Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, BG, CY, CZ, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, HR, H, IRL, I, LT, L, LR, M, NL, PL, P, R, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Über die lückenhafte Aufarbeitung des Massakers von Oradour in beiden deutschen Staaten
Am 10. Juni 1944 verübte die Waffen-SS eines der bis heute bekanntesten Massaker in Westeuropa. Im kleinen französischen Ort Oradour töteten SS-Männer mindestens 643 Dorfbewohner, die sie lebendig in einer Kirche verbrannten oder erschossen. Über die Hälfte waren Frauen und Kinder; nur 45 Menschen konnten fliehen. Die Ruinen von Oradour wurden schon 1945 mit Unterstützung von Charles de Gaulle zum Gedenkort erklärt. Bis heute gelten sie als das Symbol des französischen Kriegsleids.
Zum Ablauf des Massakers und zur Erinnerung daran liegen bereits zahlreiche Bücher vor. Die äußerst akribische Studie von Andrea Erkenbrecher wählt eine andere, sehr ergiebige Perspektive, indem sie den deutschen Umgang mit dem Massaker in Oradour untersucht. Für beide deutschen Staaten betrachtet sie die strafrechtliche Verfolgung, die Frage der Entschädigung, die ausbleibende Versöhnung und die revisionistische Abwehr der Aufarbeitung. Dabei zeigt Erkenbrecher, wie trotz der deutsch-französischen Annäherung unter Adenauer und de Gaulle eine echte Auseinandersetzung mit der deutschen Gewalt lange Zeit gezielt ausblieb.
In der Bonner Republik lebten immerhin noch mindestens 76 Tatbeteiligte; im vereinigten Deutschland waren es noch 54. Dennoch wurde in der Bundesrepublik kein einziger verurteilt, obgleich es zumindest zwölf Ermittlungsverfahren und einzelne Vorermittlungen gab. Selbst der verantwortliche SS-Kommandant Heinrich Lammerding lebte bis zu seinem Tod 1971 als erfolgreicher Bauunternehmer in einer Düsseldorfer Villa und traf sich regelmäßig mit seinen früheren SS-Kameraden. Für die DDR-Propaganda waren Lammerding und seine Mittäter von Oradour ein gefundenes Fressen, um das Wirken von "Nazis" in der Bundesrepublik anzuprangern. Doch auch in Frankreich ließ der Unmut darüber nicht nach. 1968 forderte die französische Nationalversammlung die Auslieferung Lammerdings.
Wie Erkenbrecher detailliert anhand von Regierungs- und Gerichtsakten zeigt, schützten Justiz und Bundesregierung jedoch die Täter. Die deutschen Richter sahen keine "niederen Beweggründe", da die Soldaten geglaubt hätten, befehlsgemäß Partisanen zu bekämpfen. Angesichts der Unschuldsbeteuerung der deutschen Soldaten schienen die Beweise zu fehlen. Die Angeklagten schoben die Verantwortung, wie so häufig, allein auf einen bereits verstorbenen SS-Mann. Die deutsche Politik und Justiz nutzten eine Passage im sogenannten "Überleitungsvertrag", laut dem sie abgeschlossene Strafverfahren der Alliierten nicht neu aufrollen durften.
In Frankreich waren diese Urteile jedoch oft in Abwesenheit der Täter gefällt worden, sodass dies de facto einen Schutz der Täter in Deutschland legitimierte. Obgleich Angehörige der Résistance auf eine Strafverfolgung und Auslieferung der Haupttäter drängten, sah die Bundesregierung davon ab, hier aktiv zu werden. Vor allem FDP-Politiker stellten sich dagegen: Zunächst agierte Justizminister Thomas Dehler in diesem Sinne, später Ernst Achenbach, der selbst im Krieg in der Pariser Botschaft mit der Judendeportation befasst gewesen war. Eine Revision des Überleitungsvertrages verschleppte das Auswärtige Amt bis 1975. Zugleich setzte es sich für die wenigen deutschen SS-Männer ein, die wegen des Massakers in Oradour in Frankreich verurteilt worden waren.
Die Bundesregierung sprach sich überdies in den Verhandlungen mit Frankreichs Regierung gegen die direkte Entschädigung der Opfer und Hinterbliebenen aus. Nach langem Ringen einigte sie sich mit Frankreich 1960 auf ein Verfahren, bei dem auch die Opfer von Oradour eine Entschädigung in Paris beantragen konnten. Immerhin 350 Nachkommen aus Oradour erhielten so Mittel. Diese Überantwortung an Frankreich ersparte den Deutschen das Schuldeingeständnis zu Oradour oder auch Absageschreiben. Wie Erkenbrecher rekonstruiert, flankierten rechte Netzwerke die öffentliche Verklärung der Gewalttaten.
Die Schuld daran gaben einzelne frühere Offiziere der Waffen-SS seit 1949 in zahlreichen Publikationen dem französischen Widerstand. Es sei nur dessen Terror ehrenvoll bekämpft worden. Man habe gefangene Deutsche befreien wollen, die Häuser von Oradour hätten durch die viele Munition darin Feuer gefangen. Als diese Legenden im Zuge der Ermittlungen haltlos wurden, modifizierten die Offiziere ihre Darstellung. Auf jede öffentliche Würdigung der Opfer reagierten sie mit gegenläufigen Zuschriften und Artikeln. In den 1970er-Jahren radikalisierten sich ihre Deutungen zu Verschwörungstheorien, wonach die Bundesregierung "die Wahrheit" über Oradour gekannt habe, aber sie wegen der deutsch-französischen Annäherung verschweige. Die Wirkung dieser revisionistischen Schriften veranschlagt Erkenbrecher hoch: Selbst neuere Reiseführer, Lexika und Publikationen würden anführen, dass die Waffen-SS in Oradour Partisanen bekämpft habe.
Die einzige Verurteilung eines Oradour-Täters fand in der DDR statt. Die Stasi stieß zufällig auf die Vergangenheit des beteiligten SS-Mannes Heinz Barth, als sein Sohn zu den Grenztruppen eingezogen wurde. Barth hatte bislang unauffällig als Abteilungsleiter einer Konsumgenossenschaft gelebt. Um sich als das bessere Deutschland zu profilieren, startete die SED 1983 einen großen Prozess, zu dem Oradour-Überlebende geladen wurden. Barth erhielt 14 Jahre Haft, die er zum größten Teil absitzen musste. Dass er nach seiner Freilassung im vereinten Deutschland eine "Kriegsopferrente" erhielt, führte in Frankreich zu Protesten.
Die Formen der Versöhnung waren in Ost- und Westdeutschland ohnehin besonders unterschiedlich. Die DDR nutzte das Gedenken an Oradour früh für ihre Propaganda. Schon 1954 organisierte sie zum 10. Jahrestag Massenproteste unter der Losung "Niemals wieder Oradour - gegen die Bonner und Pariser Verträge, die faschistische Henker und Verbrecher wieder bewaffnen". Sie ließ Erde von Oradour nach Buchenwald überführen und 1966 sogar eine Oradour-Briefmarke herausgeben. 1980 besuchte FDGB-Chef Harry Tisch, ein Spitzenfunktionär des Regimes, den französischen Ort. Zahlungen allerdings leistete die DDR wie üblich nicht an Opfer im Ausland. Sie lud die Opfer aus Oradour lediglich zu Kuraufenthalten in die DDR ein.
In der Bundesrepublik verlief die Annäherung an Frankreich dagegen über das Gedenken an den Ersten Weltkrieg. Kurz vor der berühmten Begegnung mit Adenauer in Reims 1962 fuhr de Gaulle bezeichnenderweise allein nach Oradour. Aus der Bundesrepublik reisten nur einzelne zivilgesellschaftliche Vertreter dorthin, um für Versöhnung zu werben, etwa Pax Christi und einzelne Schulen. Erst 2013 kam mit Bundespräsident Joachim Gauck erstmals ein hochrangiger bundesdeutscher Politiker nach Oradour.
Andrea Erkenbrecher hat mit ihrem Buch eine fundiert recherchierte Studie vorgelegt, die zahlreiche wichtige Erkenntnisse zum deutschen Umgang mit NS-Verbrechen beschert. Wie viele deutsche Doktorarbeiten ist sie leider so dicht entlang der Archivquellen verfasst, dass die Lesbarkeit unter der Detailgenauigkeit leidet. Dafür wird umso deutlicher, wie Politik und Justiz jahrzehntelang die Verurteilung der Täter verhinderten. FRANK BÖSCH
Andrea Erkenbrecher: Oradour und die Deutschen.
De Gruyter Oldenbourg Verlag, Berlin 2023. 681 S., 84,95 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Nach fast 80 Jahren erscheint die erste wissenschaftliche Monografie über das Massaker von Oradour-sur-Glane. [...] Erkenbrecher [...] erfüllt damit ein Desiderat und scheut dabei weder geschichtspolitische Minenfelder noch gewaltgeschichtliche Details."Konstantin Sakkas in Tagesspiegel, 30.5.2023
"Ihr Buch ist das neue Standardwerk zum Thema Oradour.Jede öffentliche Bücherei, die etwas auf sich hält, muss es in ihren Regalen haben." Hans Holzhaider in: Süddeutsche Zeitung, 7.5.2023