solches graues Gewebe ist auch „Notstand“ an seinen besten Stellen. Wahrnehmungsgenau und in seinen assoziativen Verschlingungen kunstvoll gearbeitet. Manchmal versteigt sich Hildyard zu einem raunenden Kommentar. Manchmal wundert man sich auch darüber, dass sie ihre Sätze an ein Ich bindet, das zwar in seiner Durchlässigkeit gezeigt wird, als Erzählstimme aber ungebrochen bleibt. Doch das schmälert nicht die Kraft dieses Buches, das unsere Gegenwart reflektiert, indem es mit der Sprache Kindheitswelten durchwandert. Das über Zeitverläufe und Zeitbewusstsein nachdenkt. Und das zeigt, wie eng Schönheit und Grausamkeit zuweilen verbunden sein können.
Schönheit und
Grausamkeit können eng
verflochten sein
Daisy Hildyard: Notstand. Aus dem Englischen von Esther Kinsky. Suhrkamp Verlag, Berlin 2024.
238 Seiten, 25 Euro.
Hoch verschachtelte Beschreibungen von Pflanzen und Verästelungen: Die britische Schriftstellerin Daisy Hildyard.
Foto: Caleb Klaces
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zur Welt gehört
Nature-Writing in Zeiten des Klimawandels: Die
britische Autorin Daisy Hildyard erzählt in
„Notstand“, wie alles mit allem zusammenhängt.
VON NICO BLEUTGE
Wenn der Vater der Erzählerin Pilze sammeln geht, nimmt er auch seinen Gärtnerhandschuh mit, ein klobiges ockerfarbenes Exemplar, das an den Fingerspitzen schwarz vor Öl ist – und dazu einen Plastikbeutel. Auf dem Weg zurück nach Hause räumt er den Müll weg. Am Straßenrand sind vom Winter Haufen aus Sand und Streukies geblieben, darin finden sich nicht nur Blätter, der Abfall wirkt wie eingewachsen in die Haufen, „als sprössen Verpackungen von Schokoriegeln wie hässliche Pflanzen aus ihnen, alles Bunte und die Beschriftung war abgewaschen, zurückgeblieben waren silbrige Streifen, die nur noch in den tiefsten Knicken die ursprünglichen Farben bewahrten, während Plastikflaschen und Aluminiumdosen in den Haufen steckten und sich allmählich mit Splitt füllten“.
Den Blick für Reste und menschliche Eingriffe in die Landschaft teilt die Erzählerin mit ihrem Vater. Doch was die Autorin Daisy Hildyard hier inszeniert, ist weit mehr als nur jenes etwas gutonkelig wirkende ökologische Bewusstsein, das der Vater in den 80er-Jahren zu kultivieren begann und für das er damals nicht selten belächelt wurde.
Hildyard, die 1984 in Yorkshire geboren wurde, hat die klimatischen Veränderungen unserer Zeit im Kopf. Und sie weiß, dass ein verändertes Denken und Wahrnehmen auch zu einer anderen Art von Schreiben führen muss. Einem Schreiben, das die Verknüpfungskraft der Assoziation ernst nimmt, das sich von planem Erzählen verabschiedet, ohne doch narrative Impulse aufzugeben, das sich genau mit der Wirkung von Bildern beschäftigt und vor allem der Kunst des Beobachtens nachforscht.
Man könnte es ein verwandeltes Beschreibungsbewusstsein nennen, das in dem Buch am Werk ist. Dabei spielt der Covid-Lockdown eine nicht unbedeutende Rolle. Während dieser Zeit hat Hildyard an ihrem Buch „Notstand“ gearbeitet. Und die Isolation der pandemischen Zeit hat gleich eine doppelte Auswirkung auf das Schreiben. Sie dient einerseits als Sprungbrett der Gegenwart, von dem aus die Erzählerin immer wieder in Phasen ihrer Kindheit in Yorkshire in den 90er-Jahren abtaucht.
Andererseits schärft sie das Sensorium und die Erinnerung für die Wahrnehmung kleinster Details und unscheinbarster Verbindungen. Dass sie sich in einer Ausnahmesituation befindet – auf Englisch heißt das Buch „Emergency“, also „Notfall“ –, hat Hildyard stets vor Augen. Nicht von ungefähr schreibt sie: „Normalerweise hätte ich nicht die Zeit und Geduld, das alles zu beobachten.“
Was sie schreibend entdeckt, den Blick Tag für Tag auf das Nachbarhaus gerichtet, ist zunächst einmal die soziale Position, die ihr Leben in der Kindheit bestimmte. Auch wenn ihre Mutter nur als Vertretungslehrerin arbeitete und der Vater mit seinen kurzfristigen Lehrstellen an Kollegs und Sommerschulen nicht durchkam und als Anstreicher oder Aushilfe auf Bauernhöfen jobben musste, war der familiäre Hintergrund dennoch privilegiert: „Mein weißer Körper und die Selbstsicherheit meiner Eltern ermöglichten mir ein Verhältnis zu dieser Umgebung, das irgendwo zwischen dem Gefühl meiner Zugehörigkeit zu ihr und ihrer Zugehörigkeit zu mir verlief.“
Das erinnert in seiner Verbindung von Beschreibung und Analyse bisweilen an Didier Eribon, ist aber materialgesättigter und zum Glück im Ton auch weniger eitel. Ebenso wie der französische Autor vergrößert Daisy Hildyard mit ihrem soziologischen Gespür fast beiläufig das Bewusstsein für gesellschaftliche Strukturen. Etwa den Blick dafür, dass die Vorstellung einer vermeintlichen „Normalität“ immer Normierung ist und Ausschlussmechanismen impliziert.
Überhaupt durchzieht ein Wissen um die Bedeutung von Maßstäben und Perspektiven die Sätze. Ähnlich wie Hildyard die Verpackungen von Schokoriegeln als Pflanzen und zugleich als eine künstlerische Skulptur erscheinen lassen kann, stellt sie andernorts die Wahrnehmungswelten von Menschen und nichtmenschlichen Lebewesen nebeneinander. Und sie findet keinen Grund, anzunehmen, dass die menschliche Wahrnehmung besser sei als die anderen: „Ich spürte, dass rings um mich ganz unterschiedliche zeitliche Zusammenhänge am Werk waren, die Welten mit unterschiedlichem Tempo und sonderbaren Abläufen offenbarten, denn ein Zug, ein Schmetterling, ein Maulwurf, eine Pflanze, ein Keim, ein Sprengkörper, ein Feuer, ein Kind, eine Dampfwolke – sie alle entdecken Raum auf unterschiedliche Weisen.“
Neben der Betonung kleiner Unterschiede gibt es zugleich eine große Lust, Verbindungen zu schaffen oder die Verwobenheit vieler Momente zu zeigen. Meist handelt es sich um Zusammenhänge, die nur aus unmittelbarer Nähe erfahrbar werden. Das können Kabelbündel genauso sein wie die Fäden eines Spinnennetzes oder die Geflechte von Pilzkolonien im Wald. Als bloße Illustration der Idee (und Ideologie) einer rundum vernetzten Welt wäre das nicht sonderlich originell. Doch Daisy Hildyard geht es um weit mehr. Sie entwirft die Vorstellung, vielleicht auch Utopie, einer Nähe aller Lebewesen und deren empathischen Zusammenlebens.
Vor allem aber behauptet sie diese Vorstellung nicht nur, sondern versucht sie in der Bildlichkeit und in der Form ihrer Sätze zu verwirklichen. Sie in ein anderes Sprechen zu verwandeln.
Immer wieder speist sie über Seiten hinweg hoch verschachtelte Beschreibungen von Pflanzen, Anpflanzungsarten und Wegen, von Verästelungen und Verschlingungen in die Abschnitte ihres Buches ein. Kindheitsgänge durch Felder oder über verstrauchte Waldböden werden zu veritablen Sprachgängen. Auf diese Weise schreibt sie ihren Sätzen die Verwobenheit bis in das letzte Satzglied hinein.
Das gehört zu den Stärken ihres Buches und unterscheidet es von ähnlichen Unternehmungen aus den vergangenen Jahren, Cal Flyns „Verlassene Orte“ etwa, die eher stofflich ausgerichtet sind. Hildyards Kunst der Assoziation indes bindet, manchmal auf kürzester Strecke, unterschiedliche Phänomene zusammen. Eben noch beobachtet sie ein Kiebitzweibchen, das seine Eier immer wieder in die Traktorspuren auf einer viel befahrenen Trasse legt, schon ist sie in einer Erinnerung an einen Auftritt von Michael Jackson, hüpft dann kurz zu dem Kiebitz zurück, um wenig später über „Mikro-Kolonien“ wie jene der Kleidermotten nachzudenken, die ihr in der Isolation des Lockdowns zusetzen.
Dabei gibt es durchaus übergreifende Motive. Die Geschichte der Freundin Clare etwa, die irgendwann schwer erkrankt und stirbt. Oder den örtlichen Steinbruch, der von einem kanadischen Konsortium übernommen wird, was nicht nur die Landschaft, sondern auch die Arbeitssituation vieler Menschen stark verändert. Einmal taucht die Erzählerin ihre Unterarme in einen Trog mit kaltem Wasser, ist überrascht von der Kühle – und beobachtet dann die winzigen Bläschen, die sich auf der Oberfläche der Haut bilden, „wie in einem Sprudelgetränk“. So ähnlich fühlt man sich bisweilen beim Lesen, wenn man die vielen Erzählbläschen nebeneinander sieht und mit den Augen von einem zum nächsten springt.
Esther Kinsky gelingt es in ihrer Übersetzung, sich Hildyards Satzführung geradezu idealtypisch anzuverwandeln, auch den manchmal sehr eigenwilligen Ton und die miteinander verschränkten Bildwelten: „In der Stille, die herrschte, als der Hundsfuchs verschwunden war, hörte ich die Wespen, die die Rinde vom Baum kratzten und zu ihrem grauen Gewebe verarbeiteten.“ Ein solches graues Gewebe ist auch „Notstand“ an seinen besten Stellen. Wahrnehmungsgenau und in seinen assoziativen Verschlingungen kunstvoll gearbeitet. Manchmal versteigt sich Hildyard zu einem raunenden Kommentar. Manchmal wundert man sich auch darüber, dass sie ihre Sätze an ein Ich bindet, das zwar in seiner Durchlässigkeit gezeigt wird, als Erzählstimme aber ungebrochen bleibt. Doch das schmälert nicht die Kraft dieses Buches, das unsere Gegenwart reflektiert, indem es mit der Sprache Kindheitswelten durchwandert. Das über Zeitverläufe und Zeitbewusstsein nachdenkt. Und das zeigt, wie eng Schönheit und Grausamkeit zuweilen verbunden sein können.
Schönheit und
Grausamkeit können eng
verflochten sein
Daisy Hildyard: Notstand. Aus dem Englischen von Esther Kinsky. Suhrkamp Verlag, Berlin 2024.
238 Seiten, 25 Euro.
Hoch verschachtelte Beschreibungen von Pflanzen und Verästelungen: Die britische Schriftstellerin Daisy Hildyard.
Foto: Caleb Klaces
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Rezensentin Sylvia Staude zeigt sich sehr beeindruckt von Daisy Hildyards neuem Roman. Darin lässt die britische Autorin die Leserin ins Yorkshire der 1990er Jahre eintauchen. Alltägliche Ereignisse - wie die Stilllegung eines Steinbruchs und damit verbundene Jobverluste, die Krankheit einer Schulkameradin - werden, so Staude, ruhig erzählt. Dabei spielt laut der Rezensentin immer das Verhältnis von Mensch und Umwelt eine Rolle, und Hildyard, aus der Ich-Perspektive eines jungen Mädchens erzählend, zoomt nah an die umgebende Natur heran. Staude lobt besonders, wie dabei die Aufmerksamkeit auf das ,Kleine' - eine Feldmaus, Moose, eine auf einen Stein kletternde Kröte - gelenkt wird. Der titelgebende Notstand ist, so die Rezensentin, im unaufgeregten, doch steten Bewusstsein der Klimakrise präsent. Ein von Esther Kinsky brillant übersetzter Roman, den Staude nur empfehlen kann.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Daisy Hildyard erzählt in ihrem Roman Notstand grandios vom Menschen und seinem Umgang mit der Natur.« Sylvia Staude Frankfurter Rundschau 20240821