Véro, 13, hat es nicht leicht: Ihre wechselnden Freunde sind notorisch untreu, ihr Bruder ist ein Ekel, und jetzt soll sie auch noch ihr Zimmer räumen, weil ihre Oma dort einzieht. Und die leidet an Alzheimer … Innerhalb kürzester Zeit ist das Familienleben komplett auf den Kopf gestellt. Omama plündert nachts die Küche, hortet Unmengen Schokoriegel und Silberlöffel unter ihrem Bett, weil sie glaubt, dass der Krieg noch immer andauert, telefoniert stundenlang ins Ausland oder löscht versehentlich extrem wichtige Dateien auf Mamans Computer ... Als Véro Omas alten Reisekoffer (ihre Schatzkiste) geschenkt bekommt, stößt sie auf eine Vergangenheit, von der keiner wusste. Nach und nach nimmt Omas Leben Kontur an: ihre großen Lieben und Enttäuschungen im Leben, ihre kleinen Geheimnisse. Virtuos, liebevoll, mit hinreißendem Humor und ohne jede Sentimentalität schildert Hervé Jaouen das turbulente Leben einer ganz normalen Familie, die auch die absurdesten Situationen mit Bravour meistert. Ein herrlich positives Buch über ein ernstes Thema.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.03.2013Wenn Dienstag Freitag ist
Ein Mädchen erlebt, wie die Großmutter in Verwirrung gerät
Was ist der Tod? Für manche etwas so Selbstverständliches wie die Geburt. Für manche die größte Katastrophe des Lebens. Für Véro, die Ich-Erzählerin, eine schöne große alte Frau, ihre Großmutter, die wissen will, ob blinde Hunde dunkle Brillen tragen.
Véro ist die Enkelin, 13 Jahre alt, zum ersten Mal richtig verliebt, drum herum die Familie: die intellektuellen Eltern, ein Philosoph und eine Übersetzerin, liberal und liebevoll, ein etwas älterer Bruder, meist unerträglich, der Onkel und seine raffgierige Frau, die sich immer zurückgesetzt fühlt. Also eine normale Familie, bisher im üblichen vertrauten Gleichgewicht zwischen Glück und Zank, Liebe und Ungeduld. Sie leben in Frankreich an der bretonischen Küste, genau wie Hervé Jaouen, der Autor dieser Geschichte, und dorthin hat er auch das Haus der verwitweten Großmutter gestellt, die allein und zufrieden zwischen Meer, Rosengarten und Gemüsebeeten lebt.
Das ist für Véro ein zeitloses Bild. So war es immer. Der Wandel beginnt in dem alten Fachwerkhaus der Großmutter, in ihrer blauweiß gekachelten Küche. Da verschmort ein Steak in der Pfanne, und der Rauch, der aus dem Fenster quillt, wirkt wie ein Fanal. Denn Großmutter wird debil, stürzt manchmal – und kein Mensch weiß, wann und für wie lange – in den so altbekannten Strudel, in dem Gegenwart und Vergangenheit verschlungen werden. Zuerst findet es die Familie noch komisch, wenn die Großmutter Sohn und Enkel verwechselt und nicht mehr weiß, ob Dienstag oder Freitag ist, wenn sie glaubt, dass immer noch Krieg herrscht, und Schokolade unter ihrem Bett hamstert. Doch dann geschieht Gefährliches, und die Familie muss ihre Illusionen fahren lassen. Nichts kann mehr besser werden. Im Kopf der alten Frau herrscht das Chaos, und sie verliert jeden Tag mehr von dem Ich, das sie einst war. Für die Enkelin wird die Gebrechlichkeit der Menschen ein Begriff. Sie sieht, wie der Tod jeden von uns begleitet, bis zu dem Tag, den nur er kennt. Aber die andere Situation bringt neue Abenteuer. Da ist die Rubinbrosche, die mit der geheimnisvollen Vergangenheit der Großmutter zu tun hat, da bricht ein Streit um ihr Haus aus, da tauchen in ihren Gesprächen Personen auf, von denen Véro noch nie gehört hat. Sie muss ihr Zimmer für die Großmutter räumen, weil diese nicht mehr alleine leben darf, doch der Verzicht wird ein Gewinn. Sie ist der Großmutter so nahe wie nie zuvor und kann zum ersten Mal spüren, was für ein Geschenk das Leben ist. So wandelt auch sie sich bewusst, tritt aus ihrer Ich bezogenen Kinder-Welt heraus. Doch weil alles so plötzlich kam und so verwirrend ist, schreibt sie die ganze Geschichte in ihr Tagebuch, so kraus und voll Gefühl, wie es ihr gerade vorkommt, ohne Abschluss, ohne gutes oder kummervolles Ende. Warum sollte sie auch davon erzählen? Das Ende ist gewiss. Wichtiger ist dem Autor, seinen Lesern von dem Weg dorthin zu berichten. Die Geschichte seiner jungen Heldin, der Enkelin, hat sehr wohl ein Ende. Véros Tagebuch schließt mit ihrem 14. Geburtstag, denn es ist ihre Geschichte, ihre Entwicklung, ihre erste Lebenserfahrung, und mit dem neuen Lebensjahr beginnt etwas anderes.
Dadurch, dass der Autor sich ihre Stimme leiht, entfaltet der Bericht über die alte Frau die aus dem Leben herausgeht, und die junge, die in das Leben hineinschreitet, eine heitere Leichtigkeit voller Überraschungen. Und so lernt man beim Lesen mit Véro, dass man mit diesem Leben zurechtkommen kann, wie es auch ist. (ab 13 Jahre)
SYBIL GRÄFIN SCHÖNFELDT
Hervé Jaouen: Pardon, Monsieur, ist dieser Hund blind? Aus dem Französischen von Corinna Tramm. Urachhaus 2013. 192 Seiten, 14,90 Euro.
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Ein Mädchen erlebt, wie die Großmutter in Verwirrung gerät
Was ist der Tod? Für manche etwas so Selbstverständliches wie die Geburt. Für manche die größte Katastrophe des Lebens. Für Véro, die Ich-Erzählerin, eine schöne große alte Frau, ihre Großmutter, die wissen will, ob blinde Hunde dunkle Brillen tragen.
Véro ist die Enkelin, 13 Jahre alt, zum ersten Mal richtig verliebt, drum herum die Familie: die intellektuellen Eltern, ein Philosoph und eine Übersetzerin, liberal und liebevoll, ein etwas älterer Bruder, meist unerträglich, der Onkel und seine raffgierige Frau, die sich immer zurückgesetzt fühlt. Also eine normale Familie, bisher im üblichen vertrauten Gleichgewicht zwischen Glück und Zank, Liebe und Ungeduld. Sie leben in Frankreich an der bretonischen Küste, genau wie Hervé Jaouen, der Autor dieser Geschichte, und dorthin hat er auch das Haus der verwitweten Großmutter gestellt, die allein und zufrieden zwischen Meer, Rosengarten und Gemüsebeeten lebt.
Das ist für Véro ein zeitloses Bild. So war es immer. Der Wandel beginnt in dem alten Fachwerkhaus der Großmutter, in ihrer blauweiß gekachelten Küche. Da verschmort ein Steak in der Pfanne, und der Rauch, der aus dem Fenster quillt, wirkt wie ein Fanal. Denn Großmutter wird debil, stürzt manchmal – und kein Mensch weiß, wann und für wie lange – in den so altbekannten Strudel, in dem Gegenwart und Vergangenheit verschlungen werden. Zuerst findet es die Familie noch komisch, wenn die Großmutter Sohn und Enkel verwechselt und nicht mehr weiß, ob Dienstag oder Freitag ist, wenn sie glaubt, dass immer noch Krieg herrscht, und Schokolade unter ihrem Bett hamstert. Doch dann geschieht Gefährliches, und die Familie muss ihre Illusionen fahren lassen. Nichts kann mehr besser werden. Im Kopf der alten Frau herrscht das Chaos, und sie verliert jeden Tag mehr von dem Ich, das sie einst war. Für die Enkelin wird die Gebrechlichkeit der Menschen ein Begriff. Sie sieht, wie der Tod jeden von uns begleitet, bis zu dem Tag, den nur er kennt. Aber die andere Situation bringt neue Abenteuer. Da ist die Rubinbrosche, die mit der geheimnisvollen Vergangenheit der Großmutter zu tun hat, da bricht ein Streit um ihr Haus aus, da tauchen in ihren Gesprächen Personen auf, von denen Véro noch nie gehört hat. Sie muss ihr Zimmer für die Großmutter räumen, weil diese nicht mehr alleine leben darf, doch der Verzicht wird ein Gewinn. Sie ist der Großmutter so nahe wie nie zuvor und kann zum ersten Mal spüren, was für ein Geschenk das Leben ist. So wandelt auch sie sich bewusst, tritt aus ihrer Ich bezogenen Kinder-Welt heraus. Doch weil alles so plötzlich kam und so verwirrend ist, schreibt sie die ganze Geschichte in ihr Tagebuch, so kraus und voll Gefühl, wie es ihr gerade vorkommt, ohne Abschluss, ohne gutes oder kummervolles Ende. Warum sollte sie auch davon erzählen? Das Ende ist gewiss. Wichtiger ist dem Autor, seinen Lesern von dem Weg dorthin zu berichten. Die Geschichte seiner jungen Heldin, der Enkelin, hat sehr wohl ein Ende. Véros Tagebuch schließt mit ihrem 14. Geburtstag, denn es ist ihre Geschichte, ihre Entwicklung, ihre erste Lebenserfahrung, und mit dem neuen Lebensjahr beginnt etwas anderes.
Dadurch, dass der Autor sich ihre Stimme leiht, entfaltet der Bericht über die alte Frau die aus dem Leben herausgeht, und die junge, die in das Leben hineinschreitet, eine heitere Leichtigkeit voller Überraschungen. Und so lernt man beim Lesen mit Véro, dass man mit diesem Leben zurechtkommen kann, wie es auch ist. (ab 13 Jahre)
SYBIL GRÄFIN SCHÖNFELDT
Hervé Jaouen: Pardon, Monsieur, ist dieser Hund blind? Aus dem Französischen von Corinna Tramm. Urachhaus 2013. 192 Seiten, 14,90 Euro.
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