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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Gala Magazin
Franziska Gerstenberg erzählt von den Entfremdungen in Krisenzeiten
Auf Partnerschaft und Familie lasten heute enorme Glückserwartungen, sodass Enttäuschungen beinahe programmiert sind. Die Verliebtheitsphase klappt bei den meisten Paaren noch ganz gut, aber spätestens mit Kindern wird oftmals der Unterschied zwischen erträumtem perfektem Glück und grauem Alltag unübersehbar. Warum ist das so? Bei Simon und Charlotte beginnt auch alles schön und romantisch, aber vielleicht ist ja schon diese übertriebene Romantik ein schlechter Heiratsgrund. Denn eigentlich passen die beiden nicht zusammen. Simon, unkompliziert und mit viel Lust aufs Leben, möchte ein freies Künstlerdasein als Schauspieler führen. Charlotte, etwas verloren und unsicher, will eine Familie gründen, mit einem Seelenverwandten als Partner.
Beim Thema Kinder werden die Gegensätze früh deutlich: Simon will keine, Charlotte deren vier, "damit immer zwei und zwei zusammenspielen können", lautet die etwas dürftige Begründung. Charlotte setzt dann die Fakten und heimlich die Pille ab. Als sie schwanger wird, kommen ungefähr gleichzeitig ihre Eltern bei einem Autounfall ums Leben. Simon zieht dann mehr aus Mitleid und Verpflichtung denn aus tieferer Überzeugung mit nach Dresden ins geräumige Elternhaus von Charlotte.
Wenig später wird die Tochter Greta geboren, gefolgt von Sohn Karl. Greta entwickelt eine enge Bindung an ihren Vater, während Karl zum Muttersöhnchen heranwächst. Zur bereits bestehenden Vertrauenskrise der Eltern kommt also noch ein weiterer innerfamiliärer Riss. Das ungleiche Paar streitet zwar viel, kann aber nicht miteinander reden. Ängste und überfrachtete Erwartungen an sich selbst und den Partner bleiben unausgesprochen. Nur Greta und Karl bekommen es regelmäßig zu spüren.
Der Leser folgt dem langsamen Abgleiten in die Desillusionierung aus vier Perspektiven: denen der Eltern und denen beider Kinder, weshalb sich die melancholische Stimmung des Romans gleichsam vervierfacht. Der Roman beobachtet seine Figuren über zwei Jahrzehnte hinweg. Das erlaubt der Autorin Zeitsprünge und Themenwechsel, die sie souverän vollzieht. Nie wird dadurch der Erzählfluss unterbrochen. Wie schon in früheren Erzählungen variiert Franziska Gerstenberg auch hier die alltägliche Tristesse einer deutschen Mittelschichtsfamilie, wobei sie die emotionalen Defizite ihrer Figuren und deren Scheitern hell ausleuchtet. Ihr feinnerviger psychologischer Blick gehört zu den großen Stärken des Romans, macht ihn spannend und hilft ihm auch über manche überkonstruierte Schwäche hinweg.
So entscheiden sich Simon und Charlotte schließlich zur Trennung, bleiben aber aus Geldmangel im selben Haus wohnen. Die Zimmer werden aufgeteilt, die Möbel und die Kinder. Greta und Karl nehmen es zuerst als Spaß auf und malen fleißig Striche, die die Mauer ersetzen sollen. Regeln werden geschrieben, ein Zeitplan für die Küchenbenutzung aufgestellt. Die Eltern tun sich anfangs schwer, alles zu befolgen, und werden von Greta ermahnt: Auf die Regeln achten, sonst macht das Spiel doch keinen Spaß. Doch es ist bitterer Ernst.
Eine Linie, die nicht übertreten werden darf, verläuft schließlich durch das gesamte Haus, wie einst der Grenzstreifen zwischen Ost- und Westzone. Diese historische Parallele wird zwar angedeutet, denn Simon kommt aus Wuppertal, Charlotte aus Dresden, bleibt aber nebulos. Auch die Kontaktverbote der Corona-Zeit fallen einem wieder ein, das Abstandhalten und die Vereinsamung. Die Familienmitglieder sehen sich zwar, reden aber kaum miteinander. Mit der Zeit werden die Kinder durch das ziemlich absurde Arrangement traumatisiert. Man tröstet und hilft einander nicht mehr. Es kommt - abermals an die deutsch-deutsche Teilung erinnernd - zu Bespitzelung und heimlicher Sehnsucht nach Wiedervereinigung.
Franziska Gerstenberg taucht unter die Oberfläche jedes der vier Familienmitglieder, die alle aneinander vorbeileben und jeweils auf sich selbst gestellt sind, wo die Gefühle füreinander immer gleichgültiger, kälter und ablehnender, wo die Geschwister sich fremd werden und die Eltern ihre Kinder immer weiter in Richtung Abgrund treiben, bis es zur Katastrophe kommt. Wenn diese Momentaufnahme der deutschen Familienverhältnisse zutrifft, dann versagt dieses Land dabei, das Versprechen der Moderne einzulösen, wonach freie Selbstbestimmung den Weg zum Glück weist.
Bei Hölderlin heißt es: Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch. Bei Gerstenberg ist das Greta, die sich für Klima- und Naturschutz einsetzt. Darin findet sie nicht nur Halt und einen Zufluchtsort, sondern auch eine soziale Aufgabe, die es ihr ermöglicht, sich vom selbstbezogenen Verhalten ihrer Eltern abzugrenzen. Aber sie kommt ums Leben. Simon und Charlotte nähern sich wieder an. Beide beginnen, das Haus zu renovieren, den Garten neu anzulegen, "draußen wird alles grüner, doch das kann nicht über den Zustand der Welt hinwegtäuschen. Wir machen uns keine Illusionen mehr . . . Aber wir machen weiter. Wir machen das Beste aus der Zukunft, die es nicht mehr gibt." Obwohl alles vorbei ist, sowohl privat als auch im Anthropozän, ist ans Aufgeben nicht zu denken. Mehr als dieser leichte Anflug von Optimismus ist in diesen Tagen nicht zu haben. IRINA KILIMNIK
Franziska Gerstenberg: "Obwohl alles vorbei ist". Roman.
Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2023. 296 S., geb., 24,- Euro.
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