Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, BG, CY, CZ, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, H, IRL, I, LT, L, LR, M, NL, PL, P, R, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Der Reigen der Lämmer: Mit "Officer Pembry" hat der Berliner Partisanenliterat Giwi Margwelaschwili eine mordskluge, ja allzu kluge Allegorie des Lesens verfasst.
In der wildesten Zeit der Postmoderne drehten die Simulakren am Rad. Die totale Implosion schien nahe: alles Semantische erschreckend grundlos, Simulation von Simulationen, als wären in Platos Höhle nach einem Escher-Algorithmus unendlich viele weitere eingeschachtelt. Das war natürlich alles andere als lustig, nämlich der ultimative Sieg der Medienmächte über den Menschen, finsterster Orwell. Am befremdlichsten vielleicht die im Gegenzug ausgebildete partisanische Bereitschaft: eine prontologische Weltsinnzerstörungserwartung.
Dann fegte die "Matrix" mit ihrer radikalen Reduktion überkomplexen Auskennertums auf Sonnenbrillenniveau alle poststrukturalistische Schwermut vom Tapet. Nach der Coolness bekam zuletzt sogar der Humor noch seine Chance: Mit "Stranger Than Fiction" brachte Marc Forster Ende 2006 eine postmoderne Burleske im Geiste Pirandellos in die Kinos: Dem Bundessteuerbehördenangestellten Harold Crick geht darin auf, dass er in Wahrheit eine Romanfigur ist. Verzweifelt kämpft er gegen das tragische Ende des eigenen Plots an.
Die Idee, diese kuscheldekonstruktive Handlung mit der von Steven Spielbergs "Minority Report" kurzzuschließen - der Verfilmung einer Kurzgeschichte über Verbrechensbekämpfung qua Präkognition von Philipp K. Dick aus dem Jahre 1956 -, ist keine schlechte. Der in Berlin lebende, im Jahre 1927 geborene deutsch-georgische Erzähler Giwi Margwelaschwili hat sie in seinem Roman "Officer Pembry" nicht nur umgesetzt, sondern gleich mit einem weiteren Kultroman (und Kultfilm) verschleift: Es handelt sich bei dem Titelhelden um jenen wohlbekannten Wärter, dem Hannibal Lecter ("Bereit, wenn Sie es sind, Doc") im "Schweigen der Lämmer" zuerst die Nase und dann die Lebensgeister wegbeißt.
Margwelaschwilis Buch spielt in der Zukunft. Die schlimmsten postmodernen Befürchtungen haben sich bewahrheitet, allerdings in einer seltsam antiquarisch-bibliothekarischen Variante: Hundert Jahre alte Krimis erweisen sich als Prophezeiungen. Ihre Plots strukturieren die Wirklichkeit. Das ist weniger gruselig, als es klingt, denn auch das FBI hat diesen Dichtung-und-Wahrheit-Nexus längst erkannt und getan, was es immer tut, nämlich eine Sondereinheit gebildet, die "Prospektive Kriminalpolizei". Diese ist äußerst erfolgreich darin, "textlich vorprogrammierten Morden" zuvorzukommen: "Die Kunst der prospektiven Kriminalistik besteht darin, das Drama aus seinem buchthematischen Verlauf zu kippen und ihm einen weniger drastischen Entwicklungsweg zu geben." Radikale Neohermeneutik mithin: Iser, Bloom, Derrida.
Es geht nun darum, die arme Nebenfigur Pembry - besser: deren realweltliche Doublette (innerhalb von Margwelaschwilis Buch, versteht sich) - vor dem vorgeschriebenen Schicksal zu bewahren. Pembry soll deswegen das realweltliche Abbild der Hauptfigur, Hannibal Lecter, dadurch aus dem Konzept und auf andere, vom Text abweichende Ideen bringen, dass er entgegen der Buchhandlung im entscheidenden Moment quasi intertextuell rückgekoppelt selbst im "Schweigen der Lämmer" zu lesen beginnt, den Verbrecher auf diese Weise an sich "heranliest" - und plötzlich die Lektüre abbricht. Der Angreifer möge ohne Drehbuch einfrieren, der Buchfluch weichen.
Der Kommissar, nun doch etwas plump "Meinleser" genannt, erklärt dem einfältigen Polizisten Pembry (und uns!) die Situation allerdings derart oft, dass sich schließlich sogar die Buchfigur selbst zu Wort meldet. Ein surrealer Denkdialog zwischen Meinleser und der gegenlesenden, nämlich die Gedanken ihrer Leser erfassenden Buchfigur Pembry kommt daraufhin zustande. Zwar sei er, so der Buch-Pembry, als Figur völlig determiniert, und mit jeder Lektüre sterbe er erneut (was ihm gewaltig auf die Nerven geht), aber einen Tipp für sein Realpendant hat er doch, der sich am Ende auszahlen wird.
Margwelaschwilis Erzählung liest sich wie eine einzige Ehrenbezeigung für Paul de Man: eine kluge Allegorie des Lesens also, die keineswegs akademisch daherkommt, sondern lebens- oder eben leseweltlich. Wer kennt den Zustand nicht, in dem man sympathische Hauptpersonen nicht in die Radieschen beißen lassen möchte. Nur unterwürfige Leseratten lesen schluchzend weiter. Die Mutigen begehren auf: Wie Hiob mit Gott, wie der Ackermann mit dem Tod verhandelt, so feilscht der kreative Leser mit dem Autor, der schließlich auch nur ein Mensch ist. Wenn alles nicht hilft, bastelt man sich eben selbst seinen Schluss (weil ja ein guter da sein muss, muss, muss).
Der Leser ist eingeladen, mit vorliegender Rezension ähnlich zu verfahren. Indes - zwei schwerwiegende Einwände lassen sich gegen diesen schlauen Kopfkrimi vorbringen: Zum einen ist Margwelaschwili stilistisch auf die Bürokratennase gefallen. Der in Wiederholungen geradezu erstarrende Roman mit seinen Loop um Loop umständlicher werdenden Erklärungen im Polizeisprecherton wirkt in etwa so spannend wie die Evaluation einer Machbarkeitsstudie durch einen subalternen Bundessteuerbehördenangestellten. Auf dem Höhepunkt der Ereignisse klingt das zum Beispiel so: "Ich habe die Unmöglichkeit erwähnt, eine antithematisch gestörte Buchpersonifizierung von ihrer buchthematischen Sinnerfüllung abzubringen." Hinzu kommen begriffliche Betulichkeiten wie "Spitzbube", "Schmöker", "Schießeisen" oder "am anderen Ende der Strippe", die ein Lektor gerne hätte antiauktorial herauslesen dürfen.
Der zweite Einwand ist ein inhaltlicher. Die zunächst charmante Idee einer metathematischen Handlung nämlich strapaziert der Autor so sehr, dass sie mehr und mehr zur Belastung wird, ohne dass man über eine recht seminarhafte Allegorie des Lesens wirklich hinausgelangte. Den Bildbereich selbst dagegen vernachlässigt der Autor: Die mit ihrer Determiniertheit ringenden Figuren gewinnen kein Eigenleben, was natürlich besonders fatal ist, wenn ein Roman das Eigenleben literarischer Figuren zum Thema hat.
Die bis zum Überdruss durchgespielte Schlüsselszene aus dem "Schweigen der Lämmer" endet mit einer Seltsamkeit: Die Buchperson Pembry wirft sich so heftig von innen gegen die Buchwand, dass das Buch dem lesenden Real-Pembry aus der Hand springt. Das könnte dem Realrealleser - so viel zur Metathematik - trotz aller Ausgeklügeltheit der Handlung durchaus auch passieren.
OLIVER JUNGEN
Giwi Margwelaschwili: "Officer Pembry". Roman. Verbrecher Verlag, Berlin 2007. 200 S., geb.,
19,90 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH