Im Jahr 1959 bricht der zwanzigjährige Michel Contat auf nach Paris, in die Stadt der Träume, des Ruhms und der Ernüchterungen. Er schreibt sich an der Sorbonne ein und wohnt Zimmer an Zimmer mit seinem Freund Michel Thévoz, ihre Vermieterin trägt wie zu Kriegszeiten Zeitungen gegen die Kälte unter ihren Kleidern und legt ihnen Bücher von Marx und Engels vor die Tür. Sie arbeiten sich durch "Das Sein und das Nichts", bei Kälte im Café Bonaparte in der vagen Hoffnung, Sartre zu sehen, der im dritten Stockwerk wohnt. Sie gehen ins Kino, ins Theater und verbringen ganze Nächte in Jazzlokalen.Sie verachten de Gaulle und demonstrieren gegen den Algerienkrieg. Als Contats Vater mit ihm nach Berlin reist, um ihn von den linken Ideen abzubringen, fährt er dort mit dem Taxi ins Berliner Ensemble zu den Brecht-Inszenierungen, während der Vater im Hotel fernsieht. Am Ende wird er aus politischen Gründen aus Frankreich ausgewiesen. Contat erzählt persönlich und offen, er verschweigt weder seine Einsamkeit noch seine Nöte, unter denen er in seiner Schüchternheit und Unschuld leidet - auch wenn die Liebe am Ende auch ihm zuteil wird. Contats Erzählung ist ein Selbstporträt, das für eine ganze Generation steht.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 31.05.2017KURZKRITIK
Wie im Roman
Sartres Herausgeber
Michel Contat über „Paris 1959“
Die „Alternativlosigkeit“, beliebtes Argument der politischen Debatte, galt auch lange für das Paris Jean-Paul Sartres. Der Schweizer Michel Contat, langjähriger Mitarbeiter, enger Vertrauter und späterer Herausgeber des Philosophen, schreibt in dem sehr persönlichen Erinnerungsband „Paris 1959“, was ihn magisch in die Stadt zog, der vor allem Sartre den Ruf als intellektueller Nabel der Nachkriegswelt einbrachte.
Contat, dessen Vater weniger Interesse an Erziehungsfragen als am Glücksspiel und an reichen Blondinen hat, flüchtet mit gerade noch bestandener Matura als angehender Literaturstudent aus Lausanne an die Seine. „Der Schock der Realität war hart“, denn als „lächerlicher Tölpel“ muss er zunächst sein Schweizer Idiom loswerden, um sich wenigstens in der Boulangerie Respekt zu verschaffen. Auch die Pariser Nächte sind wenig lustig, die Jazz-Bars überteuert und die Straßen wegen drohender Anschläge der algerischen Befreiungsfront unter Polizeibewachung.
Unter drei Decken und mit jeder Menge Keksen und Joghurt kämpft sich Contat im feuchtkalten Pensionszimmer „menschenscheu und einzelgängerisch“ durch Sartres „Das Sein und das Nichts“. Im Bistro wärmt er sich auf, bis das Herz vom Kaffee pocht. Nach der Zeitungslektüre, dem „Morgengebet des modernen Menschen“, begegnet er eines Tages tatsächlich Sartre und Beauvoir: „Sie haben sich umgedreht, er neugierig, freundlich, sie in Eile, gereizt, wir haben sie nur verwirrt angestarrt.“ Was Contat später zum engsten Sartre-Vertrauten und gründlichsten Kenner seiner Werke machte, lässt „Paris 1959“ nur erahnen. Sartre wirkt wie eine Romanfigur aus fernen Zeiten. Contats kurzweilige Erinnerungen an Leben, Politik und Denken der Zeit zeigen jedenfalls, wie aus naiven Träumen harte Realität wurde.
CORNELIUS WÜLLENKEMPER
Michel Contat: Paris 1959. Notizen eines Waadtländers. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Mit einem Nachwort von Luc Weibel. Limmat Verlag, Zürich 2017. 92 S., 16 Euro. E-Book 13,99 Euro.
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Wie im Roman
Sartres Herausgeber
Michel Contat über „Paris 1959“
Die „Alternativlosigkeit“, beliebtes Argument der politischen Debatte, galt auch lange für das Paris Jean-Paul Sartres. Der Schweizer Michel Contat, langjähriger Mitarbeiter, enger Vertrauter und späterer Herausgeber des Philosophen, schreibt in dem sehr persönlichen Erinnerungsband „Paris 1959“, was ihn magisch in die Stadt zog, der vor allem Sartre den Ruf als intellektueller Nabel der Nachkriegswelt einbrachte.
Contat, dessen Vater weniger Interesse an Erziehungsfragen als am Glücksspiel und an reichen Blondinen hat, flüchtet mit gerade noch bestandener Matura als angehender Literaturstudent aus Lausanne an die Seine. „Der Schock der Realität war hart“, denn als „lächerlicher Tölpel“ muss er zunächst sein Schweizer Idiom loswerden, um sich wenigstens in der Boulangerie Respekt zu verschaffen. Auch die Pariser Nächte sind wenig lustig, die Jazz-Bars überteuert und die Straßen wegen drohender Anschläge der algerischen Befreiungsfront unter Polizeibewachung.
Unter drei Decken und mit jeder Menge Keksen und Joghurt kämpft sich Contat im feuchtkalten Pensionszimmer „menschenscheu und einzelgängerisch“ durch Sartres „Das Sein und das Nichts“. Im Bistro wärmt er sich auf, bis das Herz vom Kaffee pocht. Nach der Zeitungslektüre, dem „Morgengebet des modernen Menschen“, begegnet er eines Tages tatsächlich Sartre und Beauvoir: „Sie haben sich umgedreht, er neugierig, freundlich, sie in Eile, gereizt, wir haben sie nur verwirrt angestarrt.“ Was Contat später zum engsten Sartre-Vertrauten und gründlichsten Kenner seiner Werke machte, lässt „Paris 1959“ nur erahnen. Sartre wirkt wie eine Romanfigur aus fernen Zeiten. Contats kurzweilige Erinnerungen an Leben, Politik und Denken der Zeit zeigen jedenfalls, wie aus naiven Träumen harte Realität wurde.
CORNELIUS WÜLLENKEMPER
Michel Contat: Paris 1959. Notizen eines Waadtländers. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Mit einem Nachwort von Luc Weibel. Limmat Verlag, Zürich 2017. 92 S., 16 Euro. E-Book 13,99 Euro.
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