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© BÜCHERmagazin, Katharina Granzin (kgr)
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Aktueller und beklemmender kann ein politischer Roman nicht sein: Der weißrussische Journalist und Autor Viktor Martinowitsch wagte viel, als er sein hochgelobtes Debüt unter Klarnamen veröffentlichte. Jetzt kann man "Paranoia" auch auf Deutsch lesen.
Das schrille Klingeln des Telefons durchschneidet die Nacht. Anatoli Newenski schreckt hoch und nimmt den Hörer ab: "Hallo, spreche ich nicht mit den Nurmambekows?", fragt eine fremde Stimme. Anatoli weiß nicht, was er antworten soll. Er zögert, schweigt, legt auf und hat doch verstanden. Jahre zuvor nämlich hat der Schriftsteller mit seinem Freund Sery, einem hohen Beamten dieser Diktatur, eine Vereinbarung getroffen. Sollte jemals jemand anrufen und nach Nurmambekow fragen, bedeutet das: "Mach dich aus dem Staub! Sie sind hinter dir her." "Sie" - das sind die Schergen des Geheimdienstchefs und Diktators "Murawjow".
Damit fügen sich für Anatoli die jüngsten Ereignisse zu einem lückenlosen Bild: Der Stromausfall, als er gestern seine neueste Erzählung in den Computer tippte, war eine letzte Mahnung. Der schwarze Wagen, der seither im Hof parkt, ein Einschüchterungsversuch. Offenbar ist er mit der Geschichte über den Studenten, der sich gegen den Staat auflehnt, zu weit gegangen. Den Verfolgungswahn im Nacken stürzt Anatoli an seinen Rechner und löscht das Geschriebene.
Und was passiert? Nichts. Wozu auch? Aus Sicht der Staatssicherheit reicht es, den Dichter in einen solchen Furor zu versetzen, dass er sich selbst zensiert. War der Anruf von jenem Freund? War der Freund im Dienst? Das bleibt offen. Die Angst jedoch frisst mit der Seele gleich auch noch die Literatur auf. Paranoia ist hier keine psychische Störung mehr, sondern ein Lebensgefühl, das sich tief im Alltag des Einzelnen eingeprägt hat.
Eindringlicher und präziser, als es dem weißrussischen Autor und Journalisten Viktor Martinowitsch mit diesem Szenario gelingt, lässt sich die heutige Situation in seinem Heimatland kaum beschreiben. Wie es dort um die individuelle Freiheit jenseits der autokratisch vorgestanzten Lebenswege, wie es um die Arbeit von Künstlern, Verlegern und Journalisten steht, hat gerade erst der Prozess gegen den Verleger Ihar Lohvinau gezeigt (F.A.Z. vom 13. Januar). Bereits im Juli 2013 ist ein Präsidialerlass in Kraft getreten, nach dem Druck, Publikation und Verkauf von Büchern der Zulassung des staatlichen Informationszentrums bedürfen. Lohvinau war diese Genehmigung aus zweifelhaften Gründen nicht erteilt worden. Jetzt ist er zu einer Geldstrafe verurteilt worden, die seine verlegerische Existenz bedroht. Die staatlichen Repressionen aber sind kein neues Phänomen. Bis zum Sommer 2014 saß der Schriftsteller Ales Bialiatski aus fadenscheinigen Gründen für drei Jahre in Haft. Alle internationalen Bemühungen, seine Entlassung zu bewirken, waren vergeblich.
Auch Viktor Martinowitsch hat am eigenen Leib erfahren, worüber er schreibt. Bereits sein Werdegang liest sich, als könne man sich durch intellektuelle Wendigkeit den Repressalien einer Diktatur entziehen: Studium der Soziologie und Politik, Promotion in Kunstgeschichte, Arbeit als Dozent an der Universität Vilnius, inzwischen Autor von drei Romanen. Den Großteil dieses fulminanten Debüts hat er nach eigener Auskunft in Versatzstücken auf einem Handy getippt. Das schien ihm sicherer zu sein, als einen zusammenhängenden Text auf seinem Computer zu schreiben. Dass Martinowitsch sein Debüt auf Russisch 2010 tatsächlich unter seinem Namen publizierte, war mutig. Der Name "Weißrussland" kommt zwar nicht vor, doch muss man nicht eins und eins zusammenzählen, um den Ort der Handlung mit Minsk und den Geheimdienstchef "Murawjow" mit Alexander Lukaschenka zu identifizieren.
In einem Moskauer Verlag erschienen, ist das Buch in Weißrussland aus dem Handel genommen worden, auch wenn es nie ein offizielles Verbot gegeben hat. Ein solches Urteil ließe sich anfechten. Wozu also öffentliche Erregung mit einem Richterspruch entfachen, wenn die Aufmerksamkeit im luftleeren Raum des Unentschiedenen verglimmt? Im Fall von "Paranoia" geht die Strategie nun aber nicht auf: Nachdem der Roman 2013 ins Englische übersetzt, in einem stupenden Beitrag des Osteuropa-Experten Timothy Snyder in den Himmel politischer Literatur gelobt wurde, ist der Roman jetzt bei Voland & Quist auf Deutsch erschienen. Man kann ihm nur eine möglichst große Leserschaft wünschen. Zumal sich längst niemand mehr in der Sicherheit wiegen kann, Überwachung sei ein Problem totalitärer Staaten. Die "Paranoia" hat sich als ein bestimmendes Lebensgefühl der globalen Unsicherheitsgesellschaft etabliert. Sie ist zugleich das literarische Gefühl der Stunde - egal, ob es wie in Ulrich Peltzers "Teil der Lösung" um die Überwachung des öffentlichen Raums geht, ob Thomas Glavinic in "Lisa" seinen Protagonisten in abgründige Verfolgungsphantasien treibt, ob wie in David Eggers "The Circle" der gläserne Mitarbeiter zum Ideal der schönen neuen Firmenkultur wird oder ob in Thomas Pynchons "Bleeding Edge" die Angst vor den Zerstörungskräften internationaler Geheimdienste geschürt wird.
Nun macht politischer Scharfsinn allein noch keinen großen Roman aus. Das Großartige an Martinowitsch "Paranoia" ist, dass seine Hauptfigur Anatoli Newenski einerseits recht hat. Er wird überwacht. Andererseits aber täuscht er sich doch: Denn akut bringt ihn nicht die Literatur, sondern die Liebe in Gefahr. Zwei Tage vor besagtem Anruf ist Anatoli der Frau seiner Träume begegnet. Sie sitzt in einem Café, an dessen Schaufenster er vorbeischlendert. Ihre Blicke treffen sich, doch noch bevor er sie ansprechen kann, springt sie auf, rast aus dem Café und in einem überdimensionierten Geländewagen davon. Am nächsten Tag ist Anatoli zur gleichen Zeit am gleichen Ort. Die schöne Unbekannte sitzt auf demselben Platz. Während er sich neben sie setzt, fragt er: "Lange gewartet?", und sie antwortet schlicht: "Mein Leben lang." Von da an ist Anatoli im Liebestaumel. Alles wäre wunderbar, würden nur Jelisawetas Auto, ihre palastartige Wohnung, selbst die Art, wie sie ihren Latte macchiato umrührt, nicht zeigen, auf welcher Seite des diktatorischen Regimes sie steht. Nach dem Motto "Die Schöne und der Dienst" ist Jelisaweta ja wirklich direkt mit dem Chef des Geheimdienstes verbandelt.
Der Roman ist ein Triptychon. Auf dem linken Bild, das den Titel "Wir" trägt, sieht man Anatoli und Jelisaweta, wie sie ihrer unmöglichen Liebe zu entsagen suchen, ohne sich aus ihrem Bann lösen zu können. Phantastisch, kurios, umwerfend komisch, welchen Phantasie- und Gedankenspielen sich Anatoli hingibt, um vielleicht doch irgendwo eine Spur seiner Geliebten ausfindig zu machen. Acht Wochen halten die beiden Sehnsucht und Selbstkasteiung aus, bis sie sich doch wieder sehen und fortan heimlich treffen.
Das Zentralgemälde des Triptychons steht im Zeichen einer kunstvoll inszenierten Ambivalenz: Sein Titel "Sie" verweist ebenso auf Jelisawetas Präsenz wie auf die Anwesenheit der Staatssicherheit, die von Beginn an jede Regung des Paares überwacht. Martinowitschs erzählerischer Clou: Kunstvoller hätte auch Picasso in kubistischer Hochform das Bild der Liebe nicht deformieren können. Von den Treffen des Paares erfährt der Leser allein durch die Abhörprotokolle der Geheimdienstler. Die Aufzeichnungen beinhalten einerseits, in dichtester dramatischer Form, die Dialoge zwischen Anatoli und Jelisaweta, die unter den Decknamen "Gogol" und "die Füchsin" firmieren. Anderseits werden sie von den spröden Kommentaren der Stasimitarbeiter geziert. Und die sind zwar auf den Austausch geheimer Informationen spezialisiert, mit Zärtlichkeiten und Liebesgeflüster können sie hingegen kaum etwas anfangen, was sich grotesk komisch liest.
Doch bevor man sich daran gewöhnt, die Schlapphüte lächerlich zu finden, wendet sich das Schicksal aufs Neue. Sechs Monate nach ihrem Kennenlernen gesteht Jelisaweta ihrem Geliebten, dass sie schwanger ist. Allerdings sei nicht er, sondern der Diktator der Vater. Sofort ist die Paranoia des Schriftstellers wieder präsent. War die ganze Liebesgeschichte am Ende doch nur ein abgekartetes Spiel, eine politische Inszenierung? Immerhin hat Anatoli, seit er Jelisaweta kennengelernt hat, kein Wort mehr zu Papier gebracht. Wird ihm jetzt vorgeführt, wie lächerlich seine Liebeshoffnungen waren? Jelisawetas Umgang mit der Situation lässt beide Lesarten zu. Sie bittet ihn, sie zurückzurufen: "Wenn du mich rufst, Anatoli, komme ich zurück." Der aber zögert, schweigt, bleibt sitzen, springt erst auf, als sie schon aus der Tür ist. Und während Anatoli sich auf die Suche nach seiner großen Liebe macht, drohen die Mühlräder des eben noch so lächerlich wirkenden Sicherheitsdienstes ihn schon zu zermalmen. Jelisaweta bleibt verschwunden. Natürlich muss man vermuten, dass sie ermordet wurde. Und Anatoli bietet sich da als erster Tatverdächtiger. Jetzt erst beginnt der Wahnsinn des Romans, dem sich das dritte Bild des Triptychons widmet. Für die Leser gilt dabei in gleichem Maße wie für Anatoli: Die Hoffnung nicht aufgeben, denn die stirbt bekanntlich ja zuletzt. Schrecklich-schöner kann ein politischer Roman nicht sein.
CHRISTIAN METZ
Viktor Martinowitsch: "Paranoia". Roman. Mit einem Nachwort von Timothy Snyder. Aus dem Russischen von Thomas Weiler. Verlag Voland & Quist. Dresden und Leipzig 2014. 401 S., geb., 24,90 [Euro].
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Martin Becker, Deutschlandradio Kultur
"Das Romandebüt des belarussischen Autors Viktor Martinowitsch ist eine dramatische Liebesgeschichte vor dem Hintergrund eines totalitären osteuropäischen Regimes - und ein Glücksfall für die europäische Literatur."
Moses Fendel, WDR3
" 'Paranoia' ist ein beklemmender Roman über die Angst, ein virtuoser Text mit einer starken Sogwirkung (...). Die Literatur aus Weißrussland braucht die Aufmerksamkeit des Westens und wir brauchen mehr Texte und Übersetzungen von dieser Qualität."
Kristina Pfoser, Ö1
"... eine Geschichte von Liebestollheit, Käuflichkeit und Ausgeliefertsein an einen allgegenwärtigen Polizeistaat. Aber auch eine literarische Parabel über geheimdienstliche Repression."
Oliver vom Hove, Die Presse
"Intellektuell. Brisant. Ein grandioser Wurf!"
Nicole Shiraz, Bücherstadt Kurier