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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Ein Land im Umbruch, dessen Menschen das, was ihnen wichtig ist, in sich begraben: Die Romane von Lavinia Braniste und Florin Lazarescu erzählen vom heutigen Rumänien als Kältekammer.
Was bleibt nach den deutschen Buchmessen von der aus diesem Anlass übersetzten Literatur der jeweiligen Gastländer? Bisweilen regelrechte Trends, wie es etwa im Falle Islands der Fall war und sich bereits jetzt für die georgische Literatur abzeichnet (die ja erst im kommenden Herbst in Frankfurt ihren großen Auftritt haben wird). Bisweilen bleibt aber auch so gut wie gar nichts, so etwa im Falle Indonesiens, als die ohnehin spärlichen Übersetzungen meist erst nach dem Messetermin erschienen. Oder es handelt sich um Literaturen, die ohnehin schon viele Leser im deutschen Sprachraum haben wie die französische oder englischsprachige. Und dann gibt es jene, deren Erfolg (wenn überhaupt) schleichend einsetzt. So verhält es sich offensichtlich im Fall der rumänischen Literatur.
Rumänien war im vergangenen März Gastland der Leipziger Buchmesse, und aus diesem Anlass erschienen in diesem Frühjahr rund vierzig belletristische Übersetzungen - eine überschaubare Größe und eine ausgewogene Gruppe, denn der literarische Star Rumäniens, Mircea Catarescu, hatte gerade kein neu übersetztes Buch am Start. Trotzdem fanden die Publikationen kein breites Echo. Dabei gibt es darunter veritable Entdeckungen.
Eine stammt von Florin Lazarescu, einem vierundvierzigjährigen Autor, der bei uns als Drehbuchverfasser für die Filme seines Landsmannes Radu Jude bekannter ist denn als Schriftsteller. Mit "Seelenstarre" ist nun der vorletzte seiner bislang sechs Romane auf Deutsch erschienen, beim österreichischen Wieser Verlag, der seit Jahrzehnten ein sicheres Gespür für südosteuropäische Literatur beweist. Lazarescu stammt aus der Umgebung von Iasi, einer Stadt mit großer literarischer Bedeutung für Rumänien, in der er selbst ein fünftägiges Literaturfestival begründet hat, das Jahr für Jahr um die 150 Veranstaltungen auf die Beine stellt. Als Mitarbeiter beim Bukarester Verlagshaus Polirom, bei dem auch seine letzten vier Romane erschienen sind, hat Lazarescu nach eigener Einschätzung gelernt, "dass es in meinem Metier nicht um gute Bücher geht, sondern um gute Öffentlichkeitsarbeit". Das hat ihn nicht gehindert, mit "Seelenstarre" große Literatur zu verfassen.
Es handelt sich um ein städtisches Nocturne mit drei Protagonisten: Jewgeni, ein junger Schriftsteller, der sich mehr schlecht als recht als Antiquar durchschlägt, Casimir, ein erfolgreicher, aber dennoch mit dem Leben unzufriedener Kollege, und Valeria Stoican, Jewgenis Vermieterin, die trotz ihres sprechenden Namens in großer Furcht sowohl vor einer Alzheimer-Erkrankung als auch vor dem Verlust ihres Hauses an einen mutmaßlichen Alteigentümer lebt. In den Dialogen zwischen Casimir und Jewgeni herrscht ein geradezu Beckettscher Ton - "Merke dir Folgendes: Es gibt keinen Sinn. Es gibt keinen Gott. Darüber musst du schreiben. Ich werde das Schreiben wahrscheinlich aufgeben" (Casimir) -, während Valeria vor allem in inneren Monologen zu Wort kommt, die aber in der dritten Person gehalten sind. Es ist ein großartiges Frauenporträt, gerade weil es so bedrückend ist. Aber weder Jewgeni noch Frau Stoican lassen sich von ihren Lebensumständen und der rumänischen Gegenwart unterkriegen. Sie finden ihre eigenen Erklärungen für die Tristesse, und eine davon gibt dem Buch den Titel: Als Jewgeni nach Panikattacken bei Ärzten, in Büchern und im Internet nach Erklärungen für seine Zustände sucht, "konnte er sich kein einziges Mal mit den beschriebenen Symptomen vollständig identifizieren. Und da er mit einem namenlosen Leid nicht leben konnte, erfand er einen Namen dafür: Seelenstarre." Damit erfindet er das Äquivalent zu einer Katastrophe im geschäftlichen Bereich, als durch einen Rohrbruch bei nächtlicher Kälte Jewgenis Bücherlager im Keller des Stoicanschen Hauses zu einem Eisberg gefriert. Im doppelten Erstarren der Kultur und des Menschen hat Lazarescu ein bezwingend absurdes Bild für sein Heimatland gefunden.
Auch der Roman "Null Komma Irgendwas" seiner um neun Jahre jüngeren Kollegin Lavinia Braniste lebt von einem Kältephänomen. Hier ist es jedoch die Erzählweise, die frösteln macht: aus der Ich-Perspektive der jungen Angestellten Cristina, deren Mutter längst das Land verlassen hat und im Hitzeparadies Spanien arbeitet, während die Tochter nicht genug Feuer entwickelt, um mit dem Leben warm zu werden. Sie bewundert ihre Chefin und deren Mann dafür, dass sie "Macht und Stärke ausstrahlen", wenn sie ihre Immobilienentwicklungsgeschäfte mit allen Mitteln vorantreiben. Cristina dagegen nimmt beruflich wie privat eine subalterne Position ein: Mit ihrem ehemaligen Lebensgefährten aus dem Studium führt sie auch jetzt noch sporadisch eine Fernbeziehung, die nur nach seinen Launen fortgesetzt wird, und die kurzfristige Affäre mit einem egoistischen Erfolgsmenschen sorgt dafür, dass sie schließlich schwanger zurückbleibt, ohne zu wissen, wer der Vater ihres Kindes ist.
Aus der Untersicht dieser durchaus gebildeten, aber hilflosen Erzählerin zeichnet Lavinia Braniste ein gnadenloses Porträt von Bukarest als Hauptstadt eines Landes, das dem Gros seiner Bevölkerung nichts zu bieten hat, weil es dem an der nötigen Skrupellosigkeit fehlt. Die Unselbständigkeit Cristinas entsteht aus der Unfähigkeit, mit den multiplen Herausforderungen einer Gesellschaft im radikalen Umbruch zurechtzukommen: "Wenn ich könnte, würde ich auf dem Boden des Ozeans wohnen, in ewiger Finsternis, wie ein grässliches Tier, mit dem die Evolution Scherze getrieben hat, um keine Meinungen zu hören." Diese Selbstbetrachtung in einem der wiederholten Momente von Verblüffung über die Rücksichtslosigkeit anderer knüpft an ein früheres Eingeständnis Cristinas an: "Alles, was ich unversehrt behalten möchte, muss ich tief in mir begraben." Deshalb sind ihr extrovertierte Menschen suspekt.
Die Protagonisten bei Braniste und Lazarescu weisen verblüffende charakterliche Parallelen auf, doch "Null Komma Irgendwas" fehlt der absurde Humor von "Seelenstarre", der das Geschehen um Jewgeni erträglich macht. Branistes Cristina ist trotzdem seit dem Erscheinen des Romans in Rumänien vor zwei Jahren, in einer gesellschaftlich aufgeheizten Zeit, vielfältig gedeutet worden - so unterschiedlich, dass die Verfasserin, wie sie erzählt, "selbst Zweifel über meine Absichten bekam. Waren sie feministisch? Politisch? Nein, mich interessierte nur die Geschichte." Dieses Interesse ist in der Intensität ihres Schreibens spürbar. Es sind, um mit Helmut Lethen zu reden, Verhaltenslehren der Kälte, die Cristinas Curriculum in diesem Buch bilden. Einen Bildungsroman gibt das gerade nicht. Aber einen, dessen Bilder man nicht wieder vergisst.
ANDREAS PLATTHAUS
Lavinia Braniste: "Null Komma Irgendwas". Roman.
Aus dem Rumänischen von Manuela Klenke. Mikrotext Verlag, Berlin 2018. 281 S., geb., 21,99 [Euro].
Florin Lazarescu: "Seelenstarre". Roman.
Aus dem Rumänischen von Jan Cornelius. Wieser Verlag, Klagenfurt 2018. 232 S., geb., 21,- [Euro].
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