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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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Jacques Semelin über Formen des zivilen Widerstands in Europa
Dieses Buch ist nicht neu, doch die Lektüre lohnt. Jacques Semelin, ein emeritierter französischer Historiker, dessen Studien zu Massengewalt und Widerstand weltweit Beachtung gefunden haben, hat das Buch bereits in den Achtzigerjahren geschrieben. Nun, mehr als dreißig Jahre später, kommt die deutsche Übersetzung heraus. Folgerichtig bildet die Studie nicht den aktuellen Stand der Forschung ab, die sich gerade seit den Neunzigerjahren intensiviert hat.
So wissen wir über den zivilen Widerstand in Deutschland und den besetzten Gebieten viel mehr als Semelin zum damaligen Zeitpunkt. Manche seiner Urteile zur deutschen Besatzungspolitik und zur Zusammenarbeit - Semelin benutzt den Ausdruck "collaboration", der im Französischen einen weniger moralischen Impetus besitzt als im Deutschen - mit den einheimischen Institutionen würden heute vielschichtiger ausfallen.
Den geographischen Schwerpunkt seines Buches bildet Westeuropa, was zum einen der Tatsache geschuldet ist, dass in den Achtzigern die osteuropäischen Archive noch verschlossen waren. Zum anderen führt Semelin an, dass in der rassistischen Perspektive der NS-Führung Osteuropa den künftigen deutschen Siedlungsraum darstellte, eine "Zusammenarbeit" mit den dortigen Institutionen deshalb von vorneherein ausgeschlossen war. Diese Annahme hat die Forschung inzwischen revidiert und gezeigt, wie stark auch in Ostmittel- wie Südosteuropa die deutsche Besatzungsadministration auf die Kooperation mit den einheimischen Eliten und Institutionen angewiesen war.
Doch trotz dieser Beschränkungen bietet Semelins Buch Einsichten, die es lohnen, auch heute noch wahrgenommen zu werden. Seine Stärke liegt hauptsächlich im systematischen Zugriff. Semelin entwickelt mit den historischen Beispielen aus Westeuropa eine allgemeine Matrix des Widerstands, die nicht veraltet ist. So argumentiert er schon früh in seinem Buch für ein breites Verständnis von Widerstand, der nicht nur mit der Waffe in der Hand, sondern eben auch zivil geleistet werden konnte, als Nonkonformität, Dissens, Verweigerung. Damit weitete Semelin in Frankreich den Blick für gesellschaftliche, zivile Formen des Widerstands.
Zu Recht weist Semelin auf die Bedeutung hin, die die Kooperationsbereitschaft beziehungsweise der Verweigerungswille der jeweiligen staatlichen Instanzen für die Legitimität zivilen Widerstands besaßen. In Dänemark beließen die deutschen Besatzer die Regierung im Amt und gestanden ihr weitgehende Handlungsräume zu. So waren zivilgesellschaftliche Aktivitäten gegen die Besatzungspolitik bis hin zur Rettungsaktion der dänischen Jüdinnen und Juden 1943 möglich.
Die niederländische Königin und das Kabinett waren ins Exil nach London geflohen, während im Land die Verwaltungsspitzen mit den Deutschen zusammenarbeiteten. So war die lückenlose Erfassung der Jüdinnen und Juden die wichtigste Voraussetzung für deren Deportation in die Vernichtungslager. Und zugleich gab es in den Niederlanden im Februar 1941 Streiks gegen die Judenverfolgung.
Semelin analysiert die Quellen zivilen Widerstands und misst der öffentlichen Meinung, soweit sie geäußert werden konnte, eine maßgebliche Rolle zu. Wie Timothy Snyder viele Jahre später unterstreicht Semelin, dass intakte staatliche und soziale Strukturen in den besetzten Ländern den Opfern einen Schutzschild bieten, aber auch von den Besatzern zur Verfolgung instrumentalisiert werden konnten. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs radikalisierte sich die deutsche Besatzungspolitik und ging immer mörderischer gegen Dissens vor. Ziviler Widerstand diente Semelin zufolge nun dem Überleben und sollte die physische Integrität und die Identität der besetzten Gesellschaft bewahren.
Mitunter zeichnet Semelin die Gesellschaften zu homogen, als geschlossene Akteure gegenüber der Besatzungsmacht. Hingegen werden seine Betrachtungen immer dann eindringlich, wenn er die Verflechtungen zwischen Besatzern und Besetzten untersucht. Diese Beziehungen unter asymmetrischen Gewaltverhältnissen stehen heute im Mittelpunkt der Holocaustforschung. Dazu kann Semelins gescheites Buch noch immer beitragen. MICHAEL WILDT
Jacques Semelin: "Ohne Waffen gegen Hitler". Eine Studie zum zivilen Widerstand in Europa.
Aus dem Französischen von Ralf Vandamme. Wallstein Verlag, Göttingen 2021. 285 S., geb., 34,- Euro.
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