In seinen späten Lebensjahren erinnert sich Elias Canetti an die Jahrzehnte, die er in England verbrachte, als seine besten Jahre, in denen er, abgeschnitten von der deutschen Sprache, sein Hauptwerk "Masse und Macht" geschrieben und ein bewegtes Leben gefu?hrt hat. Erst postum wurde dieser Schatz gehoben: ein witzig und spitzig formulierter, funkelnder Text u?ber verwöhnte Adlige und bettelarme Emigranten, u?ber eitle Dichter und schöne Malerinnen, u?ber einen bigotten Pfarrer und einen lebensklugen Straßenkehrer.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.10.2003Ende der Maskerade
In "Party im Blitz" zeigt sich Elias Canetti von unbekannter Seite
Dies ist ein Buch, das beim zweiten Lesen immens gewinnt. Dann hat sich das Erstaunen gelegt über den bisweilen harschen Ton, den Elias Canetti anschlägt, über die teilweise mißratene Komposition, über die Redundanzen. Und man beginnt, die Intensität der Beschreibungen zu würdigen, Canettis Wagemut beim Metapherngebrauch und vor allem sein Auge für Menschen. Alle seine Erinnerungs- und Aphorismenbücher könnten den Titel des dritten Bands seiner Autobiographie tragen, die vor mehr als zwanzig Jahren erschienen ist: "Das Augenspiel". Das gilt auch für seine nun publizierten Erinnerungen aus England.
Es war bekannt, daß Canetti sein Memoirenprojekt fortsetzen wollte: Fünf Bücher sollten es insgesamt werden, jedes nach einem der fünf Sinne benannt. Die 1977 mit "Die gerettete Zunge" begonnene Trilogie hatte den Autor einem breiten Publikum bekannt gemacht und selbst jene Leser gewonnen, denen sein Roman "Die Blendung" zu gnadenlos und das soziologische Meisterwerk "Masse und Macht" entweder zu voraussetzungsreich (für die Literaturliebhaber) oder zu verspielt (für die Wissenschaftler) gewesen war. Der Nobelpreis von 1981 wäre ohne das Memoirenwerk undenkbar gewesen; es steht als ein Solitär im weiten Feld der Erinnerungsliteratur - stilsicher, messerscharf und trotz insgesamt rund tausend Seiten Umfang von unerreichter Ökonomie des Erzählens.
Dem jetzt aus dem Nachlaß zusammengestellten Band mit dem zwar sinnenfrohen, doch sinnenfernen Titel "Party im Blitz" über Canettis Zeit in England kann man nur das zweite Lob uneingeschränkt erteilen - und just die Schärfe seiner Personendarstellungen ist Canetti schon früher immer wieder vorgeworfen worden. Doch was im neuen Buch, ungefiltert durch die strengen Redigate, denen Canetti seine eigenen Texte zu unterwerfen pflegte, zu finden ist, ist ohne Beispiel. Die Wutausbrüche gegen T. S. Eliot etwa oder seine Ausfälle gegen Margaret Thatcher stehen in seinem Werk einzig da, denn selbst gegenüber dem ihm besonders verhaßten Massenmörder Hitler hatte er sich stets die Flucht in Zornessuaden oder gar Spott verkniffen. Frau Thatcher aber wird zur "obersten Predigerin der Selbstsucht", zur "Gouvernante", Eliot zum "besten Beispiel für die wahren Hochmuts-Künstler".
Besonders skandalträchtig aber sind die Ausführungen zu Iris Murdoch, mit der Canetti ein Liebesverhältnis unterhielt. Als er 1993 dieses Porträt verfaßte, ein Jahr vor dem eigenen Tod, lebte auch die britische Schriftstellerin noch. Canetti pflegte außerhalb seiner fiktiven Texte nicht explizit zu werden, doch in der Schilderung der Beziehung zu Iris Murdoch läßt er wenig aus. Für ihn war Schreiben gleichbedeutend mit Überleben, es war Lebensmittel im buchstäblichen Sinne des Wortes. An eine unbearbeitete Publikation hat Canetti aber nicht gedacht, auch wenn sein Freund Jeremy Adler in einem ansonsten klugen Nachwort die Veröffentlichung rechtfertigt: "Canetti hat wiederholt bemerkt, daß er viele Werke absichtlich unbeendet lasse . . . Diese würde man nach seinem Ableben entdecken und verbreiten, wodurch er sich vor dem Untergang bewahren würde." Jedoch nur kurz zuvor zitiert Adler eine Notiz Canettis aus jenem Manuskriptkonvolut, das das Herzstück von "Party im Blitz" darstellt: "in dieser Form nicht zu veröffentlichen".
Im Text selber wird der Widerspruch zwischen Autorintention und Buchpublikation noch deutlicher: "Es wird nicht leicht sein", notiert Canetti in seinem Porträt von Ralph Vaughan Williams, "denn ich kann über die überwältigend komische Geschichte der Ursula, durch die ich ihn kannte, nicht erzählen, über ihren Falstaff, der sozusagen mitgeheiratet wurde, der im Hause des wunderbaren Mannes gelebt, kann ich nur für mich etwas sagen, nie in einem Buch publik machen." Was nun mit Genehmigung von Canettis Tochter Johanna aber geschehen ist. Die Selbstbefragung wird öffentlich.
Mag sein, daß es ihn nicht wirklich gestört hätte. Canetti war eitel, und seine Ressentiments gegenüber manchen Zeitgenossen erklären sich daraus, daß sie ihm charakterlich zu nahe waren. Ganz besonders deutlich wird das an seinem Abscheu vor der Psychoanalyse. Analytiker seien "die Sorte von Menschen, die ich am tiefsten verachte". Canetti wirft ihnen vor, daß sie sich nur den Anschein gäben zuzuhören. "Ihre Zeit ist kostbar, sie verkaufen sie teuer." Der alte Zorn des zeitweise überzeugten Kommunisten Canetti gegen jede Form von merkantil geprägter Sozialität tritt hier in ungekannter Vehemenz zutage. Er selbst begreift sich als Gegenmodell: "Ich habe in jener englischen Zeit während mehr als dreißig Jahren jedem meine Zeit geschenkt." Hier hätte er eigentlich "geschenkt" kursivieren müssen.
Canetti war ein unersättlicher Zuhörer - und ein geradezu im sexuellen Sinne des Wortes dominanter Erzähler. Verräterisch seine Bemerkung: "Es gibt nichts, das mich so stark zum Umgang mit bestimmten Menschen zwang als ihr Wunsch, mir zuzuhören. Dieser Wunsch war bei Iris eine Passion. Dafür mochte ich sie." Daß beider Verhältnis sadomasochistische Züge trug, ist bekannt. Für seine Tagebücher hat Canetti testamentarisch eine Schutzfrist von dreißig Jahren festgelegt. Das mag man seltsam finden bei einem, der einmal gefragt hat: "Was ist denn wahrer an einer Autobiographie als an einer anderen Erzählung?"
An anderer Stelle findet sich die Erklärung, verfaßt just zum Entstehungszeitpunkt der Erinnerungen an England: "Man bezieht sich auf die Schilderung seines Lebens so wie auf dieses selbst. Sie sind schließlich unabhängig voneinander wie zwei Leben. Vielleicht hält man sich mehr an das geschriebene, es erscheint einem wahrer." Entsprechend stilisiert sich Canetti, etwa als selbstlosen Zuhörer: "Das ist das eigentliche Glück, bei andern und nicht bei sich zu sein." Die Methode der Psychoanalyse hätte ihm sympathisch sein müssen, doch er neidete Freud dessen Ruhm. In England, wo Canetti außerhalb des Intellektuellenzirkels von Hampstead fast unbekannt war, galt Freud, wie Canetti anmerkt, "als Wohltäter der Menschheit". Genau so aber begriff sich Canetti selbst, denn wem stünde dieser Titel eher zu als dem nimmermüden Streiter gegen den Tod?
Dabei - und wir sind nun längst bei den Stärken des neuen Memoirenbands gelandet - revidierte Canetti nach dem Abschluß von "Masse und Macht" seine rigiden Ansichten zum Skandalon des Todes. In einer spektakulären Passage widerruft er die für seine Machttheorie zentrale These vom Gefühl der Überlegenheit des Friedhofsbesuchers beim Betrachten der Gräber: "Wenn ich es einmal vielleicht zu bestimmt und summarisch ausgedrückt habe, so möchte ich hier spät und vor dem eigenen Torschluß eine Korrektur darin anbringen." Schon die flapsige Metapher vom Torschluß für den Tod ist ein Rarissimum, doch Canettis weitere Ausführung, daß er nunmehr auf Friedhöfen "ein friedliches Gefühl" empfinde, "eines, das man mit dem Inhaber des Grabes teilte", entzieht seiner früheren Todes- und Überlebenstheorie den Boden. Hier tritt vor eigenen biographischen Erfahrungen der strenge Denker zurück. Nie sonst hat Canetti seine Leser so dicht an sich herangelassen.
Noch mehr als im restlichen Memoirenwerk ist die Chronologie der Ereignisse Nebensache, es findet sich kaum eine Jahreszahl in "Party im Blitz". Canetti floh 1938 nach dem Einmarsch der Deutschen in Österreich aus Wien nach Paris und dann im Januar 1939 weiter nach London. Die Jahre zwischen dem Tod der Mutter 1935, der "Das Augenspiel" beschließt, und der Ankunft in England sind die unbekanntesten im Leben Canettis. "Die Blendung" erwies sich als kommerzieller Mißerfolg, die Theaterstücke wurden nicht aufgeführt, sein kommunistisches Ideal hatte im österreichischen Ständestaat keine Chance.
Aus dieser Zeiterfahrung heraus sollte wohl der vierte Band der Erinnerungen gearbeitet werden, doch er hätte Canetti mit den Nazis konfrontiert, mit der Demütigung seiner Flucht und mit dem bei ihm fast immer unausgesprochenen Schrecken der Judenvernichtung. "Party im Blitz" bietet dazu eine Passage, die intensiver als alles andere in seinem Werk spüren läßt, was für eine Bedeutung die Schoa für Canetti besaß. Es ist das schönste Kapitel des Buchs, ein Meisterwerk psychologischer Betrachtung, und sein "Held" ist ein Straßenkehrer, den Canetti während des Kriegs für dessen Ruhe und Höflichkeit bewundert. "Eines Tages, als man das Schrecklichste erfahren hatte, diesmal in Einzelheiten und unwiderlegbar, machte er zwei Schritte auf mich zu, was er noch nie getan hatte, und sagte: ,Es tut mir leid, was jetzt Ihren Leuten geschieht', ,your people', sagte er und fügte hinzu: ,Es sind auch meine Leute.'"
In dieser Miniatur eines alten Mannes steckt Canettis persönliches Dilemma. Der Theoretiker der Macht konnte die Masse letztlich nur verachten, weil sie so leicht zu manipulieren war. Die schiere Zahl ermordeter Juden durfte ihm nur Überlebensmut einflößen, kein Mitleid - zumindest nicht nach außen hin. Stellvertretend für "seine Leute" beklagte er somit den Tod dessen, der sich ihnen zugehörig gezeigt hatte: des Straßenkehrers, der wenig später starb. "Nur um vier oder fünf Menschen habe ich so getrauert wie um ihn."
Solche Stellen machen "Party im Blitz" zur Sensation, denn sie zeigen Canetti unverwandelt. In seinen Büchern betrieb er schon aus ästhetischen Gründen eine Maskerade, nach seinem Tod war das nicht mehr möglich. Dennoch hat die Publikation etwas Indiskretes - und etwas Ärgerliches, weil verzweifelt alles zusammengetragen worden ist, was Canetti in den frühen neunziger Jahren, als er sich dem Memoirenprojekt wieder zuwandte, zu England geschrieben oder diktiert hat. So gibt es gleich mehrere Kapitel, die nach zwei, drei Absätzen noch einmal neu zu beginnen scheinen, gibt es monotone Wiederholungen gerade der funkelndsten Beobachtungen, die dadurch ihren Glanz einbüßen. Dessenungeachtet ist "Party im Blitz" ein grandioses Buch, denn die nahezu brutale Kraft von Canettis Zugriff auf seine Umgebung überträgt sich auf den Leser. Wie mag diese literarische Daumenschraube erst bei der dritten Lektüre wirken?
Elias Canetti: "Party im Blitz". Die englischen Jahre. Hanser Verlag, München 2003. 247 S., 12 Abb., geb., 17,90 [Euro].
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In "Party im Blitz" zeigt sich Elias Canetti von unbekannter Seite
Dies ist ein Buch, das beim zweiten Lesen immens gewinnt. Dann hat sich das Erstaunen gelegt über den bisweilen harschen Ton, den Elias Canetti anschlägt, über die teilweise mißratene Komposition, über die Redundanzen. Und man beginnt, die Intensität der Beschreibungen zu würdigen, Canettis Wagemut beim Metapherngebrauch und vor allem sein Auge für Menschen. Alle seine Erinnerungs- und Aphorismenbücher könnten den Titel des dritten Bands seiner Autobiographie tragen, die vor mehr als zwanzig Jahren erschienen ist: "Das Augenspiel". Das gilt auch für seine nun publizierten Erinnerungen aus England.
Es war bekannt, daß Canetti sein Memoirenprojekt fortsetzen wollte: Fünf Bücher sollten es insgesamt werden, jedes nach einem der fünf Sinne benannt. Die 1977 mit "Die gerettete Zunge" begonnene Trilogie hatte den Autor einem breiten Publikum bekannt gemacht und selbst jene Leser gewonnen, denen sein Roman "Die Blendung" zu gnadenlos und das soziologische Meisterwerk "Masse und Macht" entweder zu voraussetzungsreich (für die Literaturliebhaber) oder zu verspielt (für die Wissenschaftler) gewesen war. Der Nobelpreis von 1981 wäre ohne das Memoirenwerk undenkbar gewesen; es steht als ein Solitär im weiten Feld der Erinnerungsliteratur - stilsicher, messerscharf und trotz insgesamt rund tausend Seiten Umfang von unerreichter Ökonomie des Erzählens.
Dem jetzt aus dem Nachlaß zusammengestellten Band mit dem zwar sinnenfrohen, doch sinnenfernen Titel "Party im Blitz" über Canettis Zeit in England kann man nur das zweite Lob uneingeschränkt erteilen - und just die Schärfe seiner Personendarstellungen ist Canetti schon früher immer wieder vorgeworfen worden. Doch was im neuen Buch, ungefiltert durch die strengen Redigate, denen Canetti seine eigenen Texte zu unterwerfen pflegte, zu finden ist, ist ohne Beispiel. Die Wutausbrüche gegen T. S. Eliot etwa oder seine Ausfälle gegen Margaret Thatcher stehen in seinem Werk einzig da, denn selbst gegenüber dem ihm besonders verhaßten Massenmörder Hitler hatte er sich stets die Flucht in Zornessuaden oder gar Spott verkniffen. Frau Thatcher aber wird zur "obersten Predigerin der Selbstsucht", zur "Gouvernante", Eliot zum "besten Beispiel für die wahren Hochmuts-Künstler".
Besonders skandalträchtig aber sind die Ausführungen zu Iris Murdoch, mit der Canetti ein Liebesverhältnis unterhielt. Als er 1993 dieses Porträt verfaßte, ein Jahr vor dem eigenen Tod, lebte auch die britische Schriftstellerin noch. Canetti pflegte außerhalb seiner fiktiven Texte nicht explizit zu werden, doch in der Schilderung der Beziehung zu Iris Murdoch läßt er wenig aus. Für ihn war Schreiben gleichbedeutend mit Überleben, es war Lebensmittel im buchstäblichen Sinne des Wortes. An eine unbearbeitete Publikation hat Canetti aber nicht gedacht, auch wenn sein Freund Jeremy Adler in einem ansonsten klugen Nachwort die Veröffentlichung rechtfertigt: "Canetti hat wiederholt bemerkt, daß er viele Werke absichtlich unbeendet lasse . . . Diese würde man nach seinem Ableben entdecken und verbreiten, wodurch er sich vor dem Untergang bewahren würde." Jedoch nur kurz zuvor zitiert Adler eine Notiz Canettis aus jenem Manuskriptkonvolut, das das Herzstück von "Party im Blitz" darstellt: "in dieser Form nicht zu veröffentlichen".
Im Text selber wird der Widerspruch zwischen Autorintention und Buchpublikation noch deutlicher: "Es wird nicht leicht sein", notiert Canetti in seinem Porträt von Ralph Vaughan Williams, "denn ich kann über die überwältigend komische Geschichte der Ursula, durch die ich ihn kannte, nicht erzählen, über ihren Falstaff, der sozusagen mitgeheiratet wurde, der im Hause des wunderbaren Mannes gelebt, kann ich nur für mich etwas sagen, nie in einem Buch publik machen." Was nun mit Genehmigung von Canettis Tochter Johanna aber geschehen ist. Die Selbstbefragung wird öffentlich.
Mag sein, daß es ihn nicht wirklich gestört hätte. Canetti war eitel, und seine Ressentiments gegenüber manchen Zeitgenossen erklären sich daraus, daß sie ihm charakterlich zu nahe waren. Ganz besonders deutlich wird das an seinem Abscheu vor der Psychoanalyse. Analytiker seien "die Sorte von Menschen, die ich am tiefsten verachte". Canetti wirft ihnen vor, daß sie sich nur den Anschein gäben zuzuhören. "Ihre Zeit ist kostbar, sie verkaufen sie teuer." Der alte Zorn des zeitweise überzeugten Kommunisten Canetti gegen jede Form von merkantil geprägter Sozialität tritt hier in ungekannter Vehemenz zutage. Er selbst begreift sich als Gegenmodell: "Ich habe in jener englischen Zeit während mehr als dreißig Jahren jedem meine Zeit geschenkt." Hier hätte er eigentlich "geschenkt" kursivieren müssen.
Canetti war ein unersättlicher Zuhörer - und ein geradezu im sexuellen Sinne des Wortes dominanter Erzähler. Verräterisch seine Bemerkung: "Es gibt nichts, das mich so stark zum Umgang mit bestimmten Menschen zwang als ihr Wunsch, mir zuzuhören. Dieser Wunsch war bei Iris eine Passion. Dafür mochte ich sie." Daß beider Verhältnis sadomasochistische Züge trug, ist bekannt. Für seine Tagebücher hat Canetti testamentarisch eine Schutzfrist von dreißig Jahren festgelegt. Das mag man seltsam finden bei einem, der einmal gefragt hat: "Was ist denn wahrer an einer Autobiographie als an einer anderen Erzählung?"
An anderer Stelle findet sich die Erklärung, verfaßt just zum Entstehungszeitpunkt der Erinnerungen an England: "Man bezieht sich auf die Schilderung seines Lebens so wie auf dieses selbst. Sie sind schließlich unabhängig voneinander wie zwei Leben. Vielleicht hält man sich mehr an das geschriebene, es erscheint einem wahrer." Entsprechend stilisiert sich Canetti, etwa als selbstlosen Zuhörer: "Das ist das eigentliche Glück, bei andern und nicht bei sich zu sein." Die Methode der Psychoanalyse hätte ihm sympathisch sein müssen, doch er neidete Freud dessen Ruhm. In England, wo Canetti außerhalb des Intellektuellenzirkels von Hampstead fast unbekannt war, galt Freud, wie Canetti anmerkt, "als Wohltäter der Menschheit". Genau so aber begriff sich Canetti selbst, denn wem stünde dieser Titel eher zu als dem nimmermüden Streiter gegen den Tod?
Dabei - und wir sind nun längst bei den Stärken des neuen Memoirenbands gelandet - revidierte Canetti nach dem Abschluß von "Masse und Macht" seine rigiden Ansichten zum Skandalon des Todes. In einer spektakulären Passage widerruft er die für seine Machttheorie zentrale These vom Gefühl der Überlegenheit des Friedhofsbesuchers beim Betrachten der Gräber: "Wenn ich es einmal vielleicht zu bestimmt und summarisch ausgedrückt habe, so möchte ich hier spät und vor dem eigenen Torschluß eine Korrektur darin anbringen." Schon die flapsige Metapher vom Torschluß für den Tod ist ein Rarissimum, doch Canettis weitere Ausführung, daß er nunmehr auf Friedhöfen "ein friedliches Gefühl" empfinde, "eines, das man mit dem Inhaber des Grabes teilte", entzieht seiner früheren Todes- und Überlebenstheorie den Boden. Hier tritt vor eigenen biographischen Erfahrungen der strenge Denker zurück. Nie sonst hat Canetti seine Leser so dicht an sich herangelassen.
Noch mehr als im restlichen Memoirenwerk ist die Chronologie der Ereignisse Nebensache, es findet sich kaum eine Jahreszahl in "Party im Blitz". Canetti floh 1938 nach dem Einmarsch der Deutschen in Österreich aus Wien nach Paris und dann im Januar 1939 weiter nach London. Die Jahre zwischen dem Tod der Mutter 1935, der "Das Augenspiel" beschließt, und der Ankunft in England sind die unbekanntesten im Leben Canettis. "Die Blendung" erwies sich als kommerzieller Mißerfolg, die Theaterstücke wurden nicht aufgeführt, sein kommunistisches Ideal hatte im österreichischen Ständestaat keine Chance.
Aus dieser Zeiterfahrung heraus sollte wohl der vierte Band der Erinnerungen gearbeitet werden, doch er hätte Canetti mit den Nazis konfrontiert, mit der Demütigung seiner Flucht und mit dem bei ihm fast immer unausgesprochenen Schrecken der Judenvernichtung. "Party im Blitz" bietet dazu eine Passage, die intensiver als alles andere in seinem Werk spüren läßt, was für eine Bedeutung die Schoa für Canetti besaß. Es ist das schönste Kapitel des Buchs, ein Meisterwerk psychologischer Betrachtung, und sein "Held" ist ein Straßenkehrer, den Canetti während des Kriegs für dessen Ruhe und Höflichkeit bewundert. "Eines Tages, als man das Schrecklichste erfahren hatte, diesmal in Einzelheiten und unwiderlegbar, machte er zwei Schritte auf mich zu, was er noch nie getan hatte, und sagte: ,Es tut mir leid, was jetzt Ihren Leuten geschieht', ,your people', sagte er und fügte hinzu: ,Es sind auch meine Leute.'"
In dieser Miniatur eines alten Mannes steckt Canettis persönliches Dilemma. Der Theoretiker der Macht konnte die Masse letztlich nur verachten, weil sie so leicht zu manipulieren war. Die schiere Zahl ermordeter Juden durfte ihm nur Überlebensmut einflößen, kein Mitleid - zumindest nicht nach außen hin. Stellvertretend für "seine Leute" beklagte er somit den Tod dessen, der sich ihnen zugehörig gezeigt hatte: des Straßenkehrers, der wenig später starb. "Nur um vier oder fünf Menschen habe ich so getrauert wie um ihn."
Solche Stellen machen "Party im Blitz" zur Sensation, denn sie zeigen Canetti unverwandelt. In seinen Büchern betrieb er schon aus ästhetischen Gründen eine Maskerade, nach seinem Tod war das nicht mehr möglich. Dennoch hat die Publikation etwas Indiskretes - und etwas Ärgerliches, weil verzweifelt alles zusammengetragen worden ist, was Canetti in den frühen neunziger Jahren, als er sich dem Memoirenprojekt wieder zuwandte, zu England geschrieben oder diktiert hat. So gibt es gleich mehrere Kapitel, die nach zwei, drei Absätzen noch einmal neu zu beginnen scheinen, gibt es monotone Wiederholungen gerade der funkelndsten Beobachtungen, die dadurch ihren Glanz einbüßen. Dessenungeachtet ist "Party im Blitz" ein grandioses Buch, denn die nahezu brutale Kraft von Canettis Zugriff auf seine Umgebung überträgt sich auf den Leser. Wie mag diese literarische Daumenschraube erst bei der dritten Lektüre wirken?
Elias Canetti: "Party im Blitz". Die englischen Jahre. Hanser Verlag, München 2003. 247 S., 12 Abb., geb., 17,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main