Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, BG, CY, CZ, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, H, IRL, I, LT, L, LR, M, NL, PL, P, R, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Im Schleudergang: Gine Cornelia Pedersens Roman "Null" handelt von einer jugendlichen Identitätssuche
Dass Heranwachsende um sich selbst kreisen - geschenkt. Aber so stark wie in Gine Cornelia Pedersens Roman "Null", der von der verzweifelten Identitätssuche einer jungen Norwegerin erzählt, wird die Ich-Fixierung literarisch selten herausgestellt: Viele von Pedersens Sätzen (gefühlt sind es alle) beginnen mit einem "Ich", und weil diese Sätze auch noch verknappt zu Papier gebracht wurden, ohne Punkte, nur durch Absatzhaken getrennt, wirken die Anaphern noch viel stärker.
"Ich bin zehn Jahre alt / Ich absorbiere alles / Ich habe keine Filter." Das ist der Anfang, und im selben Schema geht es Zeile um Zeile weiter. Noch Seiten später heißt es: "Ich werde wütend / Ich werde die ganze Zeit wütend / Ich verstehe absolut gar nichts." Oder auch: "Ich ritze mir die Arme auf / Ich bin jetzt das klassische Beispiel eines frustrierten, unterdrückten Teenagers / Ich weine, wenn ich dicht bin / Die ganze Zeit / Kotze / Und weine / Und mache mit allen rum, die Lust haben." Ein Buch wie ein langes Gedicht, heruntergehämmert mit viel Energie und ausgesprochen derbem, ordinärem Vokabular.
Der Verlag spricht von einer "lebensbejahenden und poetisch-explosiven Tirade darüber, verletzlich zu sein, froh, verzweifelt, grenzenlos und voller Hoffnung". Das bereitet nicht annähernd auf diesen Schleudergang vor. "Null" handelt von einer psychischen Krankheit, die mit traumatischen Erlebnissen und Verhaltensauffälligkeiten als kleines Mädchen sowie einer Fülle depressiver Gedanken als Jugendliche beginnt. Die namenlose Protagonistin - kein Name, keine Identität - verrennt sich unter anderem in die Vorstellung, kein "wirkliches Talent" zu haben, "das meine Existenz irgendwie rechtfertigen kann", "keinen Wesenskern" zu besitzen, immer nur "von dem der anderen" zu leben. Sie ist innerlich leer, hadert mit ihrem Körper.
Und sie leidet unter der Trennung der Eltern. Das "Scheißdorf", in dem sie mit ihrer Mutter und deren neuem Freund lebt, würde sie am liebsten "abfackeln", "mit allen drin", "also die Familie generell bleibt verschont, aber alle anderen können einfach sterben". Sie fühlt sich als Verliererin und wird auch zunehmend zu einer, trinkt und kifft, verliebt sich in einen älteren Kerl, der sie beinahe umbringt, und anschließend in einen Freund aus der Kindheit: "Habe ihm Küssen und Ficken beigebracht."
Als die junge Frau das Martyrium Schule hinter sich hat und vom Land gen Oslo zieht - "Oslo ist Hoffnung" -, wird ihr mentaler Zustand noch desolater. Die verschiedenen Jobs, die sie ausprobiert, wirft sie verächtlich hin. Sie bekommt Tabletten und besucht eine Sozialarbeiterin, "die ein paar Kurse in kognitiver Gesprächstherapie belegt hat". Sie schreit Passanten an, weil sie sich angestarrt fühlt und "Leute wie sie die Welt kaputtmachen", entwickelt Zwangsvorstellungen und ohrfeigt den Premierminister, wie nebenher. Die Zwanzigjährige kommt in eine Nervenklinik. Von der ersten in eine zweite. Nur ihre Mutter "versteht, dass es ihr einfach zu viel ist, am Leben zu sein".
Nach vielen Monaten erzielen die Ärzte einen Erfolg. Aber zu welchem Preis: Das mit Medikamenten beruhigte Ich kann nichts mehr fühlen, es hat "keine Gedanken im Kopf / Keine Gedanken / Null". Dass das kein Zustand sein kann, versteht sich nach der Entlassung von selbst.
Die Erzählerin setzt die Tabletten ab - und wird zur "Bombe", die nur durch eine überstürzte Hochzeit mit einem Mann namens Rot unter Kontrolle gehalten wird und eher früher als später detonieren muss: "Ich will keine Hilfe / Ich bin gern am Boden / Ich ertrinke in meinem Egoismus. / Das ist wundervoll." Wieder kommt sie in eine Klinik. Aber auch zu einer Therapeutin, die einen Draht zu ihr findet. Und nach Peru, mit viel Kokain und hartem Sex und Gewalt.
Die Südamerikareise gerät zum katastrophalen, teils nur mit einzelnen Wörtern geschilderten Höhepunkt des Romans: Extremer geht nicht. Dann ein Schlussbild, von dem man ähnlich wie bei einzelnen Passagen der Reise nicht weiß, ob es Wirklichkeit oder Wahn ist: die Protagonistin im Scheinwerferlicht einer Bühne. Sie träumt seit der Kindheit vom Schauspielberuf - was sich ja anbietet, weil er Identitäten frei Haus liefert und auch die ersehnte Aufmerksamkeit garantiert. Sogar eine Aufnahmeprüfung hat sie versucht. Aber hier spielt sie nun "eine zerbrochene Violine". Und wir merken: Es ist ein Traumbild, ein letztes Stück Hoffnung, sie ist nicht gesund. Die junge Frau ist, wie auch die Kapitelüberschrift unterstreicht, bloß wieder bei "Null".
Der formale Reiz des Buches hätte nicht eine Seite länger gehalten. Aber das passt und trifft einen Nerv, und wenn man sich danach fragt, warum das abseits der energievollen, durchaus gewitzten Sprache so ist, weshalb einen "Null" also mit seiner krassen Ich-Zentrierung und seinem ebenso sprunghaft wie unreflektiert vermittelten Dauerkrisenzustand derart anfasst, kreist der Versuch einer Antwort um das Generationenporträt, das dieser Roman womöglich abgibt - das Zeitgefühl, das er auffängt.
Vermutlich liegt die Begeisterung, mit der man dieses drastische Coming-of-Age-Drama verschlingt, aber auch einfach an der Aufmerksamkeit, die durch die fiktive Geschichte auf die vielen Heranwachsenden gelenkt wird, die tatsächlich (wenn auch nicht immer mit Folgen wie hier) psychologische Probleme haben und helfende Hände gebrauchen könnten: "Alles, worauf ich warte, ist Abendessen, und Schule / SCHULE / Ich bin mir selbst überlassen worden", schreibt die Protagonistin einmal. Es ist einer der Punkte, an dem ein Leben von Reset zu Reset vielleicht noch abwendbar gewesen wäre.
In Norwegen, wo Innerlichkeit literarisch hoch im Kurs steht, bekam Gine Cornelia Pedersen für "Null" den Tarjej-Vesaas-Debütantenpreis des Jahres 2014. Damals war sie noch Studentin an der Theaterhochschule in Oslo. Seither hat sie zwei weitere Romane geschrieben und in zahlreichen Fernsehserien wie "Young and Promising", einer Serie über drei junge Frauen in Oslo, gespielt. MATTHIAS HANNEMANN
Gine Cornelia Pedersen: "Null". Roman.
Aus dem Norwegischen von Andreas Donat.
Luftschacht Verlag, Wien 2021. 192 S., geb., 20,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main