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Für immer ausspannen: Joseph Incardona schickt eine Schweizer Familie in ein toxisches Ferienparadies
Die Welt ist alles, was ein Fall ist. Aber was bedeutet es für die Krimiwelt, wenn es keinen Fall gibt? Diesen Nichtfall beherrschen nur Könner, ansonsten droht die Gefahr einer Mogelpackung - so wie in dem vor sechs Jahren bei Editions du Seuil erschienenen Roman "Aller simple pour Nomad Island". Strenggenommen hätte man das Buch auch dort schon nicht in die Reihe Seuil Policiers aufnehmen sollen; und eigentlich gehört es auch nicht auf diese Krimiseite - und auch nicht auf die Krimibestenliste.
Aber da man sich verlagsseitig den Aufkleber "allegorischer Thriller" und "Sozialsatire" hat einfallen lassen, wird das Buch eben umstandslos ins Krimigenre eingemeindet, dort, wo man am ehesten auf potentielle Leser zu stoßen hofft. Verständlich, denn Incardonas deutschsprachiges Debüt "Asphaltdschungel" bekam nicht nur in dieser Zeitung ausgesprochen gute Besprechungen (F.A.Z. vom 3. Juni 2019). Ein Buch mit einem eigenen Ton. Da liegt es nahe, dass der Basler Lenos Verlag den 1969 in Lausanne geborenen Schweizer Autor weiter pflegt, wenn auch unter dem hölzernen Titel "One-Way-Ticket ins Paradies".
Das Unheil beginnt mit einer personalisierten Mail: "Vergessen Sie alles, was Sie meinen über Ferien zu wissen. Die Insel Ihrer Träume hat Sie längst in ihr Herz geschlossen, Iris." - Iris ist Teil der Familie Jensen, die gutsituiert in der französischen Schweiz nahe dem Genfer See und also auf der vermeintlichen Sonnenseite des Lebens logiert. Iris drängt auf einen Erholungsurlaub, denn sie hat ihn nötig, körperlich wie seelisch ist sie nicht über eine Totgeburt hinweggekommen. Ihr Mann Paul "machte alles richtig, er empörte sich, wo es sich gehörte, begeisterte sich, wann es sich gehörte, und er stellte in keiner Weise das System in Frage - schließlich hatte es ihn in den exklusiven Kreis derjenigen befördert, die Saläre in Tausenderschritten zählten".
Der Preis des normierten neureichen Lebens ist eine dysfunktionale Familie. Paul ist ein triathletisch vor sich selbst davonlaufender Spitzenverdiener, die Tochter Lou ist hauptsächlich mit der Planung ihrer, wie sie findet, wirklich anstehenden Entjungferung beschäftigt; ihr jüngerer Bruder, der körperlich schwach entwickelte Geistesriese Stan, hat es in der Welt der Normalbegabten schwer.
Nomad Island heißt das fiktive Vulkaninsel-Resort, irgendwo im Indischen Ozean nahe Réunion gelegen. Das Rundum-sorglos-Paket, das den Gästen weder Frei- noch Entscheidungsraum lässt, löst zweierlei Reaktionen aus: Die beiden Frauen kapitulieren rasch und geben sich der in tropische Lustbarkeit verkleideten Entmündigung hin; Vater und Sohn wittern das Unheil, können sich aber dessen Ausmaß nicht vorstellen, schließlich wirkt die Vulkaninsel auf den ersten Blick tatsächlich wie ein Paradies. Bis Paul bemerkt, dass der Stacheldrahtzaun nicht wilde Tiere am Eindringen hindert, sondern Fluchtversuche der Insassen verhindert.
Die stets dunkle Sonnenbrillen tragenden Insulaner stehen unter Kontrolle eines westlichen Managements mit optimierten Traumkörpern, dessen Auftreten dem von totalitären Sektenmitgliedern gleicht. Wenn sie zornig werden, färben sich ihre Augen für einen Moment schwarz, oder jedenfalls nehmen das die Neuankömmlinge so wahr, die man - das wird nicht klar - mit Halluzinogenen oder Glückspillen gefügig macht. Verlassen werden sie das Eiland nicht mehr, in einer unterirdischen Klinik finden Menschenexperimente statt, und das finden die meisten chemisch Optimierten auch gut so.
Joseph Incardona hat eine Reihe von (Kriminal-)Romanen, Kurzgeschichten, Drehbüchern und Comics vorgelegt. Mit dem vorliegenden Roman erreicht er nicht das Niveau, das ihm ein Jahr später mit "Asphaltdschungel" (im Original 2015) gelingen sollte. Zu viele Insel-Versatzstücke aus der Populärkultur verwurstet der Autor, und weil es selbst zu "Jurassic Park" nicht weit ist, kommen wenigstens Warane zum Einsatz. Ein wirklicher "Fall" ist nicht in Sicht, Tote gibt es - so scheint es zumindest - auch nicht, Wiederauferstandene schon eher. Und Doppelgänger.
"Policier" ist hier nichts, es tauchen weder Polizisten, Kriminalbeamte oder Detektive auf. Der Plot ist schematisch und vorhersehbar, die heldenhaft agierenden Kinder mit Handicap sind ebenso stereotyp wie Paul, der den Mann in sich wiederentdeckt, der einst in ihm steckte. Und die Frauen hadern mit ihrem Schicksal als Gebärmaschinen. Die Wahrnehmung von Realität verrutscht. Am Ende erdrückt die Andeutungslast das Tragwerk des Romans, und so flüchtet dieser sich in Action, was wiederum am - natürlich offenen - Ende zu wenig ist, um das Buch retten zu können.
HANNES HINTERMEIER
Joseph Incardona: "One-Way-Ticket ins Paradies". Roman.
Aus dem Französischen von Lydia Dimitrow.
Lenos Verlag, Basel 2020.
310 S., br., 22,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
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