John Milton, der seine Dichtung nicht nur neben die Schöpfungsgeschichte stellte, sondern diese auch zu korrigieren wagte, will göttliche Vorsehung begründen: Aus Bösem entsteht Gutes. Er bricht in seinem großen Gesang mit allen Regeln seiner Zeit, lässt vertrauten Satzbau und alle »Fron des Reimens« hinter sich. Der Held mit perfidem Plan heißt zunächst: Satan, der Widersacher mit inzestuöser Familiengeschichte, personifiziert in Sünde und Tod und in seinem Gefolge Moloch, Belial, Mammon, Beelzebub. Miltons Satan ist ein tragischer und deshalb sympathischer Held voller Selbstzweifel, der mit seinem Engelsheer heroisch gegen die göttliche Tyrannei rebelliert und durchs Chaos reist, um sein schlangenlistiges Verführungswerk zu vollführen. Paradies verloren.
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Mit Satan gegen Satan: John Miltons "Paradise Lost" ist ein berühmtes Werk der Literaturgeschichte, aber in Deutschland leider noch unterbelichtet. Die Neuübersetzung und Erläuterung dieses großen Epos des Ungehorsams von Rolf Schönlau ändert das.
Von Jürgen Kaube
Einige Engel proben den Aufstand gegen Gott. Sie verlieren, fallen neun Tage lang, bis sie in der Hölle aufschlagen, und sitzen dort jetzt beisammen als ein Haufen Verbrecher, der sich überlegt, wie es nach der Niederlage weitergehen soll. Die Mafiosi heißen hier Beelzebub, Moloch, Mammon und Belial. Jeder auf seine Art böse, gemein und gewalttätig; es gibt viele Möglichkeiten, niederträchtig zu sein.
So beginnt John Miltons Epos "Paradise Lost", eine 10.500 Verse lange Geschichte des Ungehorsams, des unbedingten Dagegenseins in reimlosen Jamben. Die angeblich schöne göttliche Ordnung wird von Satan, dem Helden, und seinen Spießgesellen abgelehnt. Warum? Darum! Weil es geht, weil Negation, Renitenz und Rebellion individualisieren, weil Gott auch nicht viel anderes ist als ein Befehl.
Milton veröffentlicht seine Verse im Jahr 1668 und revidiert sie 1674. Es liegt die englische Revolution des Oliver Cromwell hinter ihm, an der er außenpolitisch mitwirkte. Sie hatte die Göttlichkeit der Monarchie infrage gestellt. Knapp nur hat Milton die anschließende Restauration des Königtums überlebt, leicht hätte ihn seine Mitwirkung am Aufstand den Kopf kosten können. Jetzt schreibt er das Epos der Revolte.
Miltons Werk ist eines der berühmtesten der Literaturgeschichte. Es verschlägt einem den Atem. Nur nicht in Deutschland, wo man um 1700 kein bisschen rebellionsgeneigt war, und später auch nicht. Die deutsche Literatur ist bis heute meistens brav. Sie bevorzugt zumeist überschaubare Konflikte, etwas mit Liebeskummer, Ehekrisen, Bildung oder Sorgen um die Karriere. Nur selten lässt sie die Einbildungskraft von der Leine. Milton hingegen ist ganz und gar nicht brav. Er erzählt vom Teufel, von fanatischem Hass, vom Streit ums Ganze.
Also blieb er hierzulande unbekannt. Die vorliegende Ausgabe versucht das durch eine Lesehilfe zu ändern. Sie legt keine ununterbrochene Übersetzung von "Paradise Lost" vor, sondern erläutert anhand vieler ausgewählter Verse, worum es geht, und kommentiert den Text. Das Vorbild ist Italo Calvinos Nacherzählung des "Rasenden Roland" von 1970, man kann aber auch an Peter Wapnewskis wundervolle, von Erläuterungen unterbrochene Lesungen der mittelalterlichen Epen denken. Das ganze Werk tritt für einen Moment hinter der Einführung zurück. Wir hören einer Vorlesung über Miltons Werk zu. Rolf Schönlau führt uns vor, was alles im verlorenen Paradies steckt.
Sehr viel. "Ein Universum voller Tod, im Fluch / Von Gott geschöpft, nur für das Böse gut". Milton stellt die Frage nach der Theodizee, der Rechtfertigung Gottes angesichts all der Entsetzlichkeiten, die seine Schöpfung entlassen hat. Und zwar ohne dass der Mensch mit seinem freien, unguten Willen daran schuld wäre. Er verantwortet Auschwitz, aber die furchtbaren Krankheiten, die in der Welt sind, die Erdbeben und die Pest, die Unwirtlichkeit der Erde und den Tod verantwortet er nicht.
Milton ist ein "metaphysischer Poet", er betreibt politische Theologie, imaginiert, was ihm als prinzipielle Entscheidungen vorkommt. Das wichtigste Buch seiner Zeit war die Bibel. Sie liest er gegen den Strich. Die Schöpfung erfolgt nicht aus dem Nichts, sondern mit starken Anlehnungen an Ovid aus dem Chaos, der Aufstand der Engel geht ihr voran. Die Hölle gibt es hier also vor der Schöpfung, das Böse vor dem Sündenfall.
Der erste Mensch und die Menschheit, erklärt Erzengel Raphael, wurden zum Ersatz der im Himmel fehlenden Engel geschaffen. Mit Adam diskutiert er das geozentrische Weltbild. Ist es nicht ein bisschen viel Universum, das um die Erde kreist? Wozu Sterne nachts, wenn doch fast alle schlafen? Milton war 1633 Galileo begegnet, 1609 hatte Kepler die Existenz der Himmelssphären widerlegt, auf denen die Planeten angeblich liefen. "Ob diese Dinge so sind oder nicht, / Ob nun die Sonne alles dominiert / Und überm Erdball aufgeht oder ob / Er über ihr", bescheidet der Erzengel den Menschen, er solle nicht unnütz spekulieren, sondern sich das Paradies und die Weisungen Gottes halten. Adam stimmt zu, beschwert sich aber über sein Alleinsein. "Was hilft ein Glück / In Einsamkeit? Und wer genießt allein, / Kann fröhlich sein, selbst wenn er alles hat? / (...) Wonach es mich verlangt, / Ist eine Partnerschaft (fellowship), die beiden ein / Vernünftiges Vergnügen (rational delight) schenkt". Und so bekommt Adam "ein zweites Ich" (thy other self), in dessen Schönheit und Anmut er sich zum Missvergnügen des Erzengels auch gleich verliebt, woraufhin ihn Adam fragt, ob Engel Sex ("immediate touch") haben? Der Engel errötet.
Immer wieder kommt bei Milton die Frage auf, ob wirklich alles gut und nicht vielmehr paradox geschaffen wurde. Wenn alles schön ist, wo bleibt dann - "the hateful siege of Contraries" - das Hässliche? Die Wunder der Welt erinnern manche eben daran, nicht an ihnen Teil zu haben. Der Teufel ist neidisch auf den Menschen und beschließt, dem übermächtigen Gott wenigstens sein Vergnügen am Geschöpf zu verleiden. Was kommt, kennen wir. Bei Milton fühlt Eva sich unfrei, die Schlange, in der Satan steckt, bedrängt sie mit allen denkbaren Argumenten, vom Baum der Erkenntnis zu essen, sie tut es und verhöhnt Gott als den "großen Verbieter". Später streiten Adam und Eva, wer die größere Schuld an der Übertretung trage, wobei Adam ein misogynes Argument auf das nächste häuft.
Rolf Schönlau erläutert die Bildersprache des Epos, seinen Dissens zur theologischen Tradition, seine Anspielungen, vor allem auf antike Texte, aber auch Elemente der eigenen Biographie. Er zeigt uns das immense Spektrum Miltons, der die kosmologischen Theorien seiner Zeit ebenso verarbeitet wie ihr geographisches Wissen. Die Erde soll ein Paradies gewesen sein, jetzt erscheint sie als Siechhaus "gerappelt voll / Von Kranken mit Gebrechen aller Art, / (...) / In Eingeweiden Steine, Krebs, Kolik, / Dämonische Magie, Melancholie, / Lunatische Verrücktheit, Atrophie". Elend an Leib und Seele, wohin er schaut, und alles Effekte der Sünde? Milton schließt mit dem Bild von Eva und Adam, die, Hand in Hand, Eden durchwandern, in einem "solitary way", ohne erzengelhafte oder göttliche Unterstützung also. Sie lassen die theologischen Deutungen ihrer Existenz hinter sich.
Die vorliegende Ausgabe ist nicht nur die denkbar beste Vorbereitung für eine durchgängige Lektüre von Miltons ikonoklastischem Epos. Sie weckt auch Lust darauf, sich mit dieser gewaltigen Verskaskade zu beschäftigen, die so viele weitere literarische Diskussionen auslöste, von William Blake und den Shelleys über Thomas Carlyle und Chateaubriand bis zu Virginia Woolf und T. S. Eliot. Die englische Romantik war nicht vorstellbar ohne ihn. In Deutschland haben wir hingegen einen immensen Nachholbedarf, was Milton angeht, und dieses Buch ist ein erster großer Schritt dazu, ihm gerecht zu werden.
John Milton: "Paradies verloren".
Erzählt, übersetzt und kommentiert von Rolf Schönlau. Friedenauer Presse, Berlin 2024. 310 S., geb., 28,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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