1921 reiste der später weltberühmte Autor John Dos Passos durch den Orient - schon damals eine hochexplosive Gegend - und hielt seine Eindrücke in einem Tagebuch fest. Diese abenteuerliche Reise führte den damals 25-Jährigen von der Türkei über Georgien, Armenien, den Iran und den Irak bis nach Syrien. Sein packender Bericht liest sich wie eine Mischung aus Abenteuerroman und der hellsichtigen Analyse eines dramatischen Umbruchs, der bis heute fortwirkt. Geschrieben in knapper Präzision, mit ansteckender Neugier und Beobachtungsgabe, ist das Werk, mit dem Dos Passos dabei war, zu einem der wichtigsten Schriftsteller der amerikanischen Moderne zu werden, jetzt erstmals auf Deutsch zu entdecken.
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Rezensent Jens Uthoff schätzt John Dos Passos bereits als Großstadtautor, eine neue, ziemlich aufregende Facette gewinnt er diesem erstmals in deutscher Übersetzung vorliegendem Frühwerk ab. Darin schildert Dos Passos seine Erlebnisse auf einer Reise durch den Orient in den frühen 20ern und gibt sich als jugendlicher "Sinnsucher" zu erkennen. Und dies, schwärmt Uthoff, ist nichts weniger als ein literarischer Hochgenuss. Zum Beispiel wegen der - auch in Matthias Fienborks sorgfältiger Übersetzung wohlgeratenen - zahlreichen Wortneuschöpfungen, aber auch, weil Don Passos sich zwar einerseits in die Tradition der klassischen Reiseliteratur stelle, andererseits aber den Boden bereite, den später die Beatniks bestellt hätten. Interessant in dem "bisweilen schnell und atemlos" erzählten Buch findet der Rezensent aber auch den Versuch einer Kapitalismuskritik, die Dos Passos an der orientalischen Kultur schärfe, wo die Dinge in den Dienst des Menschen gestellt werden und nicht der Mensch in den Dienst der Produktion von Dingen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.03.2013Auf ein Bier in Babylon
Langes Warten auf den "Orient-Express": John Dos Passos' großartiges Buch über seine Nahost-Reise im Jahr 1921 erscheint jetzt zum ersten Mal auf Deutsch
Dass der Orient als Singular eine Konstruktion des Westens ist, hat sich ja mittlerweile auch im Westen herumgesprochen. Auch dass wir in der Regel viel zu wenig wissen über das, was in der sogenannten islamischen Welt passiert. Weder ist sie so homogen, wie der Sammelbegriff suggeriert, noch ist ihre gegenwärtige Gestalt so alt, wie man denkt. Allein schon um sich darüber klarzuwerden, lohnt es sich, John Dos Passos' Buch "Orient-Express" zu lesen, das jetzt erstmals auf Deutsch erscheint, Jahrzehnte nach der Erstveröffentlichung. Es sind Skizzen und Impressionen von einer Reise durch jene Welt, die wir den Nahen Osten nennen, dessen heute bekannte politische, staatliche und gesellschaftliche Konturen sich 1921 jedoch erst auszubilden begannen.
Man sieht das schon daran, dass Dos Passos vom britisch kontrollierten Istanbul aus durch die Türkei, das heutige Georgien, Armenien und Aserbaidschan, durch Iran und den Irak bis nach Damaskus ohne Passkontrollen reisen konnte, weil die Grenzen nach dem Ersten Weltkrieg und dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches, nach der Oktoberrevolution und den vor allem britisch-französischen Neuaufteilungsplänen, etwas Vorläufiges, fast Imaginäres und vor allem auch sehr Willkürliches hatten, weil sie gewachsene Verbindungen und Strukturen ignorierten oder zerstörten.
Dos Passos, vermutlich der unterschätzteste Autor in der Galerie der großen amerikanischen Modernen, neben Hemingway, Faulkner oder Fitzgerald, hatte auch die nötige Abenteuerlust für diesen Trip, er hatte diesen zeittypischen linksdrehenden Weltverbesserungselan, war unzufrieden mit der industrialisierten Welt und voller Sehnsucht, der Zivilisation den Rücken zu kehren. Obwohl erst 25, hatte er schon eine Menge gesehen von der Welt, zwei Romane geschrieben, eher Reportagen aus dem Ersten Weltkrieg, in dem er sich als Krankenwagenfahrer auf französischer Seite freiwillig gemeldet hatte. Was er notiert in diesen orientalischen Monaten, sind wunderbar flüchtige, mitunter hart montierte Eindrücke, mitunter nicht ganz frei von Romantik und Nostalgie, die schnell in gallige Bemerkungen umschlägt, wenn er schon auf der Zugfahrt von Ostende nach Istanbul die Inszenierung Venedigs für und durch den Tourismus beschreibt, als sei es ein Spezialeffekt im Las Vegas von heute. Dos Passos erkennt so etwas wie das Protostadium der Globalisierung, die Ungleichzeitigkeit von Mittelalter und Moderne; er lauscht einem persischen Reisebegleiter, der für Islamisierung und Industrialisierung, aber gegen die Verwestlichung seines Landes predigt. Und er trinkt in Babylon Münchner Exportbier.
Dos Passos kommentiert nicht viel, er ist nicht so naiv, an den edlen Beduinen zu glauben, will sich aber auch die wilde Schönheit der Wüste nicht nehmen lassen, wenn er 37 Tage lang mit einer Karawane nach Damaskus reist. "Wanderte über eine Anhöhe und lag auf einem breiten Stein in der Sonne und las Martial. Ich bin noch nie so glücklich gewesen", schreibt er am 17. Reisetag. Stoisch erträgt er die Entbehrungen und Verzögerungen, genießt das träge Dahingleiten auf dem Kamelrücken - und zugleich ist ihm die romantische Projektion in seinen Schwärmereien bewusst. Und auf der zweiten Reise, die das Ende von "Orient-Express" bildet, in Marokko, fragt er sich: "Gab es genug Kif auf der Welt, die atemlosen Begierden zu ertränken, den Gedanken an die nächste Sensation, die Feierabendhektik von Bahnhöfen, den Irrsinn der Städte in der Dämmerung, die Räder, die Maschinen, das endlos abrollende Druckpapier?"
Im Grunde kennt Dos Passos die Antwort längst, aber es ist das Schöne an seiner Prosa, dass er zwischen Teheran und Tiflis, Täbris und Bagdad Dinge notiert, ohne etwas abrunden, definieren, beantworten zu wollen. Man möchte gar nicht aufhören zu zitieren, so klar, präzise und klug sind viele seiner Beobachtungen. Und es ist auch ziemlich klar, dass Dos Passos hier die Techniken benutzt, die in seinen berühmtesten Büchern, "Manhattan Transfer" (1925) und der Trilogie "U.S.A." aus den späten dreißiger Jahren, auftauchen. Es wird gern von seinem "Kameraauge" geredet, von Schwenks oder Überblendungen, weil die filmische Metaphorik nun mal so gut klingt. Aber zunächst mal ist es ein literarisches Verfahren, das hier ausprobiert wird. Und da stehen dann lange Passagen aus Gedichten von Blaise Cendrars neben einem Brief aus einer Istanbuler Zeitung, da werden Gerüche aufs Genaueste beschrieben, um dann, im "Roten Kaukasus", über die "Dämmerung der Dinge" zu philosophieren, über "ein nacktes und gottloses Leben, in dem Güter und Institutionen für gesunde Menschen hergerichtet werden und nicht Menschen fein gemahlen und gesiebt werden im Dienst der Dinge".
Und so reist man begeistert durch diese verschollene, ferne Welt, die dann auf einmal wieder ganz nah, ganz präsent sein kann. Das ist sogar besser als vier Kinostunden mit "Lawrence von Arabien".
PETER KÖRTE
John Dos Passos: "Orient-Express". Aus dem Englischen von Matthias Fienbork. Mit einem Nachwort von Stefan Weidner. Nagel & Kimche, 208 Seiten, 18,90 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Langes Warten auf den "Orient-Express": John Dos Passos' großartiges Buch über seine Nahost-Reise im Jahr 1921 erscheint jetzt zum ersten Mal auf Deutsch
Dass der Orient als Singular eine Konstruktion des Westens ist, hat sich ja mittlerweile auch im Westen herumgesprochen. Auch dass wir in der Regel viel zu wenig wissen über das, was in der sogenannten islamischen Welt passiert. Weder ist sie so homogen, wie der Sammelbegriff suggeriert, noch ist ihre gegenwärtige Gestalt so alt, wie man denkt. Allein schon um sich darüber klarzuwerden, lohnt es sich, John Dos Passos' Buch "Orient-Express" zu lesen, das jetzt erstmals auf Deutsch erscheint, Jahrzehnte nach der Erstveröffentlichung. Es sind Skizzen und Impressionen von einer Reise durch jene Welt, die wir den Nahen Osten nennen, dessen heute bekannte politische, staatliche und gesellschaftliche Konturen sich 1921 jedoch erst auszubilden begannen.
Man sieht das schon daran, dass Dos Passos vom britisch kontrollierten Istanbul aus durch die Türkei, das heutige Georgien, Armenien und Aserbaidschan, durch Iran und den Irak bis nach Damaskus ohne Passkontrollen reisen konnte, weil die Grenzen nach dem Ersten Weltkrieg und dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches, nach der Oktoberrevolution und den vor allem britisch-französischen Neuaufteilungsplänen, etwas Vorläufiges, fast Imaginäres und vor allem auch sehr Willkürliches hatten, weil sie gewachsene Verbindungen und Strukturen ignorierten oder zerstörten.
Dos Passos, vermutlich der unterschätzteste Autor in der Galerie der großen amerikanischen Modernen, neben Hemingway, Faulkner oder Fitzgerald, hatte auch die nötige Abenteuerlust für diesen Trip, er hatte diesen zeittypischen linksdrehenden Weltverbesserungselan, war unzufrieden mit der industrialisierten Welt und voller Sehnsucht, der Zivilisation den Rücken zu kehren. Obwohl erst 25, hatte er schon eine Menge gesehen von der Welt, zwei Romane geschrieben, eher Reportagen aus dem Ersten Weltkrieg, in dem er sich als Krankenwagenfahrer auf französischer Seite freiwillig gemeldet hatte. Was er notiert in diesen orientalischen Monaten, sind wunderbar flüchtige, mitunter hart montierte Eindrücke, mitunter nicht ganz frei von Romantik und Nostalgie, die schnell in gallige Bemerkungen umschlägt, wenn er schon auf der Zugfahrt von Ostende nach Istanbul die Inszenierung Venedigs für und durch den Tourismus beschreibt, als sei es ein Spezialeffekt im Las Vegas von heute. Dos Passos erkennt so etwas wie das Protostadium der Globalisierung, die Ungleichzeitigkeit von Mittelalter und Moderne; er lauscht einem persischen Reisebegleiter, der für Islamisierung und Industrialisierung, aber gegen die Verwestlichung seines Landes predigt. Und er trinkt in Babylon Münchner Exportbier.
Dos Passos kommentiert nicht viel, er ist nicht so naiv, an den edlen Beduinen zu glauben, will sich aber auch die wilde Schönheit der Wüste nicht nehmen lassen, wenn er 37 Tage lang mit einer Karawane nach Damaskus reist. "Wanderte über eine Anhöhe und lag auf einem breiten Stein in der Sonne und las Martial. Ich bin noch nie so glücklich gewesen", schreibt er am 17. Reisetag. Stoisch erträgt er die Entbehrungen und Verzögerungen, genießt das träge Dahingleiten auf dem Kamelrücken - und zugleich ist ihm die romantische Projektion in seinen Schwärmereien bewusst. Und auf der zweiten Reise, die das Ende von "Orient-Express" bildet, in Marokko, fragt er sich: "Gab es genug Kif auf der Welt, die atemlosen Begierden zu ertränken, den Gedanken an die nächste Sensation, die Feierabendhektik von Bahnhöfen, den Irrsinn der Städte in der Dämmerung, die Räder, die Maschinen, das endlos abrollende Druckpapier?"
Im Grunde kennt Dos Passos die Antwort längst, aber es ist das Schöne an seiner Prosa, dass er zwischen Teheran und Tiflis, Täbris und Bagdad Dinge notiert, ohne etwas abrunden, definieren, beantworten zu wollen. Man möchte gar nicht aufhören zu zitieren, so klar, präzise und klug sind viele seiner Beobachtungen. Und es ist auch ziemlich klar, dass Dos Passos hier die Techniken benutzt, die in seinen berühmtesten Büchern, "Manhattan Transfer" (1925) und der Trilogie "U.S.A." aus den späten dreißiger Jahren, auftauchen. Es wird gern von seinem "Kameraauge" geredet, von Schwenks oder Überblendungen, weil die filmische Metaphorik nun mal so gut klingt. Aber zunächst mal ist es ein literarisches Verfahren, das hier ausprobiert wird. Und da stehen dann lange Passagen aus Gedichten von Blaise Cendrars neben einem Brief aus einer Istanbuler Zeitung, da werden Gerüche aufs Genaueste beschrieben, um dann, im "Roten Kaukasus", über die "Dämmerung der Dinge" zu philosophieren, über "ein nacktes und gottloses Leben, in dem Güter und Institutionen für gesunde Menschen hergerichtet werden und nicht Menschen fein gemahlen und gesiebt werden im Dienst der Dinge".
Und so reist man begeistert durch diese verschollene, ferne Welt, die dann auf einmal wieder ganz nah, ganz präsent sein kann. Das ist sogar besser als vier Kinostunden mit "Lawrence von Arabien".
PETER KÖRTE
John Dos Passos: "Orient-Express". Aus dem Englischen von Matthias Fienbork. Mit einem Nachwort von Stefan Weidner. Nagel & Kimche, 208 Seiten, 18,90 Euro
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Ein revolutionäres, atemberaubendes Buch (...). Fritz Göttler Süddeutsche Zeitung 20160607