Inside a luxury housing complex, two misfit teenagers sneak around and get drunk. Franco Andrade, lonely, overweight, and addicted to porn, obsessively fantasizes about seducing his neighbor – an attractive married woman and mother – while Polo dreams about quitting his gruelling job as a gardener within the gated community and fleeing his overbearing mother and their narco-controlled village. Each facing the impossibility of getting what he thinks he deserves, Franco and Polo hatch a mindless and macabre scheme. Written in a chilling torrent of prose by one of our most thrilling new writers, Paradais explores the explosive fragility of Mexican society – fractured by issues of race, class and violence – and how the myths, desires, and hardships of teenagers can tear life apart at the seams.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.09.2021Die Sklaverei des Narkokapitalismus
Willkommen in der mexikanischen Dorfhölle: Fernanda Melchors Intimpanorama der Einsamkeiten und giftigen Begierden
Das Paradies an sich ist schon nicht auszuhalten. Doch im Garten des Paradieses den Rasen mähen zu müssen ist die Hölle auf Erden. Mit dieser Einsicht ist der sechzehnjährige Polo konfrontiert, Hilfsgärtner des Paradieses. Dieses ist natürlich im Idiom des gelobten Landes im Norden auszusprechen: Paradais. So lautet gemäß Polos brüchig alphabetisiertem Hörverständnis der Name einer gated community irgendwo am Golf von Mexiko. Hier hat der Geldadel von Veracruz sich verbunkert. Mit dem Flammenschwert werden all die aus ihm vertrieben, die mit der eigentlichen Erbsünde befleckt sind: über kein Erbe zu verfügen.
Besitzlose, Hungerleider und Versager, so wie Polo, sind allenfalls als Dienstleister geduldet. Als "Personal", wie sein ausbeuterischer Chef, Verwalter Urquiza, es nennt, während er sich diskret die Trinkgelder seiner Untergebenen in die eigene Tasche steckt. Für Polo kommt das ohnehin auf dasselbe hinaus: Sein Gehalt wird von der prügelfreudigen Mutter einkassiert. Durch Beziehungen zur Paradiesverwaltung hat sie ihn ja in diesen Arbeitsplatz gezwungen, damit er, Schulabbrecher und Nichtsnutz, irgendetwas zum Unterhalt der Familie beiträgt. Zumal Zuwachs vor der Tür steht. Seine Cousine hat sich hochschwanger in den Haushalt eingenistet. Und was Polo bang fürchtet, was die Mutter nicht ahnt: um womöglich Polos eigenes Kind auf die Welt zu bringen. Dem Horror dieser ärmlichen Dorfhölle nur einen Steinwurf jenseits von Eden sucht Polo nach Dienstschluss zu entkommen. Statt nach Hause zu fahren, besäuft er sich mit Franco Andrade, dem verwahrlosten gleichaltrigen Spross einer der Paradiesbesitzer-Familien. Auch Franco klammert sich an den allabendlichen Absturz. Playstation und Pornovideos im Netz bilden sonst die einzige Alternative in Einsamkeit und endlosen Öden des Edens.
Ein solches Paradais könnte das sozialrealistische und metaphernschwere Schwarz-Weiß-Gemälde von Ausbeutern und Ausgebeuteten in einem sozial engagierten Drama ergeben. Könnte sich die Fortsetzung von Buñuels jugendlichen Vergessenen in der neoliberalen Gegenwart auf die Fahnen schreiben. Die literarische Geglücktheit, aber zugleich das Unheimliche des Romans von Fernanda Melchor besteht darin, sich diesen Mechanismen engagierter Wohlgemeintheit zu widersetzen. Den stereotypen Manichäismus von Tätern und Opfern, von gierigem Eigennutz und Not der sozialen Umstände unterwandert die Autorin von der ersten Seite an. Denn das giftige Paradies, das von den Fluten des von Industrie- und Düngerückständen verseuchten Río Jamapa durchströmt wird, ist auch für diejenigen eine Hölle, die es als Herrscher bewohnen. Die Täter sind selbst Opfer und treiben gerade so die Opfer zur Täterschaft.
Erlebbar wird dies exemplarisch am pubertierenden Franco: Pickelig, fettleibig, fistelstimmig, ein von Pornoseiten besessener Jungalkoholiker, ist "der Dicke", "El Gordo", wie Polo ihn stets nur abschätzig nennt, alles andere als der Gewinner des Systems, zu dem ihn seine Herkunft als Sohn eines Staranwalts eigentlich prädestiniert. Noch dazu wird Franco verzehrt von einer frenetischen Begierde nach der mittelalten Mutter der Nachbarskinder. Gehemmt und verklemmt, schüttelt er sich sein verzweifeltes Sehnen in stundenlangen Masturbationsstafetten vom Leib und nutzt die Treffen mit Polo als Übungen in gymnastischer Verbalerotik.
Doch die Fantasie drängt nach Inkarnation, den Worten sollen Taten folgen. Und dafür braucht er einen Komplizen. Voll Verachtung für seinen jämmerlichen Gleichaltrigen - mehr denn voll Ressentiment gegen den Klassenfeind - und zugleich begierig nach Kriegsbeute lässt sich Polo locken. Schließlich wäre sein wahrer Traum, sich ganz freiwillig der Narko-Gruppe anzuschließen, die seinen Cousin Milton nur unter Folter zum Beitritt gezwungen hat. Er hat nichts zu verlieren. Und auch kein Gefühl der Reue, kein Gefühl der Verantwortung. "Der Dicke war an allem schuld, das würde er ihnen sagen", lautet der erste Satz des Buches und das rekurrente Credo.
Wie schon in ihrem ersten auf Deutsch erschienenen Roman "Saison der Wirbelstürme" ist Fernanda Melchor in ihren messerscharfen Szenen aus dem Leben in der Provinz, wie Balzac es genannt hätte, in jedem Moment eindrücklich, präzise und zugleich hoffnungslos. In einer klaustrophoben Welt, deren einzige Wahlmöglichkeit zwischen der Freiheitsberaubung durch entfremdete Arbeit, durch Drogenkartelle oder aber durch die privaten Kerker der Familienmachtstrukturen besteht, bleibt keinerlei Option auf selbstbestimmtes Handeln. Im Narkokapitalismus ist die moderne Sklaverei zur Wirklichkeit geworden und Hölderlins Vers "Und es ehret der Knecht nur den Gewaltsamen" ihre schulterzuckende Staatsdoktrin. Anders als in dem breiter angelegten Panorama ihres vielfach preisgekrönten vorigen Romans entwirft Fernanda Melchor allerdings kein figurenreiches Provinzinferno. Fast kammerspiel- oder auch novellenhaft macht sie ihren zwei Hauptfiguren innerhalb der Zäune Edens eine Intimhölle heiß. Das nimmt dem Erzählten einerseits etwas Farbe, lädt es aber mit minimalistischer Intensität auf.
Gezielt polt Melchor dabei insbesondere die angestammten Muster der Schilderung von Sexualität, Gewalt und sexualisierter Gewalt um. Francos Fantasien oder Polos frenetische Kopulationen wider Willen bewegen sich in einem sprachlichen Register, das lang unter dem Schlagwort "Schmutziger Realismus" von Charles Bukowski bis Pedro Juan Gutiérrez ein unhinterfragtes Monopol männlichen Schreibens war. Meist als Glorifizierung einer vitalen männlichen Sexualität. Bei Fernanda Melchor bringt ebendieses männliche Begehren seine vergiftende Tödlichkeit ans Licht.
Dabei stellt sie nicht selten die Vorläufer auch an expliziter - und von Angelica Ammar höchst glaubwürdig ins Deutsche übertragener - Drastik der Darstellung noch in den Schatten. Vom Vitalismus der dirty old men bleibt nur die Ruinenlandschaft einer zutiefst fragmentierten männlichen Sexualität, die das tägliche Gewalterlebnis spiegelhaft reproduziert. Wenn Klaus Theweleits Männerfantasien eine künstlerische Ausgestaltung im 21. Jahrhundert suchten, fänden sie in Fernanda Melchors Prosa ihre gleichermaßen meisterliche wie hypnotisch abstoßende Transposition. FLORIAN BORCHMEYER
Fernanda Melchor: "Paradais". Roman.
Aus dem Spanischen von Angelica Ammar. Wagenbach Verlag, Berlin 2021. 144 S., br., 18,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Willkommen in der mexikanischen Dorfhölle: Fernanda Melchors Intimpanorama der Einsamkeiten und giftigen Begierden
Das Paradies an sich ist schon nicht auszuhalten. Doch im Garten des Paradieses den Rasen mähen zu müssen ist die Hölle auf Erden. Mit dieser Einsicht ist der sechzehnjährige Polo konfrontiert, Hilfsgärtner des Paradieses. Dieses ist natürlich im Idiom des gelobten Landes im Norden auszusprechen: Paradais. So lautet gemäß Polos brüchig alphabetisiertem Hörverständnis der Name einer gated community irgendwo am Golf von Mexiko. Hier hat der Geldadel von Veracruz sich verbunkert. Mit dem Flammenschwert werden all die aus ihm vertrieben, die mit der eigentlichen Erbsünde befleckt sind: über kein Erbe zu verfügen.
Besitzlose, Hungerleider und Versager, so wie Polo, sind allenfalls als Dienstleister geduldet. Als "Personal", wie sein ausbeuterischer Chef, Verwalter Urquiza, es nennt, während er sich diskret die Trinkgelder seiner Untergebenen in die eigene Tasche steckt. Für Polo kommt das ohnehin auf dasselbe hinaus: Sein Gehalt wird von der prügelfreudigen Mutter einkassiert. Durch Beziehungen zur Paradiesverwaltung hat sie ihn ja in diesen Arbeitsplatz gezwungen, damit er, Schulabbrecher und Nichtsnutz, irgendetwas zum Unterhalt der Familie beiträgt. Zumal Zuwachs vor der Tür steht. Seine Cousine hat sich hochschwanger in den Haushalt eingenistet. Und was Polo bang fürchtet, was die Mutter nicht ahnt: um womöglich Polos eigenes Kind auf die Welt zu bringen. Dem Horror dieser ärmlichen Dorfhölle nur einen Steinwurf jenseits von Eden sucht Polo nach Dienstschluss zu entkommen. Statt nach Hause zu fahren, besäuft er sich mit Franco Andrade, dem verwahrlosten gleichaltrigen Spross einer der Paradiesbesitzer-Familien. Auch Franco klammert sich an den allabendlichen Absturz. Playstation und Pornovideos im Netz bilden sonst die einzige Alternative in Einsamkeit und endlosen Öden des Edens.
Ein solches Paradais könnte das sozialrealistische und metaphernschwere Schwarz-Weiß-Gemälde von Ausbeutern und Ausgebeuteten in einem sozial engagierten Drama ergeben. Könnte sich die Fortsetzung von Buñuels jugendlichen Vergessenen in der neoliberalen Gegenwart auf die Fahnen schreiben. Die literarische Geglücktheit, aber zugleich das Unheimliche des Romans von Fernanda Melchor besteht darin, sich diesen Mechanismen engagierter Wohlgemeintheit zu widersetzen. Den stereotypen Manichäismus von Tätern und Opfern, von gierigem Eigennutz und Not der sozialen Umstände unterwandert die Autorin von der ersten Seite an. Denn das giftige Paradies, das von den Fluten des von Industrie- und Düngerückständen verseuchten Río Jamapa durchströmt wird, ist auch für diejenigen eine Hölle, die es als Herrscher bewohnen. Die Täter sind selbst Opfer und treiben gerade so die Opfer zur Täterschaft.
Erlebbar wird dies exemplarisch am pubertierenden Franco: Pickelig, fettleibig, fistelstimmig, ein von Pornoseiten besessener Jungalkoholiker, ist "der Dicke", "El Gordo", wie Polo ihn stets nur abschätzig nennt, alles andere als der Gewinner des Systems, zu dem ihn seine Herkunft als Sohn eines Staranwalts eigentlich prädestiniert. Noch dazu wird Franco verzehrt von einer frenetischen Begierde nach der mittelalten Mutter der Nachbarskinder. Gehemmt und verklemmt, schüttelt er sich sein verzweifeltes Sehnen in stundenlangen Masturbationsstafetten vom Leib und nutzt die Treffen mit Polo als Übungen in gymnastischer Verbalerotik.
Doch die Fantasie drängt nach Inkarnation, den Worten sollen Taten folgen. Und dafür braucht er einen Komplizen. Voll Verachtung für seinen jämmerlichen Gleichaltrigen - mehr denn voll Ressentiment gegen den Klassenfeind - und zugleich begierig nach Kriegsbeute lässt sich Polo locken. Schließlich wäre sein wahrer Traum, sich ganz freiwillig der Narko-Gruppe anzuschließen, die seinen Cousin Milton nur unter Folter zum Beitritt gezwungen hat. Er hat nichts zu verlieren. Und auch kein Gefühl der Reue, kein Gefühl der Verantwortung. "Der Dicke war an allem schuld, das würde er ihnen sagen", lautet der erste Satz des Buches und das rekurrente Credo.
Wie schon in ihrem ersten auf Deutsch erschienenen Roman "Saison der Wirbelstürme" ist Fernanda Melchor in ihren messerscharfen Szenen aus dem Leben in der Provinz, wie Balzac es genannt hätte, in jedem Moment eindrücklich, präzise und zugleich hoffnungslos. In einer klaustrophoben Welt, deren einzige Wahlmöglichkeit zwischen der Freiheitsberaubung durch entfremdete Arbeit, durch Drogenkartelle oder aber durch die privaten Kerker der Familienmachtstrukturen besteht, bleibt keinerlei Option auf selbstbestimmtes Handeln. Im Narkokapitalismus ist die moderne Sklaverei zur Wirklichkeit geworden und Hölderlins Vers "Und es ehret der Knecht nur den Gewaltsamen" ihre schulterzuckende Staatsdoktrin. Anders als in dem breiter angelegten Panorama ihres vielfach preisgekrönten vorigen Romans entwirft Fernanda Melchor allerdings kein figurenreiches Provinzinferno. Fast kammerspiel- oder auch novellenhaft macht sie ihren zwei Hauptfiguren innerhalb der Zäune Edens eine Intimhölle heiß. Das nimmt dem Erzählten einerseits etwas Farbe, lädt es aber mit minimalistischer Intensität auf.
Gezielt polt Melchor dabei insbesondere die angestammten Muster der Schilderung von Sexualität, Gewalt und sexualisierter Gewalt um. Francos Fantasien oder Polos frenetische Kopulationen wider Willen bewegen sich in einem sprachlichen Register, das lang unter dem Schlagwort "Schmutziger Realismus" von Charles Bukowski bis Pedro Juan Gutiérrez ein unhinterfragtes Monopol männlichen Schreibens war. Meist als Glorifizierung einer vitalen männlichen Sexualität. Bei Fernanda Melchor bringt ebendieses männliche Begehren seine vergiftende Tödlichkeit ans Licht.
Dabei stellt sie nicht selten die Vorläufer auch an expliziter - und von Angelica Ammar höchst glaubwürdig ins Deutsche übertragener - Drastik der Darstellung noch in den Schatten. Vom Vitalismus der dirty old men bleibt nur die Ruinenlandschaft einer zutiefst fragmentierten männlichen Sexualität, die das tägliche Gewalterlebnis spiegelhaft reproduziert. Wenn Klaus Theweleits Männerfantasien eine künstlerische Ausgestaltung im 21. Jahrhundert suchten, fänden sie in Fernanda Melchors Prosa ihre gleichermaßen meisterliche wie hypnotisch abstoßende Transposition. FLORIAN BORCHMEYER
Fernanda Melchor: "Paradais". Roman.
Aus dem Spanischen von Angelica Ammar. Wagenbach Verlag, Berlin 2021. 144 S., br., 18,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.11.2021Alle sind arm
oder kriminell
Fernanda Melchors harter, klarer
Mexiko-Roman „Paradais“
Für Polo ist das Paradies die Hölle. Er arbeitet im „Paradais“, einer geschlossenen Wohnanlage in Mexiko für die Reichen und Schönen. Weil so eine Gated Community aber eine sehr irdische Angelegenheit ist, muss irgendwer den Dreck wegräumen, den die Pool-Partys und die Haustiere und die verzogene Brut der Bewohner hinterlassen. Das ist Polos Job. Er muss den Pool sauber halten, aber wie heiß und schwül die Tage auch werden, darin schwimmen darf er nicht.
Hätte er die Schule zu Ende gemacht, hätte seine Mutter nicht seine Cousine aufgenommen, gäbe es für Polo vielleicht irgendeinen Ausweg aus seinem Leben – aber an der Stelle, an der Fernanda Melchor ihren Roman „Paradais“ beginnt, ist für Polo schon alles aus. Er findet, der Dicke ist an allem Schuld. Stimmt aber nicht ganz. Ein Teil der Schuld liegt in den Umständen, und ein Teil ganz allein in Polo selbst. Wer macht sich schon schuldig und weiß um seine Verantwortung? Was Fernanda Melchor aus Polo herausarbeitet, aus dessen Sicht „Paradais“ erzählt ist, ist ein ganz alltäglicher Mechanismus der Schuldverschiebung, nur eben nicht bei einer ganz alltäglichen Tat.
Fernanda Melchor, für ihren vorherigen Roman „Saison der Wirbelstürme“ 2019 mit dem Anna-Seghers-Preis und vom Haus der Kulturen mit dem internationalen Literaturpreis ausgezeichnet, hat ursprünglich Journalismus studiert, sie stammt aus der Gegend, die sie beschreibt; wirklich in die Köpfe hineinsehen, beobachten, wie sich Ohnmacht und Wut und Hoffnungslosigkeit zu einer Aggression gegen Frauen verdichten, das kann man nur in der Fiktion. Sie hat das erfunden, klar – aber der Hintergrund ist ein Land, in dem tatsächlich extreme Ungleichheit mit erschreckenden Mordstatistiken einhergeht.
Polos Leben spielt sich an jener Schnittstelle ab, wo eine gesellschaftliche Verantwortung spürbar da ist – und doch ist ganz deutlich, dass er jede Eigenverantwortung zurückweist. Polo ist aggressiv, misogyn, voller Hass und vollständig unfähig, in sich selbst irgendetwas anderes zu sehen als ein Opfer. Er ist als Zentrum der Handlung irgendwie ein Widerling – und gerade deswegen ist es so spannend, seinen Gedanken zu folgen.
Der Dicke, das ist der Enkel reicher Leute aus der Wohnanlage, ein pickeliger Jüngling namens Franco, der seinerseits ein Ausgestoßener in seiner Gemeinde ist – der Vater hat ihn bei den Großeltern geparkt, weil der verzogene Spross von der Schule geflogen ist. Niemand will mit Franco zu tun haben, aber weil er sich immer billigen Fusel besorgen kann von dem Geld, dass er bei seinen Großeltern aus ihren Geldbörsen stibitzt, verbringt Polo seine Abende mit ihm am Flussufer, statt nach Hause zu gehen in sein Dorf. Er kann Franco nicht ausstehen, aber es ist ihm immer noch lieber, besoffen das Gefasel von Franco aushalten zu müssen, als nach Hause zu gehen, wo seine Mutter ihn mit ihren Schlappen schlägt und seine schwangere Cousine sein Bett besetzt. Also hört er Franco zu, wie er seinen Fantasien freien Lauf lässt, die irgendswann Gewaltfantasien werden.
Mit einem ungeheuren Furor lässt Fernanda Melchor in ihrem dritten Roman die Gedanken dieses Jungen vorbeirauschen, der sein Leben verwirkt hat, noch bevor er irgendetwas damit anfangen konnte – ein frauenfeindlicher, gewaltbereiter Wortschwall. In dem Dorf, aus dem Polo kommt, sind alle entweder arm oder kriminell. Irgendwo im Off ist die Stadt, Veracruz, offensichtlich nur ein Katzensprung. Für Polo aber ist sie unerreichbar. Eine andere Arbeit für ihn gibt es nicht. So sind die Verhältnisse in dem Mexiko, das Fernanda Melchor beschreibt, ein Graben trennt Arm und Reich, und nur da, wo die einen die anderen bedienen, berühren sich ihre Welten. Es ist die Chronik eines angekündigten Kontrollverlusts – Polo hat sonst nichts mehr zu verlieren, Macht hat er höchstens über sein eigenes Verhalten anderen gegenüber. Er hat sogar schon versucht, über seinen Cousin bei der mexikanischen Drogenmafia anzuheuern, so verzweifelt ist er. Keiner hat mit Polo auch nur einen Funken Mitleid oder bringt ihm ein Minimum an Respekt entgegen, und so weiß er dann auch gar nicht, was das ist.
Die Verrohung ihres Protagonisten drückt sich schon in seiner Sprache aus, voller Kraftausdrücke, unfähig, Glück oder Schönheit oder Zuneigung auch nur zu benennen. Was Melchor ihn denken lässt, ist eine Art Abspann – alle Details, die ihm noch einfallen, wie es zu der brutalen Bluttat kommt, in die ihr Roman gipfelt. Man kann nicht wirklich erklären, was in jemandem vorgeht, der sich an einer Gewaltorgie beteiligt. Aber wenn man es versucht, dann nur ganz und gar aus seiner Perspektive.
SUSAN VAHABZADEH
Mit ungeheurem Furor lässt
Melchor die Gedanken
dieses Jungen vorbeirauschen
Fernanda Melchor:
Paradais. Roman. Aus dem Spanischen von Agnelica Ammar. Wagenbach Verlag, Berlin 2021.
144 Seiten, 18 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
oder kriminell
Fernanda Melchors harter, klarer
Mexiko-Roman „Paradais“
Für Polo ist das Paradies die Hölle. Er arbeitet im „Paradais“, einer geschlossenen Wohnanlage in Mexiko für die Reichen und Schönen. Weil so eine Gated Community aber eine sehr irdische Angelegenheit ist, muss irgendwer den Dreck wegräumen, den die Pool-Partys und die Haustiere und die verzogene Brut der Bewohner hinterlassen. Das ist Polos Job. Er muss den Pool sauber halten, aber wie heiß und schwül die Tage auch werden, darin schwimmen darf er nicht.
Hätte er die Schule zu Ende gemacht, hätte seine Mutter nicht seine Cousine aufgenommen, gäbe es für Polo vielleicht irgendeinen Ausweg aus seinem Leben – aber an der Stelle, an der Fernanda Melchor ihren Roman „Paradais“ beginnt, ist für Polo schon alles aus. Er findet, der Dicke ist an allem Schuld. Stimmt aber nicht ganz. Ein Teil der Schuld liegt in den Umständen, und ein Teil ganz allein in Polo selbst. Wer macht sich schon schuldig und weiß um seine Verantwortung? Was Fernanda Melchor aus Polo herausarbeitet, aus dessen Sicht „Paradais“ erzählt ist, ist ein ganz alltäglicher Mechanismus der Schuldverschiebung, nur eben nicht bei einer ganz alltäglichen Tat.
Fernanda Melchor, für ihren vorherigen Roman „Saison der Wirbelstürme“ 2019 mit dem Anna-Seghers-Preis und vom Haus der Kulturen mit dem internationalen Literaturpreis ausgezeichnet, hat ursprünglich Journalismus studiert, sie stammt aus der Gegend, die sie beschreibt; wirklich in die Köpfe hineinsehen, beobachten, wie sich Ohnmacht und Wut und Hoffnungslosigkeit zu einer Aggression gegen Frauen verdichten, das kann man nur in der Fiktion. Sie hat das erfunden, klar – aber der Hintergrund ist ein Land, in dem tatsächlich extreme Ungleichheit mit erschreckenden Mordstatistiken einhergeht.
Polos Leben spielt sich an jener Schnittstelle ab, wo eine gesellschaftliche Verantwortung spürbar da ist – und doch ist ganz deutlich, dass er jede Eigenverantwortung zurückweist. Polo ist aggressiv, misogyn, voller Hass und vollständig unfähig, in sich selbst irgendetwas anderes zu sehen als ein Opfer. Er ist als Zentrum der Handlung irgendwie ein Widerling – und gerade deswegen ist es so spannend, seinen Gedanken zu folgen.
Der Dicke, das ist der Enkel reicher Leute aus der Wohnanlage, ein pickeliger Jüngling namens Franco, der seinerseits ein Ausgestoßener in seiner Gemeinde ist – der Vater hat ihn bei den Großeltern geparkt, weil der verzogene Spross von der Schule geflogen ist. Niemand will mit Franco zu tun haben, aber weil er sich immer billigen Fusel besorgen kann von dem Geld, dass er bei seinen Großeltern aus ihren Geldbörsen stibitzt, verbringt Polo seine Abende mit ihm am Flussufer, statt nach Hause zu gehen in sein Dorf. Er kann Franco nicht ausstehen, aber es ist ihm immer noch lieber, besoffen das Gefasel von Franco aushalten zu müssen, als nach Hause zu gehen, wo seine Mutter ihn mit ihren Schlappen schlägt und seine schwangere Cousine sein Bett besetzt. Also hört er Franco zu, wie er seinen Fantasien freien Lauf lässt, die irgendswann Gewaltfantasien werden.
Mit einem ungeheuren Furor lässt Fernanda Melchor in ihrem dritten Roman die Gedanken dieses Jungen vorbeirauschen, der sein Leben verwirkt hat, noch bevor er irgendetwas damit anfangen konnte – ein frauenfeindlicher, gewaltbereiter Wortschwall. In dem Dorf, aus dem Polo kommt, sind alle entweder arm oder kriminell. Irgendwo im Off ist die Stadt, Veracruz, offensichtlich nur ein Katzensprung. Für Polo aber ist sie unerreichbar. Eine andere Arbeit für ihn gibt es nicht. So sind die Verhältnisse in dem Mexiko, das Fernanda Melchor beschreibt, ein Graben trennt Arm und Reich, und nur da, wo die einen die anderen bedienen, berühren sich ihre Welten. Es ist die Chronik eines angekündigten Kontrollverlusts – Polo hat sonst nichts mehr zu verlieren, Macht hat er höchstens über sein eigenes Verhalten anderen gegenüber. Er hat sogar schon versucht, über seinen Cousin bei der mexikanischen Drogenmafia anzuheuern, so verzweifelt ist er. Keiner hat mit Polo auch nur einen Funken Mitleid oder bringt ihm ein Minimum an Respekt entgegen, und so weiß er dann auch gar nicht, was das ist.
Die Verrohung ihres Protagonisten drückt sich schon in seiner Sprache aus, voller Kraftausdrücke, unfähig, Glück oder Schönheit oder Zuneigung auch nur zu benennen. Was Melchor ihn denken lässt, ist eine Art Abspann – alle Details, die ihm noch einfallen, wie es zu der brutalen Bluttat kommt, in die ihr Roman gipfelt. Man kann nicht wirklich erklären, was in jemandem vorgeht, der sich an einer Gewaltorgie beteiligt. Aber wenn man es versucht, dann nur ganz und gar aus seiner Perspektive.
SUSAN VAHABZADEH
Mit ungeheurem Furor lässt
Melchor die Gedanken
dieses Jungen vorbeirauschen
Fernanda Melchor:
Paradais. Roman. Aus dem Spanischen von Agnelica Ammar. Wagenbach Verlag, Berlin 2021.
144 Seiten, 18 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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