"Alles scheint sich zusammenzufügen, alles passt, wie eine perfekte Gerade, eine Strecke von A nach B. Aber je länger ich auf das brennende Haus starre, desto unklarer und verworrener wird es wieder. Die gerade Linie verwickelt sich, verknotet sich wie ein loser Faden. Und ich weiß auf einmal nicht mehr, wo der Anfang liegt und wo das Ziel, wann es losging und ob es jetzt zu Ende ist." Paul Ferber lebt mit seiner Familie in Berlin und sollte eigentlich seine Doktorarbeit über Liebe in der Literatur zu Ende schreiben. Doch inzwischen hat er genug von der Universität. Und auch das Thema seiner Arbeit überzeugt ihn nicht mehr. Stattdessen diskutiert er mit dem legendären Professor Emrald tagelang über die unendliche Wut Thomas Bernhards oder die richtige Mischung von Rum und Kaffee. Als er Lea begegnet, beginnt er zu verstehen, dass man keine Entscheidungen trifft. Entscheidungen widerfahren einem.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.11.2017Im roten Lippenstiftkreis
Ein Jahrhundertbuch nimmt die Nachkriegszeit in den Fokus: Attila Bartis erzählt in seinem Roman "Das Ende" vom Leben eines ungarischen Fotografen.
Von Katharina Teutsch
Lange ist kein Künstlerroman mehr so integral erzählt worden wie dieser. Attila Bartis schreibt das Leben des Fotografen András Szabad aus einem über siebenhundert Seiten lang in Spannung gehaltenen Erkenntnismoment heraus. Roland Barthes hat ihn in seinem Essay "Die helle Kammer" beschrieben. Eine Fotografie bildet ihrer Natur nach insofern einen Selbstwiderspruch, als sie die Gegenwärtigkeit eines längst vergangenen Moments behauptet. Sie verrät etwas über die Epoche ihrer Entstehung und über den Erkenntnisstand ihres Betrachters. Dann aber gibt es noch die andere Wirkungsweise der Fotografie. Barthes nannte sie "punctum", kleinen Stich. Es ist jene intime Botschaft eines Bildes an seinen Betrachter - etwas, das uns persönlich trifft und verletzt wie ein Pfeil, etwas, das zu uns spricht und dabei selbst unaussprechlich bleibt. Trost und Schmerz gehen von ihm aus. Beide Empfindungen bleiben in einer tangoartigen Umklammerung aufeinander bezogen. Nicht von ungefähr beginnt András seine Fotografenlaufbahn mit Aufnahmen, die wie Kippfiguren funktionieren. So wie der gebrochene Blick einer Frau in sexueller Ekstase.
András Szabad ist ein Kind der Nachkriegszeit, ein junger Mann im Kommunismus, Sohn eines Aufständischen von 1956, Opfer einer mehrere Generationen zurückreichenden Traumatisierung durch Ideologie und Krieg. Integral meint eben auch dieses: Attila Bartis, selbst erst Ende der sechziger Jahre geboren, hat einen Roman über das zwanzigste Jahrhundert geschrieben. Als Ungar kann er es mit Péter Nádas aufnehmen, weil auch er von transgenerationellen Verheerungen und Verhängnissen erzählt. Beiläufig etwa wird in "Das Ende" die Erschießung des Onkels mütterlicherseits geschildert. Seine jüdische Geliebte bringt ihren Säugling in der mit Perserteppichen ausgekleideten Vorratskammer der Familie zur Welt. Vater, Mutter und Kind werden noch an Ort und Stelle von einem faschistischen Erschießungskommando der Pfeilkreuzler exekutiert. Auch Perserteppiche konnten den Geburtsschmerz nicht schlucken. Eine von vielen dunklen Kammern, die Bartis in sein Buch hineingebaut hat.
Da wäre der sogenannte Zigeunerjunge aus dem Wohnblock, der Geige in einer schallisolierten Speisekammer übt, bis er eines Tages seine Mutter ersticht. Da gibt es das Gefängnis, aus dem der Vater nicht frei, sondern unfrei zurückkehrt. Es gibt das Zimmer, in dem András zusammen mit einer Schneiderpuppe lebt. Es gibt die Dunkelkammer im Fotolabor des Juden Reisz, bei dem András eine Ausbildung als Passbildfotograf beginnt. Und es gibt die verwaiste Wohnung seiner Freundin Éva, die András nur zum heimlichen Lesen ihrer Tagebücher betritt. Er findet sich nach sieben Jahren Beziehung kein einziges Mal erwähnt. Da wären also auch die dunklen Kammern unserer Herzen, von denen "Das Ende", als Liebesroman verstanden, vor allem handelt.
In ein kristallklares Deutsch gebracht hat diesen großen Roman über das Erwachen eines künstlerischen Geistes im kommunistischen Ungarn Terézia Mora. Wenn es in ihm so etwas wie ein Leitmotiv gibt, so wäre es die Suche nach dem Punctum: nach dem bestechenden Moment, der aus dem Lauf der Geschichte ein intimes und niederschmetterndes Ereignis macht.
Erzählt wird "Das Ende" in zwei Teilen. Im ersten geht es um die Kindheit von András. Nach der Verhaftung des Vaters bleibt er mit seiner Mutter in Mélyvár zurück. Nach der Rückkehr des Vaters bildet sich der erste Riss im Kleinfamilienpolaroid. Bald und überraschend stirbt die Mutter - und nimmt ihr Geheimnis zumindest bis zu den letzten Seiten des Romans mit ins Grab. András' Kindheit ist damit zu Ende. Zusammen mit seinem Vater zieht er nach Budapest. Wie die beiden Männer in ihrer Zweizimmerwohnung aneinander vorbeileben - diskret, linkisch, unfähig, einander zu lieben -, ist meisterlich erzählt. "Und wer von ihnen hat die Tür geschlossen?", fragt die zwischen Schlafmitteln, existentialistischer Literatur und roter Fahne lebende Lehrerin Adél Selyem. "Wir beide. Wie ein Gefängniswärter. Und ein Totengräber." Mit Adél wird András bald eine erste abgründige Liebesnacht verbringen.
Im zweiten Teil wird die Liebesgeschichte zwischen András und der Pianistin Éva geschildert. Sieben Jahre lang hat er kein anderes Modell als sie. Bis Éva nach New York aufbricht. Gewissermaßen als letzten Liebesakt organisiert sie eine Ausstellung mit Andràs' Bildern, die sie bei ihrer Abreise hat mitgehen lassen. Es ist die Geburtsstunde des jungen Mannes als Vertreter der ungarischen Kunst. Doch mit dem Ruhm kommt keine Ruhe. Die Sehnsucht nach dem Punkt, an dem alles zum Erliegen kommt und alles auch neu beginnen kann, bleibt virulent. Erst buchstäblich auf der letzten Seite übernimmt das genealogische Prinzip das Kommando. Ein Kind der unmöglichen Liebe löst den Bilderstau vermutlich ein für alle Mal auf. Doch davon schweigt dieser kluge, unsentimentale Roman.
Das Monströse an Roland Barthes' Punctum ist, dass die Vergangenheit nicht vergehen und die Zukunft nicht beginnen kann. "Das Ende" erzählt auch davon. Genauer: von der Sucht, Zuflucht in dieser Schwebe zu suchen. Zu Beginn trifft der gerade von einem Freund der Familie vom Militärdienst befreite András auf eine junge Frau. Sie zieht an einer Bushaltestelle einen roten Lippenstiftkreis um ihn. Er solle genau dort auf sie warten. Natürlich vergeblich. Doch auch die junge Frau hätte vermutlich umsonst gewartet. András weiß nämlich bereits alles von seinem Ende her: "Und, was ich weiß, das kann ich ihr auf keinen Fall sagen. Dass ich sie in Wahrheit nur anschauen möchte. Sie in der Küche auf einen Hocker setzen und sie im kümmerlichen Licht, das vom Lichthof kommt, durch den Sucher der Zorki anschauen. So lange, bis sie so wird wie meine Mutter, als sie starb." Im Wesentlichen, heißt es viele Seiten später, sei der Unterschied zwischen einem Foto und dem gerade ankommenden Licht eines seit Jahrmillionen toten Sterns nicht allzu groß. Beide sind genau wie dieser Roman von kalter Schönheit.
Sebastian Lehmann: "Parallel leben".
Ein Roman.
Verlag Voland & Quist, Dresden und Leipzig 2017. 269 S., geb., 19,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein Jahrhundertbuch nimmt die Nachkriegszeit in den Fokus: Attila Bartis erzählt in seinem Roman "Das Ende" vom Leben eines ungarischen Fotografen.
Von Katharina Teutsch
Lange ist kein Künstlerroman mehr so integral erzählt worden wie dieser. Attila Bartis schreibt das Leben des Fotografen András Szabad aus einem über siebenhundert Seiten lang in Spannung gehaltenen Erkenntnismoment heraus. Roland Barthes hat ihn in seinem Essay "Die helle Kammer" beschrieben. Eine Fotografie bildet ihrer Natur nach insofern einen Selbstwiderspruch, als sie die Gegenwärtigkeit eines längst vergangenen Moments behauptet. Sie verrät etwas über die Epoche ihrer Entstehung und über den Erkenntnisstand ihres Betrachters. Dann aber gibt es noch die andere Wirkungsweise der Fotografie. Barthes nannte sie "punctum", kleinen Stich. Es ist jene intime Botschaft eines Bildes an seinen Betrachter - etwas, das uns persönlich trifft und verletzt wie ein Pfeil, etwas, das zu uns spricht und dabei selbst unaussprechlich bleibt. Trost und Schmerz gehen von ihm aus. Beide Empfindungen bleiben in einer tangoartigen Umklammerung aufeinander bezogen. Nicht von ungefähr beginnt András seine Fotografenlaufbahn mit Aufnahmen, die wie Kippfiguren funktionieren. So wie der gebrochene Blick einer Frau in sexueller Ekstase.
András Szabad ist ein Kind der Nachkriegszeit, ein junger Mann im Kommunismus, Sohn eines Aufständischen von 1956, Opfer einer mehrere Generationen zurückreichenden Traumatisierung durch Ideologie und Krieg. Integral meint eben auch dieses: Attila Bartis, selbst erst Ende der sechziger Jahre geboren, hat einen Roman über das zwanzigste Jahrhundert geschrieben. Als Ungar kann er es mit Péter Nádas aufnehmen, weil auch er von transgenerationellen Verheerungen und Verhängnissen erzählt. Beiläufig etwa wird in "Das Ende" die Erschießung des Onkels mütterlicherseits geschildert. Seine jüdische Geliebte bringt ihren Säugling in der mit Perserteppichen ausgekleideten Vorratskammer der Familie zur Welt. Vater, Mutter und Kind werden noch an Ort und Stelle von einem faschistischen Erschießungskommando der Pfeilkreuzler exekutiert. Auch Perserteppiche konnten den Geburtsschmerz nicht schlucken. Eine von vielen dunklen Kammern, die Bartis in sein Buch hineingebaut hat.
Da wäre der sogenannte Zigeunerjunge aus dem Wohnblock, der Geige in einer schallisolierten Speisekammer übt, bis er eines Tages seine Mutter ersticht. Da gibt es das Gefängnis, aus dem der Vater nicht frei, sondern unfrei zurückkehrt. Es gibt das Zimmer, in dem András zusammen mit einer Schneiderpuppe lebt. Es gibt die Dunkelkammer im Fotolabor des Juden Reisz, bei dem András eine Ausbildung als Passbildfotograf beginnt. Und es gibt die verwaiste Wohnung seiner Freundin Éva, die András nur zum heimlichen Lesen ihrer Tagebücher betritt. Er findet sich nach sieben Jahren Beziehung kein einziges Mal erwähnt. Da wären also auch die dunklen Kammern unserer Herzen, von denen "Das Ende", als Liebesroman verstanden, vor allem handelt.
In ein kristallklares Deutsch gebracht hat diesen großen Roman über das Erwachen eines künstlerischen Geistes im kommunistischen Ungarn Terézia Mora. Wenn es in ihm so etwas wie ein Leitmotiv gibt, so wäre es die Suche nach dem Punctum: nach dem bestechenden Moment, der aus dem Lauf der Geschichte ein intimes und niederschmetterndes Ereignis macht.
Erzählt wird "Das Ende" in zwei Teilen. Im ersten geht es um die Kindheit von András. Nach der Verhaftung des Vaters bleibt er mit seiner Mutter in Mélyvár zurück. Nach der Rückkehr des Vaters bildet sich der erste Riss im Kleinfamilienpolaroid. Bald und überraschend stirbt die Mutter - und nimmt ihr Geheimnis zumindest bis zu den letzten Seiten des Romans mit ins Grab. András' Kindheit ist damit zu Ende. Zusammen mit seinem Vater zieht er nach Budapest. Wie die beiden Männer in ihrer Zweizimmerwohnung aneinander vorbeileben - diskret, linkisch, unfähig, einander zu lieben -, ist meisterlich erzählt. "Und wer von ihnen hat die Tür geschlossen?", fragt die zwischen Schlafmitteln, existentialistischer Literatur und roter Fahne lebende Lehrerin Adél Selyem. "Wir beide. Wie ein Gefängniswärter. Und ein Totengräber." Mit Adél wird András bald eine erste abgründige Liebesnacht verbringen.
Im zweiten Teil wird die Liebesgeschichte zwischen András und der Pianistin Éva geschildert. Sieben Jahre lang hat er kein anderes Modell als sie. Bis Éva nach New York aufbricht. Gewissermaßen als letzten Liebesakt organisiert sie eine Ausstellung mit Andràs' Bildern, die sie bei ihrer Abreise hat mitgehen lassen. Es ist die Geburtsstunde des jungen Mannes als Vertreter der ungarischen Kunst. Doch mit dem Ruhm kommt keine Ruhe. Die Sehnsucht nach dem Punkt, an dem alles zum Erliegen kommt und alles auch neu beginnen kann, bleibt virulent. Erst buchstäblich auf der letzten Seite übernimmt das genealogische Prinzip das Kommando. Ein Kind der unmöglichen Liebe löst den Bilderstau vermutlich ein für alle Mal auf. Doch davon schweigt dieser kluge, unsentimentale Roman.
Das Monströse an Roland Barthes' Punctum ist, dass die Vergangenheit nicht vergehen und die Zukunft nicht beginnen kann. "Das Ende" erzählt auch davon. Genauer: von der Sucht, Zuflucht in dieser Schwebe zu suchen. Zu Beginn trifft der gerade von einem Freund der Familie vom Militärdienst befreite András auf eine junge Frau. Sie zieht an einer Bushaltestelle einen roten Lippenstiftkreis um ihn. Er solle genau dort auf sie warten. Natürlich vergeblich. Doch auch die junge Frau hätte vermutlich umsonst gewartet. András weiß nämlich bereits alles von seinem Ende her: "Und, was ich weiß, das kann ich ihr auf keinen Fall sagen. Dass ich sie in Wahrheit nur anschauen möchte. Sie in der Küche auf einen Hocker setzen und sie im kümmerlichen Licht, das vom Lichthof kommt, durch den Sucher der Zorki anschauen. So lange, bis sie so wird wie meine Mutter, als sie starb." Im Wesentlichen, heißt es viele Seiten später, sei der Unterschied zwischen einem Foto und dem gerade ankommenden Licht eines seit Jahrmillionen toten Sterns nicht allzu groß. Beide sind genau wie dieser Roman von kalter Schönheit.
Sebastian Lehmann: "Parallel leben".
Ein Roman.
Verlag Voland & Quist, Dresden und Leipzig 2017. 269 S., geb., 19,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Größere Phantasten als die Schriftsteller sind die Literaturwissenschaftler. Sebastian Lehmanns Roman 'Parallel leben' macht darauf die Probe." Jan Wiele, Frankfurter Allgemeine Zeitung "(...) durch und durch sympathische(r) Überraschungs-Roman dieses Herbstes (...)." Andreas Merkel, piqd "(...) eine sympathisch-tragikomische Lektüre." Jan Rhein, literaturkritik.de