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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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Im moralischen Vorteil: Jie-Hyun Lim fragt, wie sich der Opferstatus politisch instrumentalisieren lässt
Bis ins neunzehnte Jahrhundert machten Heldentaten, vollbrachte und künftige, den Ruhm einer Nation aus, man denke nur an Rule Britannia oder Land of Hope and Glory. Nach dem Zweiten Weltkrieg änderte sich das. Nun war es das Leid, das Ansehen verschaffte, und das maßstabsetzende Leid war das der ermordeten Juden, Auschwitz. Es brauchte allerdings eine gewisse Zeit für diesen Wandel. Auf einer Tagung des American Jewish Committee im Jahr 1944 hieß es noch, die "Schauergeschichten über das gequälte jüdische Volk" müssten reduziert werden (...) Kriegsheldengeschichten sind hervorragend". Erst 1959 wurde in Israel ein gesetzlicher Feiertag des Holocaust-Gedenkens eingeführt. Wie wichtig die Sache inzwischen politisch geworden war, sah Ministerpräsident David Ben-Gurion, der auf die Beispiellosigkeit des Geschehenen hinwies und dessen "Universalisierung" als Versuch wertete, die Juden "ihres moralischen Kapitals" zu berauben. Die Erinnerung an den Holocaust war ein Mittel im politischen Kampf geworden.
Der südkoreanische Historiker Jie-Hyun Lim hat sich mehr als dreißig Jahre mit diesen Fragen beschäftigt, drei seiner Aufsätze sind nun unter dem Titel "Opfernationalismus. Erinnerung und Herrschaft in der postkolonialen Welt" erschienen. Das Interesse des Autors gilt der politischen Instrumentalisierung des Opferstatus. Deren Voraussetzung ist ein scharfer Opfer-Täter-Dualismus: Wer Opfer ist, ist nicht Täter. So versuchten verschiedene polnische Regierungen, mit Verweis auf die Opfer ihres Volkes unter deutscher Besatzung Hinweise auf antisemitische Übergriffe wie etwa in Jedwabne oder Kielce abzuwehren. Damit leugne man das Leiden Polens.
Vielleicht noch interessanter ist das Beispiel Japans. Der Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki wurde in Japan sehr früh schon mit dem Holocaust verglichen. So schlich sich das Land, das doch einen groß angelegten Angriffskrieg gegen seine Nachbarn begonnen und dabei schreckliche Mittel eingesetzt hatte, auf die Seite der Opfer: Japaner und Juden als "archetypische Opfer des weißen Rassismus", wie es in einem japanischen Roman heißt. 1968 brachen japanische Aktivisten zu einem Friedensmarsch nach Auschwitz auf, wo sie am 27. Januar 1969 an der Feier zum Gedenken der Befreiung des Lagers teilnahmen. Die Kommunistische Partei Polens war erfreut, den Systemgegner USA neben dem nationalsozialistischen Deutschland zu sehen.
Und natürlich stützt die israelische Regierung ihre Politik mit der Erinnerung an Auschwitz. Die internationale Kritik am Einmarsch nach Libanon 1982 konterte der damalige Ministerpräsident Menachem Begin mit dem Hinweis, nach Auschwitz habe die Welt kein Recht mehr, Israel zur Rede zu stellen. Man versteht das Motiv, wird ihm auch den Respekt nicht versagen, aber macht es die Politik besser oder klüger?
Schon vor fünfundzwanzig Jahren gab der amerikanische Historiker Peter Novick ("Nach dem Holocaust") zu bedenken: "Insoweit das Nahost-Gewirr in einem Holocaust-Deutungsmuster gesehen werden konnte, verschwanden sein komplexes und zweideutiges Recht und Unrecht im Hintergrund. Übliche Konflikte wurden mit all der moralischen Schwarz-weiß-Klarheit des Holocaust ausgestattet, die für die israelische Sache ein moralischer Trumpf wurde."
Aber wie kam es zu der Wendung vom heroischen zum Opfernationalismus? Hatten die Verbrechen des Nationalsozialismus ein neues Denken über Politik, Macht und Verantwortung angeregt? Oder muss man in die Zwanzigerjahre des vorigen Jahrhunderts zurückgehen, als der Krieg, der bis dahin als zulässiges Mittel der Politik gegolten hatte, im Briand-Kellogg-Pakt von 1928 erstmals völkerrechtlich gebannt wurde? Dazu äußert sich Jie-Hyun Lim nicht. Ob es daran liegt, dass er an der Einzigkeit des Holocaust Zweifel hegt, weil doch alle historischen Ereignisse einzigartig seien, "schlicht deshalb, weil sie nicht gleich sein können"?
Das ist ein Einwand, der den Autor nicht empfiehlt, das Problem, der "Zivilisationsbruch", wird hier nicht ernst genommen, so wie sein Buch zwar spröde ist, doch gewiss nicht wegen seines theoretischen Niveaus. Zustimmen wird man ihm aber in der Kritik an der "Kosmopolitisierung" des Holocaust-Arguments, an dessen Indienstnahme für alle möglichen Anliegen, den Kampf gegen die Abtreibung ("amerikanischer Holocaust") oder für den Waffenbesitz. "Hätten die Juden Schusswaffen gehabt, wäre der Holocaust nicht passiert", so Trumps Wohnungsbauminister Ben Carson.
Vor allem aber ist es Jie-Hyun Lim um die Kritik des selbstgefälligen Westens zu tun, der seine Zivilisation der völkermörderischen Praxis anderer entgegensetze. Aimé Césaire wird mit der berühmten Bemerkung aus dem Jahr 1950 zitiert, was der europäische Bourgeois Hitler nicht verzeihe, sei nicht das "Verbrechen an sich, nicht die Erniedrigung des Menschen an sich, sondern das Verbrechen gegen den weißen Menschen, die Erniedrigung des weißen Menschen". Und es gibt ja nationalsozialistische Äußerungen, die die Besatzungspolitik im Osten seit 1939 mit dem Kolonialismus in Übersee gleichsetzen. Aber ihre rechtfertigende Absicht ist da wohl in Betracht zu ziehen und dass sie für die Ermordung der Juden nicht galten. Die postkoloniale Perspektive wird in diesem Buch eher gefordert als ausgeführt. STEPHAN SPEICHER
Jie-Hyun Lim: "Opfernationalismus".
Erinnerung und Herrschaft in der postkolonialen Welt.
Aus dem Englischen von Utku Mogultay. Klaus Wagenbach Verlag, Berlin 2024. 144 S., br., 20,- Euro.
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