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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Reden über Gott und die Welt - das ist gar nicht so einfach. Karl-Heinz Ott hat einen Heimatroman und Krimi geschrieben, der erste und letzte Fragen so elegant wie abgründig löst.
Von Edo Reents
Welchen Nutzen haben vergleichende Bibelstudien? Man lernt, wenn man Wittgenstein zu anstrengend findet, "dass alles nur eine Frage der Sprache" ist. Der Philosoph hatte ja nur von sich gesprochen, als er behauptete: "Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt." Aber vielleicht war seine Sprache einfach zu beschränkt, und eine andere hätte die Grenze der Welt weiter hinaus schieben oder gar aufheben können? Wer Letzteres annimmt, ist schon mitten in der Theologie. Zwar will das Neue Testament wissen, dass im Anfang das Wort war; aber der Glaube an eine Wahrheit, die sich anders als sprachlich offenbart, lässt sich deswegen noch nicht preisgeben.
Das also nutzen vergleichende Bibelstudien: Sie lehren, dass alles nur eine Frage der Sprache ist. Ein Pfarrer weiß das. Und Pfarrer Johannes spricht da aus Erfahrung: "Mit Worten könne man Prozesse gewinnen, Prozesse verlieren, Prozesse verhindern, dozierte er daher, was bei einem, der freigesprochen wurde, ungute Gedanken aufkommen lassen kann, als sei auch Unschuld nur eine Frage der Sprache." Johannes hat einen Prozess wegen Kindesmissbrauchs vor sieben Jahren zwar gewonnen; aber was hilft ihm das, wenn seine Sprachkritik ihm die Tatsache, dass er heil aus der Sache herausgekommen ist, ebenfalls im Zwielicht erscheinen lässt? Ein anderer Name dafür ist Ambivalenz: Man kann es drehen und wenden, wie man will. In der Musik spricht man von enharmonischer Verwechslung: Jede Note ist erhöht oder erniedrigt, wie man will.
Es verwundert nicht, dass ein auch musikalisch mit allen Weihwassern gewaschener Schriftsteller wie Karl-Heinz Ott mit diesem Sachverhalt etwas anfangen kann, das die sprachkritischen Erwägungen etwa seines südbadischen Kollegen Martin Walser an Subtilität weit übertrifft. Zwar siedelt sein dritter Roman "Ob wir wollen oder nicht" stofflich und personell im Bermudadreieck der ewigen, dabei aber natürlich sehr unterschiedlichen Schwadroneure Thomas Bernhard, Eckhard Henscheid, Andreas Maier; im Grunde ist er aber, an der Schnittstelle zwischen Philosophie, Theologie und Musik, ein Anverwandter von Thomas Manns "Doktor Faustus" und setzt wie dieser die Ambivalenz als menschliche Grundempfindung ins Werk.
Dieser Befund mag überraschen angesichts eines Zweihundert-Seiten-Romans, der auf nationalpsychologische Repräsentanz keinen Anspruch erhebt und auch eines mythischen Einschlages weitgehend entbehrt. Aber Ott hat einen Kriminal- und Heimatroman geschrieben, dessen Welthaltigkeit imponiert. Das ist womöglich eine Folge des literarischen Verfahrens: Der Held Richard T., ein Tankstellenpächter, erzählt die ganze, sich eigentlich nur auf zwei Tage im Südschwarzwald erstreckende Handlung in Form eines inneren Monologs, der nur sehr gelegentlich von Dialogen unterbrochen wird, die dann allerdings umso größere Prägnanz haben. Die entscheidende Vorgeschichte bildet der Pädophilenprozess gegen den Pfarrer Johannes, der mit Richard eine Freundschaft unterhielt, die auf alltäglichen Besorgungen und Gesprächen buchstäblich über Gott und die Welt fußte, aber nichts dazwischen kannte.
Der Roman setzt dann damit ein, dass Richard im Gefängnis sitzt, zunächst, wie er glaubt, nur für eine Nacht, aber das ist für ihn, der sich unschuldig wähnt, Strafe genug. In einer bis in die feinsten Bewusstseinswinkel vordringenden, so schmerzlichen wie komischen Selbstbefragung rekonstruiert er, wie es dazu gekommen sein könnte: Ihm wird unterlassene Hilfeleistung bei einer Gewalttat vorgeworfen, die Johannes und dessen Geliebte, die Wirtin Lisa, die einmal seine eigene Freundin war, gemeinsam begangen haben - an der Mutter der Kinder, die vor sieben Jahren von Johannes (möglicherweise) missbraucht wurden. Diese konnte sich mit dem Freispruch offenbar nicht abfinden, überlebt aber, wie sich später herausstellt, die schwere Misshandlung durch Johannes und Lisa, die sich daraufhin aus dem Staub machen und den nun doppelt düpierten Richard zurücklassen, den eine Zeugenaussage in Untersuchungshaft bringt.
Tankstellenpächter, Pfarrer, Wirtin - man kennt solche Arrangements von Bernhard, Henscheid und Maier. Anders als diesen geht es Ott aber nicht um nationale/regionale Ehrabschneidereien, die Macht des Geschwätzes oder den höheren Blödsinn der Satire. Er malt ein Spektrum von Schuldfragen, aus dem das Grau als leuchtendste Farbe heraussticht. Denn es ist, wie Richard sich vom Pfarrer in alkoholisierten Kolloquien eintrichtern lässt, alles eine Frage der Sprache, "schließlich hatte Johannes eines Tages behauptet, es sei bei seiner Gerichtsverhandlung, wie bei allen anderen auch, um nichts als Worte gegangen, was beinahe so klang, als besitze das, was wirklich passiert ist, nicht die geringste Bedeutung".
Was aber ist wirklich passiert? Und: Was ist Wahrheit? Zwischen die unablässigen Rekonstruktionen des bis zuletzt im Vagen bleibenden Geschehens schiebt sich eine Vergangenheitsbewältigung von beachtlicher selbstkritischer Schärfe. Das an die Zellenwand geschmierte und mit zehn Ausrufungszeichen versehene Venceremos setzt bei Richard T. eine Selbstbefragung in Gang, die ihn als verkrachte Existenz ausweist und sich um Grunde auf eine ganze Generation von gleichermaßen friedensbewegt-gesellschaftskritischen wie hedonistischen jungen Leuten bezieht. Ohne Sentimentalität rechnet hier wohl auch Ott selber, Jahrgang 1957, mit verlorenen Illusionen und Utopien ab.
Matt leuchten die damals schon öden WG-Tage in einem Bahnwärterhäuschen noch einmal auf, in dem Richard seine besten Jahre verdämmert hat und in das später der Pfarrer Johannes einzog, der nach dem eigentlich so günstigen Gerichtsurteil zum Eremiten wurde, dem nur noch die Bibeln blieben. Das Studium vor der Zeit abgebrochen; die einstmals so einträgliche Tankstelle heruntergewirtschaftet, nachdem ein Brückenbau den Ort vollends von der Außenwelt isoliert hat; alle Gelegenheiten, bei denen das Leben noch eine Wende zum Besseren hätte nehmen können, verpasst: Richard steht vor einem Scherbenhaufen, bleibt aber bis zuletzt ehrlich zu sich selbst. Etwas anderes hätte auch keinen Sinn, wo es am Ende die Sprache ist, die Tatsachen schafft: Tun oder unterlassen, lügen oder verschweigen - das sind genuin theologische Fragen.
Doch die Grenzen dazwischen sind fließend, wenn man um die Macht von Relativierungen weiß und die Sub- und Konjunktionen, das "obwohl", "weil" und "zumal" nur richtig einzusetzen weiß wie Ott in diesem ganz und gar meisterhaften, abgründig spekulativen Roman, der dem von der Literaturkritik so gern bemühten Begriff des Solipsismus neue Dimensionen verleiht. Worüber man nicht reden kann, darüber sollte man schweigen? Ott widerlegt Wittgensteins abgegriffene Behauptung, indem er die Unausweichlichkeit, die sein Romantitel vermittelt, mit einem wortmusikalischen Zauber elegant aufhebt.
Karl-Heinz Ott: "Ob wir wollen oder nicht". Roman. Hoffmann und Campe, Hamburg 2008. 206 S., geb., 17,95 [Euro].
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