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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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Massenmord im KZ-System als Rationalisierungsprozess
Alfons Stachel hatte kein schönes Leben. Er wurde 1899 in Danzig geboren, lernte das Maurerhandwerk, war ein Fall für die Fürsorge und Soldat im Ersten Weltkrieg. Nach dem Krieg saß er immer wieder im Gefängnis. Für die Nationalsozialisten war er ein notorischer Verbrecher, der ins Konzentrationslager gehörte. 1935 kam Stachel in das KZ Esterwegen, wo er sterilisiert wurde. Von Esterwegen ging es in die KZ Sachsenhausen, Flossenbürg und Dachau. Ab 1944 wurde er zwischen unterschiedlichen Lagern hin- und hergeschoben. Im Januar 1945 befand er sich im Außenlager Ohrdruf, wo sich seine Spur verliert. Stachel hat im letzten Kriegsjahr genau das als Häftling erleben müssen, was Stefan Hördler jetzt kenntnisreich schildert. Der Leiter der Gedenkstätte Mittelbau-Dora zeigt in seiner Studie, dass das Lagersystem der SS bis in das Jahr 1945 grausam funktionierte. Die oft verbreitete Meinung, gegen Ende des Krieges habe Chaos in einem kollabierenden KZ-System geherrscht, kann der Autor faktenreich widerlegen.
Er geht sogar einen Schritt weiter und betont die ununterbrochene Kontrolle der SS, der es gelang, das KZ-System noch einmal grundlegend neu zu ordnen und zu dezentralisieren. Die Hauptlager nahmen an Bedeutung ab, wogegen die zahlreich eingerichteten Außenlager, vornehmlich zur Waffenherstellung durch Sklavenarbeit, an Bedeutung gewannen. Die SS reagierte mit hoher Flexibilität auf neue innere und äußere Anforderungen und gewährleistete fast bis zum Kriegsende die Zwangsarbeit der Häftlinge. Eine signifikante Steigerung der Rüstungsproduktion blieb aber aus.
Diese als "Ökonomisierung" der Lager begriffene Neuausrichtung schloss auch den tausendfachen Mord an kranken und arbeitsunfähigen Häftlingen ein. Neuordnung und Massenmord, Ordnung und Inferno kennzeichnet Hördler mit dem Begriff "Rationalisierung". Er abstrahiert damit teilweise Mechanismen und Modelle aus dem Bereich der Wirtschaftswissenschaften auf das System der KZ. Es geht um Rationalisierung, Reduktion, Stabilisierung, Expansion, Kapazitäten und Ressourcen. Ideologische oder politische Faktoren spielten demnach kaum eine Rolle. Die Praxis in den Lagern sei im letzten Kriegsjahr bestimmt worden durch das "pragmatische Ordnungsbedürfnis der SS".
Der Gebrauch einer nüchternen Wirtschaftssprache läuft Gefahr, den Eindruck zu erwecken, es gehe eher um einen in Schieflage geratenen Konzern und den Versuch von Managern, diesen wieder auf Kurs zu bringen. Dann muss man sich vergegenwärtigen: Es sind Manager eines millionenfachen Mordes. Wenn der Autor schreibt, der Mord an arbeitsunfähigen Häftlingen sei "aus der Bedrängnis heraus eine gleichsam systemimmanent-pragmatische Lösung der Lager-SS" gewesen, um auf die Erhöhung der Häftlingszahlen und das gleichzeitige Sinken der Lagerkapazitäten zu reagieren, ist das inhaltlich nachvollziehbar. Aber für manche Leser wird es nicht einfach sein, das massenhafte Sterben derart kühl bilanziert zu bekommen. Morde aus der "Bedrängnis" heraus.
Die SS setzte einen irrationalen Vernichtungswillen in den Lagern rational um. Dazwischen sollte man immer wieder unterscheiden. Die Neuordnung des Lagersystems 1944/45 kann Hördler mit intensiven Recherchen zu den verantwortlichen SS-Männern weiter differenzieren. Aufgrund umfangreicher Quellenbelege gelingt es ihm, diese SS-Netzwerke im KZ-System von 1933 bis 1945 sichtbar zu machen. Solche gewachsenen "Vernichtungsnetzwerke" waren laut Hördler wesentlich mitbestimmend für die Abläufe in den KZ. Für den Aufbau personaler Netzwerke sei nicht nur das KZ Dachau entscheidend gewesen, welches seit langer Zeit in der Forschung als dominierende SS-Kaderschmiede angesehen wird, sondern vor allem auch das bisher wenig beachtete KZ Lichtenburg.
Nun basierte die Machtkontrolle der Nationalsozialisten zu großen Teilen und auf fast allen Gebieten auf personalen Netzwerken und einem System von Patronage und Protektion. Die SS machte da erwartungsgemäß keinen Unterschied. Hördler zeichnet dies in einer bisher nicht gekannten Weise detailliert und äußerst sachkundig für den Bereich der Lager-SS nach. Dabei untersucht er vor allem die internen Befehlsabläufe der SS-Organisation und die Netzwerke der Täter. Dieser Ansatz ist nachvollziehbar, denn nur die Auseinandersetzung mit den Tätern kann Antworten geben auf die Fragen nach Ursachen und Entwicklungen. Die Opfer bleiben dagegen fast unsichtbar. Menschen wie Alfons Stachel kommen so gut wie nicht vor. Manche Leserkreise werden das als zu einseitig empfinden. Ob ein breites Publikum der Herangehensweise Hördlers folgt, wird sich zeigen; für die KZ-Forschung ist sie ein wichtiger Impuls.
SEBASTIAN WEITKAMP
Stefan Hördler: Ordnung und Inferno. Das KZ-System im letzten Kriegsjahr. Wallstein Verlag, Göttingen 2015. 531 S., 46,- [Euro].
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