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"Ökologie ohne Natur" - soll das ein Witz sein? Der Literaturwissenschaftler Timothy Morton erklärt, warum wir auf den Begriff verzichten müssen, wenn wir überleben wollen
Geht das, kann man eine Ökologie ohne einen Begriff des Natürlichen entwerfen? Eine Umweltlehre überhaupt ohne Natur denken? Wir werden es müssen, wenn wir nicht wie die Deppen vor einem Phänomen wie der Klimaerwärmung oder dem Artensterben gerade in exotisch "natürlichen" Räumen wie den großen Regenwäldern oder dem australischen Barrier Reef stehen wollen, meint Timothy Morton in seinem gerade auf Deutsch erschienenen Buch "Ökologie ohne Natur". Denn was ist die Natur überhaupt? Ein Baum, ein Brombeerstrauch, ein Nachtigallennest neben einem Mülleimer in einem Stadtpark, ein Spargel oder ein Blumenkohl?
So platt und gemein, wie die Frage auf den ersten Blick erscheint, so gut ist sie. Denn egal welchen Teil, ob Baum oder Blumenkohl, man näher betrachtet, als verbindende Antwort kommt in jedem Fall heraus, dass Bäume wie Nachtigallen geschichtliche Wesen sind. Sie gehören zu jener unbeständigen geschichtlichen Bewegung, in der unablässig Lebensformen entstehen und vergehen, mutieren und erlöschen, die man Evolution nennt. Ebenso sind auch die größeren Zusammenhänge wie Biosphären und Ökosysteme Aufstieg und Niedergang unterworfen. Lebewesen bilden eben keine feste prähistorische oder ahistorische Grundlage, auf der die menschliche Geschichte abläuft. Trotzdem wird oft die Natur ins Spiel gebracht, wenn es darum geht zu entscheiden, was flüchtig und was substantiell und von Dauer ist. Der Spruch "Da kann ich nichts dafür, das liegt in meiner Natur" ist der allgemeinste Ausdruck dieses Glaubens an die substantielle Wirkung der Natur. Die Natur nivelliert in solchen Fällen die Unebenheiten oder Ungereimtheiten der Geschichte und macht ihre Kämpfe und ihr Leid unleserlich.
Erschreckend ist für Morton in diesem Zusammenhang, dass sich gerade Ökokritik und Ökoliteratur positiv auf primitive, ursprüngliche Lebensformen und Gesellschaften beziehen, obwohl Ethnologen wie Philippe Descola sehr genau gezeigt haben, dass etwa die indigenen Gesellschaften Amazoniens Natur eher als gestaltwandlerischen Trickster sehen denn als festes Fundament. Für Morton ergibt sich daraus, dass das abschließende Wort zur Geschichte der Natur lautet, dass "Natur Geschichte ist". Eine Schlussfolgerung, die einem bei einem Literaturwissenschaftler wie Morton als wenig neu erscheinen kann. Dass die Vorstellung, Natur als Geschichte, das heißt als nicht von der Menschenwelt getrennt aufzufassen, alles andere als alt und bekannt ist, kann man in seinem ganzen Schrecken zeigen, wenn man ein anderes gerade erschienenes Buch danebenlegt. Es ist Edward O. Wilsons "Die Hälfte der Erde. Ein Planet kämpft um sein Leben". Der Evolutionbiologe und Ameisenforscher Wilson, einer der weltweit bekanntesten Biologen, fordert darin, die Hälfte der Erde der Natur zu überlassen und das Menschenleben in der anderen Hälfte so weiterzuführen wie immer schon. Man muss nur einen Satz aus Wilsons Werk zitieren, um die unbedachten politischen Konnotationen kurz aufleuchten zu lassen, die im alten Natur-Kultur-Gegensatz wie in der an den Naturbegriff geketteten Ökologie immer mitschwingen. "Zuzulassen, dass gebietsfremde Arten jeglicher Couleur sich ansiedeln, ist die ökologische Variante des russischen Roulettes", schreibt Wilson an einer Stelle, an der er die Gefahren eingewanderter oder eingeschleppter neuer Arten für "natürlich" entstandene Ökosysteme beschreibt. Ohne hier auf das spezielle Problem invasiver Arten eingehen zu wollen, macht Wilson klar, dass mit der Unterscheidung Kultur-Natur immer auch Unterscheidungen wie die von gebietsfremd und nicht-gebietsfremd einhergehen; Unterscheidungen, die aktuell in den renationalisierten Politiken nicht nur Europas ziemlich hässliche Blüten treiben.
Auch weil die klassische Ökokritik und der gängige Ökologismus fast immer mit Begriffen und Vokabeln hantieren, deren Herkunft und mitgeschleppte politische Bedeutungen sie kaum bedenken, macht sich Morton an seine konzentrierte Begriffsarbeit. Ihn interessiert dabei, wie die Vorstellung von der Natur als Substanz und Essenz im Widerspruch zur flüchtigen und oberflächlichen Kultur in die Welt kam und sich gehalten hat. Denn dass die Natur und das Natürliche weiterhin wirksame Vorstellungen sind, die man nicht so einfach aus der Welt räumen kann, ist ihm bewusst. Auch deshalb konzentriert er sich auf eine Auseinandersetzung mit den ästhetischen Konzeptionen von Natur, Umgebung und Umwelt in Dichtung, klassischer, experimenteller und neuester Musik sowie der bildenden Kunst von Thoreau über Brian Eno bis zu DJ Spooky. Als Leitfaden und begriffliche Grundierung dient ihm dabei Theodor W. Adornos "Ästhetische Theorie".
"Das vorgeblich geschichtslos Naturschöne hat seinen geschichtlichen Kern", hatte Adorno dort hingehaucht - und sich damit auf einer richtigen Fährte in eine falsche Position gebracht. Bei aller Negativität in seiner Kritik an der menschlichen Gesellschaft und am Geschichtsverlauf bleibt auch bei Adorno das Naturschöne ein Ausblick auf bessere Zeiten, obwohl er es in die Geschichte eingemeindet hatte. Deutlich wird das besonders an einem Brief aus den sechziger Jahren an den damaligen Frankfurter Zoodirektor Bernhard Grzimek. Wäre es nicht schön, fragt Adorno darin, wenn der Frankfurter Zoo ein Wombat-Pärchen erwerben könne? Er könne sich an diese freundlichen und rundlichen Tiere "mit viel Identifikation" aus seiner Kindheit erinnern und wäre froh, wenn er sie wiedersehen dürfe.
Für Morton ist Adorno nicht nur an solchen Stellen Romantiker geblieben. Es war die Romantik, die die Natur als nichtentfremdete Lebensform in das desaströse Leben in der Kultur als Ausweg zum Besseren einführte. Die Romantiker ließen das Natürliche als etwas aufscheinen, dem man nur unverstellt lauschen müsse, um in die Nähe des reinen Blicks oder des reinen Tons zu kommen, um sich auf den Weg in ein besseres, natürlicheres Leben aufzumachen. Eine Vorstellung, die ästhetisch nicht nur in den Künsten einen neuen Kosmos eröffnete. Man musste nur vor die Tür in den Wald gehen, um mit Philosophen wie Schelling und Dichtern wahrhafte "Purzelbäume" neuer Empfindungen zu schlagen, wie Heinrich Heine schrieb. Und in Amerika entwickelt sich mit dem "Nature Writing" eine bis heute äußerst produktive Form der schreibenden Auseinandersetzung mit der Natur.
Für Morton liegt aber in der Produktivität und ihrer Wirkung eines der Hauptprobleme in der Auseinandersetzung mit der Umwelt. Denn wenn es nicht mal einem Begriffsakrobaten wie Adorno, der zudem noch mit allen Wassern des materialistischen Denkens gewaschen war, gelang, den Romantiker in sich zu demontieren, wie soll das dann heute gelingen?
Für Morton geht es nur, wenn man den Begriff der Natur ganz fallenlässt. Anstatt der konservativen ökologischen Auffassung zu folgen, die, wie Wilson, von äußeren Begrenzungen ausgeht, sollten wir die innen liegenden Grenzen erkennen. Um den Kreaturen zu helfen, sei immer eine gesellschaftliche Vermittlung erforderlich. Die schöne Seele könne nicht in alle Ewigkeit weiterträumen, weil uns gerade der traumartige Charakter des Eintauchens in die Natur von ihr trennt. Es müsse, meint Morton, vor allem nicht nach Identifikationen gesucht werden, sondern nach Wegen, ökologisch zu denken, auf denen die Distanz zu den Tieren und zur Umwelt beibehalten wird. Ökologie könne es ohne Natur, aber nie ohne uns geben.
CORD RIECHELMANN.
Timothy Morton: "Ökologie ohne Natur. Eine neue Sicht der Umwelt". Aus dem Englischen von Dirk Höfer. Matthes & Seitz, 351 Seiten, 30 Euro
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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