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Das Zeichnen ist eine lebensrettende Technik: Erna Sassen erzählt vom Verlust einer interkulturellen Jugendliebe.
Ist das Freundschaft? Begehren? Joshua weiß es nicht, und wir wissen es auch nicht, bis zuletzt. Dass es Liebe ist, und eine große, das wissen wir schnell. Eine, die in der Grundschule angefangen hat, bis zwei Kinder auch nachmittags unzertrennlich wurden, weil ihre Stärken und Schwächen einander perfekt ergänzten.
Es wirkt wie der Rauswurf aus dem Paradies, wenn Erna Sassen erzählt, wie diese liebevolle Symbiose endet. Von einem Tag auf den anderen darf Zivan, die aus dem Irak stammt, nicht mehr ins Nachbarhaus zu Joshua kommen. Noch schlimmer: Sie und die Familie kehren, in entgegengesetzter Richtung aller Migranten, zurück in ihr Heimatdorf, obwohl sie dort als Kurden immer noch keine Perspektive haben. Die Angst des Vaters, etwas falsch zu machen, gegen die Regeln der Familie zu verstoßen, wiegt schwerer als alle Chancen, alles Glück, das seine Tochter in ihrer niederländischen Umgebung hat. Und der europäische Pass, den sie längst hat, bietet ihr keinen Schutz vor der elterlichen Willkür. Sie soll, gerade mal fünfzehn Jahre alt, ihren Cousin heiraten. Damit Ruhe ist. Damit sie eine brave Tochter ist. Damit der Vater vor den Augen der Dorfgemeinschaft bestehen kann.
Zurück bleibt Joshua, den Erna Sassen und ihr kongenialer Illustrator Martijn van der Linden, mit dem sie schon zuvor gearbeitet hat, buchstäblich gemeinsam erzählen. Denn Joshua, ebenfalls fünfzehn Jahre alt, soeben von der Realschule in die achte Klasse Hauptschule zurückgefallen, ist in vielerlei Hinsicht besonders. Was unter all den Besonderheiten herausragt, ist sein Talent zum Zeichnen. Im Grunde erfasst er alles, was ihm widerfährt, über das selbst gemachte Bild. Das ist ein großer Reiz an Sassens Erzählung, die durchzogen ist von van der Lindens Bleistift- und Tuschzeichnungen. Sogar Vorder- und Rückseite sowie sämtliche Schnittseiten des Buchs sind mitgestaltet.
"Ohne dich", erschienen im Verlag Freies Geistesleben, ist damit nicht nur ein ausgesprochen schönes Jugendbuch, es wird zugleich zu einer jener Zeichenkladden, die Joshua, wo auch immer er sich aufhält, bei sich führt. Ein bisschen schade, dass der deutsche Titel nicht das niederländische Spiel mit Erscheinungsform und Inhalt weiterspinnt, dort heißt der Roman "Zonder titel". Denn Titel haben die Zeichenhefte Joshuas nicht, aus gutem Grund. Sie bergen allerhand Geheimnisse. Und mit dem Bruch dieser Intimität hebt Sassens Erzählung an.
Es ist Sergio, der Stärkste in der neuen Klasse, der ihm sein Zeichenheft abnimmt und von ihm verlangt, ausgerechnet sein Lieblingstier als Vorlage für ein neues Tattoo ausgehändigt zu bekommen. Dass der schmächtige Joshua sich traut, ihm zu widersprechen, liegt an der Bedeutung, die Ziege und Wolf für ihn mit jeder Zeichnung mehr erlangen: Stehen die Tiere doch für Zivan und ihn und ihre unterschiedlichen Strategien, mit den Widrigkeiten des Lebens zurechtzukommen. Wölfe, sagt Joshua, seien im Grunde feige. Ziegen hingegen ausdauernd, wehrhaft und nährend überdies - wie Zivan.
Dass es dann ganz anders kommt, dass das Mädchen, das Joshua jahrelang eine Stütze in seinem schwierigen Alltag war, selbst keinen Halt mehr hat und zusammenbricht, wird nach und nach deutlich, entlang der vergeblichen Versuche Joshuas, mit Zivan Kontakt aufzunehmen. Es ist die Geschichte eines Verlusts, die da stückweise hervorkommt, orientiert, wie Sassen dem Buch voranstellt, an zwei wahren Frauenbiographien. Zivan flieht vor ihren Eltern, taucht unter und gerät unter immer größeren Druck zwischen den Welten. Parallel dazu und in seiner Schlichtheit äußerst kunstvoll erzählt Sassen, wie Joshua mit Sergio und Dylan, den finstersten Gestalten der Klasse, eine trotz ihrer physischen Auseinandersetzungen regelrecht zarte Freundschaft beginnt, in der Tragik und Komik sehr nah beieinanderliegen. Etwa wenn Joshua den Blick nicht von seiner ausgesprochen kurvigen Klassenkameradin Lindsey abwenden kann oder mit der Klasse das Rijksmuseum in Amsterdam besucht, wo er seinen ursprünglich böse gemeinten Spitznamen "Rembrandt" vollends einlöst. Sassen, die ursprünglich Schauspielerin war, schreibt seit 2005 Kinder- und Jugendbücher und hat die Gabe, einen äußerst sorgfältig komponierten Text, der geradezu leichtfüßig auch noch ein bisschen Kunstgeschichte, Alltagskultur und Milieustudien trägt, in eine Sprache zu fassen, die nah an der wörtlichen Rede, frisch und direkt und zugleich kunstvoll ist. So folgt man ihrem Joshua und seinen Kumpels nur zu gern, auch da, wo es richtig düster wird - und wehtut. EVA-MARIA MAGEL
Erna Sassen:
"Ohne dich".
A. d. Niederländischen von Rolf Erdorf. Illustriert von Martijn van der Linden. Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2022. 264 S., geb., 20,- Euro. Ab 14 J.
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Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
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