Zur Theorie der öffentlichen Meinung. (Schriften zur politischen Wissenschaft, Bd. II) Mit einem Vorwort von Caspar von Schrenck-Notzing. Herleitend aus der Entstehung der modernen Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert in England und in Frankreich unternimmt Hanno Kesting den entscheidenden Schritt, die Öffentlichkeit ihrer legitimierenden Theorie zu entkleiden und darauf hinzuweisen, daß Öffentlichkeit stets von einem angebbaren und begrenzten Kreis von Personen ausgeht. Unter Voranstellung dieses Sachverhaltes, daß nämlich „wie die volonté générale, nach Rousseau und seinen Nachfolgern, keineswegs identisch ist mit der volonté de tous,. auch die öffentliche Meinung wesenhaft in der Substanz etwas anderes als eine allgemeine Meinung aller Beteiligten oder aller Betroffenen“ ist, kommt er unter Berücksichtigung der geschichtsphilosophischen Begleitmusik zu einem eindeutigen Ergebnis: „Öffentliche Meinung als veröffentlichte Meinung ist mithin von Anfang an und von vorneherein Propaganda. Sie ist ein Versuch der Legitimation – sei es eines Regimes, sei es bestimmter Handlungen einer Regierung, sei es schließlich oppositioneller Guppen und ganzer Schichten. Sie zielt darauf, das Handeln politischer Eliten so darzustellen, als liege es im Interesse zumindest der Mehrheit der Bevölkerung – als sei das Handeln kleiner Teile mit dem Wollen großer Massen der Bevölkerung identisch. Öffentlichkeit und Propaganda gehören also zusammen. Hinter jeder „öffentlichen Meinung“ ist es möglich, die politisch interessierten und vom Ergebnis der Aktion profitierenden Kreise namhaft zu machen, und die „öffentliche Meinung“ somit als Ergebnis großangelegter und instinktsicher gezielter Propagandamaßnahmen zu erkennen. Das führt zu weiteren Schlüssen, die insgesamt aufklärerische Sprengkraft besitzen: Öffentliche Meinung ist dann nämlich von Anfang an „veröffentlichte“ Meinung und hat nie eine andere als eine ideologische Bedeutung gehabt. „Als die öffentliche Meinung ist sie eine Fiktion. Indessen eine Fiktion von nicht zu unterschätzender polemischer Kraft.“ Historisch stellte sie die Möglichkeit der Opposition dar, sich der Macht indirekt zu nähern, war sie – wie Kesting schreibt – „die spezifische Waffe indirekter Gewalten“. Dieser Aufdeckung Kestings fügt Caspar von Schrenck-Notzing in seiner einleitenden geistesgeschichtlichen Einordnung die erschreckende Erkenntnis hinzu, daß die solchermaßen propagandistische Öffentlichkeit ihren Platz gewechselt hat: „Sie steht nicht mehr auf der Seite der Opposition, ja erfüllt die Aufgabe, Opposition von vorneherein unmöglich zu machen.“ Damit ist diese Technik zum bestimmenden Teil des Herrschaftssystems geworden, zum „umfassendsten Totalitarismus der Geschichte“ (Botho Strauß). Erschreckend ist dieses Urteil vor allem deshalb, weil – wie Kesting historisch nachweist – nicht die englische Bedeutung der „Öffentlichkeit“ sich durchgesetzt hat, die das Recht von Parteimeinungen begründete, sich zu äußern und sich für die Gesamtheit zu erklären, sondern (weit darüber hinausgehend) die französische Bedeutung. In Frankreich aber hat sich als Anspruch auf Öffentlichkeit Folgenschweres entwickelt: „Nicht nur eine Partei setzt sich an die Stelle des Ganzen, sie identifiziert sich darüber hinaus mit den Interessen des Menschlichen, der Humanität und der Menschheit; das aber führt dazu, daß der Gegner aus dem Bereich des Menschlichen und der Menschheit ausgeschlossen ist, er wird zum Unmenschen und schließlich, im 19. Jahrhundert, zum Untermenschen abqualifiziert.“ Diese enge Verbindung zwischen Menschheitsfiktion, Liberalismus und Medien blieb aber seither erhalten. Den Blick für diese Erkenntnis zu schärfen ist Kestings Verdienst und macht gleichzeitig seine Sprengkraft aus. 106 Seiten, brosch.