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Harter Stoff: Bodo Kirchhoffs unfeine frühe Novelle
Der Mann im Buch heißt Branzger, nicht sein wirklicher Name. Er führt Telefonate mit weiblichen "Kontaktpersonen", und er betreibt exzessive Selbstbefriedigung. Branzger beschäftigt sich mit einer Männerleiche in der Nebenwohnung, deren Verwesungsprozess er über Tage verfolgt, ohne davon Meldung bei der Polizei zu machen, und mit seiner analerotischen Fixierung, die zwanghaft in einem sprachlichen Bild wiederkehrt; mit dem Schreiben psychologischer Artikel zwecks Broterwerb und dem fruchtlosen Entwerfen literarischer Texte wie einer Erzählung über seinen ersten Tag als Rekrut bei der Bundeswehr; mit dem Gang zu Nutten, dem Kauf einer Waffe, mit der er dann auf Bücher schießt, und mit dem Besuch eines Muskelstudios; mit dem Verzocken seines letzten Gelds in einer Spielbank und mit koprophilen Anwandlungen. Wobei die letztgenannten Tätigkeiten die zwei angstgetriebenen Zuspitzungen desselben Zustands sind, der ansonsten in einer unheimlich gleichgültigen, einsamen Zufriedenheit balanciert.
Der Buchtitel "Ohne Eifer, ohne Zorn" ruft jenes sine ira et studio auf, mit dem der antike Geschichtsschreiber Tacitus seine "Annales" des Römischen Reichs begleitet hat, eine Formel, um das Wohlwollen der Leser zu erlangen. Mit ihrer Umkehrung überschreibt Bodo Kirchhoff im Jahr 1979 sein erstes Prosastück, das im Suhrkamp Verlag erschien und das er eine "Novelle" nennt; da ist er einunddreißig Jahre alt. Jetzt hat es die Frankfurter Verlagsanstalt wieder aufgelegt. Es ist ein verdammt harter Stoff, verschreckend auch noch nach mehr als dreißig Jahren. Der Novellen-Charakter erschließt sich unfein, wenn Branzger in der Warteschlange vor einem Postschalter der Nähe einer Frau vor ihm verfällt; er folgt ihr zu ihrer Wohnung, um dort die Erfüllung seiner zentralen Phantasie zu finden. Daraufhin fährt er mit dem Zug nach Italien, an den Gardasee, eine Reise, die in seinem indolenten Dahinwesen nicht vorgesehen war. Von nun an geschieht manches. Soll man das also lesen?
Die Lektüre ist schmerzhaft, und das Wiederlesen war es wohl auch für den Autor selbst. Er hat ein Nachwort zur Neuauflage verfasst und es "Woher ich komme, was ich bin" überschrieben. Es ist eine Handreichung für den dankbaren Leser, ein unsentimentales Bekenntnis zu "einer nicht wirklich vernarbten Wunde, von der immer noch der Reiz ausgeht, an ihr herumzukratzen". Was Kirchhoff dort, gewiss nicht zufällig, unerwähnt lässt, ist seine eigene Biographie als die eines missbrauchten Kinds, das er selbst war, ein "sprachloses Kind", ein sprachlos gemachtes Kind. Diesen Teil seiner Geschichte hat er an anderer Stelle eindringlich thematisiert. Es kann sein, dass er im Zusammenhang von "Ohne Eifer, ohne Zorn" jenem Biographismus nicht in die Hände spielen wollte, der sich in der Rückführung auf lebensgeschichtliche Daten gefällt (als ob einer, der es ernst meint, je ganz an seinem Leben vorbeischreiben könnte).
Die forcierte Äußerlichkeit, in der Kirchhoff diesen Branzger hält, ist als eine scharfe Wendung gegen die literarischen Innerlichkeiten in jener Zeit, die er überhaupt karikiert, erkennbar - dies gewiss vor dem Hintergrund damals aufrüttelnder Lektüren wie des ersten Bandes von Michel Foucaults "Sexualität und Wahrheit", der gerade 1977 auf Deutsch erschienen war. Radikal ist Kirchhoffs Skepsis gegenüber auch nur der Möglichkeit eines unversehrten Individuums. Wenn dann in Branzger beim Überprüfen seines trainierten Körpers vor dem Spiegel ein jähes Selbstinteresse aufflackert, ist das auch ein starkes literarisches Bild für einen pervertierten Narzissmus, der sich eben in den siebziger Jahren der Bundesrepublik desaströs mit totalitärer Ideologie kreuzt. In "Ohne Eifer, ohne Zorn", geschrieben im Frühjahr 1978, ist die Stimmung des Deutschen Herbsts gespeichert. Kirchhoff hat damit ein Stück Prosa - auch - als historisches Gedächtnis geleistet.
Wie immer das Ende der Novelle, Branzgers Blick über den Gardasee nach Salò, zu deuten ist, vielleicht sogar als ein erster minimaler Befreiungsakt aus der Erstarrung: Wer "Ohne Eifer, ohne Zorn" liest, erkennt, wie sich vom Ort eines schwer erträglichen Protagonisten wie Branzger her im fortwährenden Schreiben über Jahrzehnte eine Subjektivität entwerfen kann, die zur Meisterschaft deutscher Gegenwartsprosa fähig ist. Wer den beinharten Kern der Sprache von Bodo Kirchhoff, der heute übrigens seinen fünfundsechzigsten Geburtstag feiert, erfahren will, der soll dieses kalte fordernde Buch lesen. Sein bisher letzter, großartiger Roman "Die Liebe in groben Zügen" zeugt noch davon. Kirchhoff hat dort über die Liebe geschrieben, wie wenige es können. Im Beiwort "grob" insistiert das Unreine, Unbearbeitete der frühen Jahre.
ROSE-MARIA GROPP
Bodo Kirchhoff, "Ohne Eifer, ohne Zorn". Novelle.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2013. 121 S., geb., 12,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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