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Ein Buch über Osteuropa zwischen Mauerfall und Ukrainekrieg, das nicht ganz hält, was es verspricht.
Von Reinhard Veser
Als im Herbst 1989 in Berlin die Mauer fiel und in Ostmitteleuropa innerhalb weniger Wochen die kommunistischen Regime stürzten, brach eine Zeit der Hoffnung an - der Hoffnung auf ein Europa ohne Grenzen und Barrieren, in dem die Menschen frei und die Beziehungen der Staaten von Frieden und gegenseitigem Vertrauen geprägt sein würden. Zwischen den großen Träumen und der Wirklichkeit tat sich schon bald ein tiefer Riss auf. Der Übergang von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft ging in ganz Osteuropa mit tiefen sozialen und gesellschaftlichen Krisen einher; vielerorts brachen alte nationale und ethnische Konflikte wieder auf, die in Jugoslawien und einigen ehemaligen Sowjetrepubliken mit Waffengewalt ausgetragen wurden. Aber die Rhetorik der Wendejahre blieb in der europäischen Politik lange erhalten. Sie begleitete die Ost-Erweiterung von EU und NATO und wurde im Verhältnis zwischen dem Westen und Russland von manchen Politikern selbst dann noch lange gepflegt, als sie mit der Realität schon nichts mehr zu tun hatte. In den Nachrufen auf Michail Gorbatschow wurde auch der Hoffnungen der Wendejahre melancholisch gedacht - und zugleich oft die Brüche und Widersprüche im Handeln des letzten Staats- und Parteichefs der Sowjetunion übersehen.
"Der Einmarsch der russischen Truppen in die Ukraine markiert das Ende aller Illusionen, die vor allem die Westeuropäer sich gemacht hatten", heißt es zu Beginn von "Osteuropa zwischen Mauerfall und Ukrainekrieg". Das Buch soll - so der Untertitel - die "Besichtigung einer Epoche" sein, die 1989 begann und mit dem Beginn des Krieges gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 zu Ende gegangen ist. Verfasst wurde der Band von dem Kulturwissenschaftler Ulrich Schmid, dem Politikwissenschaftler Andreas Heinemann-Grüder, dem Historiker Martin Aust und der Juristin Angelika Nußberger. Alle vier sind herausragende Kenner Osteuropas, die zudem schon vielfach bewiesen haben, dass sie gut lesbar und klar schreiben können. Das weckt hohe Erwartungen. Die werden leider nicht ganz erfüllt.
Nur das von Angelika Nußberger verfasste Kapitel über die Entwicklung des Rechts in Osteuropa wird der in der Einleitung selbst gestellten Aufgabe voll gerecht, ein "differenziertes und zugleich pointiertes Bild" jener Jahrzehnte zu zeichnen. Die historischen Voraussetzungen für die Umwälzung ganzer Rechtssysteme, die auf das Ende der kommunistischen Diktaturen folgte, die Übernahme von im Westen geprägten rechtlichen Begriffen sowie die Bedeutungsänderungen, die sie in Ländern mit anderen gesellschaftlichen und kulturellen Kontexten erfahren haben, und die Instrumentalisierung des Rechts durch unterschiedliche Politiker mit autoritären Neigungen schildert sie kompakt, anschaulich und differenziert. Nußberger zeigt, wie rechtliche, politische und gesellschaftliche Entwicklungen ineinandergreifen und wie sich Brüche gerade im Bereich des Rechts schon andeuteten, bevor sie zu offenen Konflikten wurden - sei es bei Auseinandersetzungen innerhalb der Europäischen Union wie dem Streit über Polens Justizreform, sei es bei der Abkehr Russlands von dem Versuch, einen Rechtsstaat nach westlichem Vorbild zu schaffen.
Die übrigen Kapitel kranken daran, dass die Autoren sich nicht entscheiden konnten, ob sie über die Entwicklungen oder über deren sich verändernde Wahrnehmung in der Wissenschaft schreiben wollen. Vor allem die Beiträge von Andreas Heinemann-Grüder und Martin Aust sind über weite Strecken Auseinandersetzungen mit den Wegen und Irrwegen ihrer Fächer. Wer nicht schon Kenntnisse in Politik und Geschichte Osteuropas und eine gewisse Vertrautheit mit wesentlichen Tendenzen in Politikwissenschaft und Geschichtsschreibung mitbringt, kann mit diesen Passagen wohl wenig anfangen. Dabei stellen die Autoren zu Recht immer wieder fest, dass Debatten der deutschen Öffentlichkeit über den Osten Europas oft durch das Fehlen von grundlegendem Wissen gekennzeichnet sind - und ihr Buch ist ja offensichtlich ein Versuch, da Abhilfe zu schaffen.
Dass das nur in Teilen gelingt, ist umso bedauerlicher, als brillante Passagen und kluge Beobachtungen in allen Kapiteln des schmalen Bands zeigen, wozu dieses Autorenquartett in der Lage ist. Ulrich Schmids Darstellung der "Erfindung Osteuropas" im Westen, Andreas Heinemann-Grüders Kritik am westlichen Herangehen an die Transformation in Osteuropa, das oft die Lebenswirklichkeiten dieser Region ausgeblendet hat, Martin Austs Überlegungen zu den Gründen für die Ahnungslosigkeit, mit der in der deutschen Öffentlichkeit über die Ukraine (und nicht nur sie) geredet wird, und Angelika Nußbergers Hinweis auf Veränderungen in der (west-)europäischen Rechtsprechung, bei denen die Osteuropäer einfach nicht mitgenommen wurden, bilden einen roten Faden, der sich durch das Buch zieht: Die Beziehungen zwischen dem alten Westen und den verschiedenen Teilen Osteuropas werden immer auch aus der Sicht des Ostens gedacht.
"Für die Selbstgewissen auf der einen und die Verunsicherten auf der anderen Seite ist es schwer, eine gemeinsame Sprache zu finden", schreibt Angelika Nußberger. Die oft in Überheblichkeit umschlagende und mit einer gewissen Doppelmoral einhergehende Selbstgewissheit des Westens ist ein wesentlicher Grund dafür, dass die europäische Politik den aggressiven Ambitionen Wladimir Putins trotz vieler Warnungen aus Ostmitteleuropa nicht rechtzeitig entgegengetreten ist. Das wird in dem Buch in jedem Kapitel gut begründet deutlich - und das ist ein Grund, weshalb man ihm trotz seiner großen Schwächen viele Leser wünscht.
Angelika Nußberger / Martin Aust / Andreas Heinemann-Grüder / Ulrich Schmid: "Osteuropa zwischen Mauerfall und Ukrainekrieg". Besichtigung einer Epoche.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2022. 254 S., br., 18,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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