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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Das Leben ist kein Geschenk für Außenseiter in der Provinz: Eva Roman stellt dem Titelhelden ihres Buchs "Pax" eine mindestens ebenso interessante Frau gegenüber
In Blauenklingen, einem verschlafenen Flecken in der bayerisch-schwäbischen Provinz, ist die Zeit stillgestellt. In der Schule wird trainiert, wie man sich unter der Bank vorm Atomblitz in Sicherheit bringt, auf dem Postamt und an den Bushäuschen hängen die Steckbriefe der RAF-Terroristen. Den Freibadbesuch überlegt man sich als Familienvorstand besser zweimal: "Wer sich als Mann über achtzehn, aber unter sechzig nachmittags ohne triftigen Grund dort blicken ließ, konnte nur arbeitslos sein oder ein Perverser." Eine unbestimmte Angst liegt in der Luft: vor einem zweiten Tschernobyl, krebserregenden Handy-Strahlen, Aids, den wenigen Gastarbeitern. Hin und wieder, nicht nur zu Fronleichnam oder Erntedank, gehen die Blauenklingener sogar auf die Straße. Als Vorhut heutiger Wutbürger demonstrieren sie gegen Ausländer, imaginäre Kindsmörderinnen und jene ganz Schlimmen vom anderen Ufer. Was aber, wenn man, wie der hochsensible Pax, in diesem Kleinstadtmief schon früh realisiert, dass man selbst anders ist? Vom kruden Vornamen, der eher zu Christus zu gehören scheint, bis zur quälenden Entdeckung der eigenen Homosexualität?
Nach dem rätselhaften Verschwinden der Eltern und des großen Bruders, die ihm in Tagträumen zusetzen, wächst Pax bei Tante Beatrix, der Schwester seiner Mutter, auf. Im Ort gilt diese Frau, die an der Fleischtheke des Kaufmarkts arbeitet, der die in "Horden" auftretenden "Mohammedaner" suspekt sind, die strickt, weil ihre Kolleginnen stricken, und sich nur zu gern vom Fernseher "berieseln" lässt, als bedauernswert. Pax glaubt zu wissen, warum: "Sie hatte sich gegen ein eigenes Leben entscheiden müssen, nur seinetwegen." So sind Tante und Neffe fast symbiotisch miteinander verbunden, nur ganz allmählich, mit Pax' fortschreitender Adoleszenz, zeigen sich Risse in ihrem Verhältnis. Die bohrenden Fragen des Jungen nach dem Schicksal der Eltern, die aus der verständlichen Sehnsucht nach einer "richtigen" Familie erwachsen, lässt Beatrix ungerührt abperlen. Ein Schaukelpferd-Gemüt, das Pax regelrecht zur Weißglut bringen kann: "Dass sie wirklich dachte, es sei genug, sich an den richtigen Stellen dumm zu stellen."
In den ersten Kapiteln des Romans, in denen das kleinstädtische Setting entwickelt und episodenhaft Pax' Kindheit erzählt wird, gelingen der Autorin unerhört dichte originelle Alltagsbilder: Man glaubt den Krapfenduft in Oma Peschkas Küche förmlich zu riechen, spürt die kindliche Beklommenheit eines frühsommerlichen Friedhofsbesuchs fast körperlich. Pax' mühsamer, von reichlich Alkohol und Gras befeuerter Weg der Emanzipation und Selbstfindung, sein Comingout und die erste Liebe zum schönen Hallodri Csaba folgen dann eher konventionellen Mustern: Die Entdeckung der Filmkunst und das Engagement in der Film-AG seiner Schule sollen Pax in die Freiheit beamen, die schnöden Realitäten heißen Pflegeheim-Praktikum und Banklehre.
Pax möchte sein Glück per Kontaktanzeige in einem Ulmer Stadtmagazin zwingen; Leni, die zwischenzeitlich aus Scham verratene Freundin aus Kindertagen, lässt ihre Essstörung therapieren - im Muff von Blauenklingen gehört zu beidem Mut. Pax und Leni sind, als es darauf ankommt, füreinander da, in vollkommener Offenheit: In einer wunderbar kraftvollen, anarchischen Szene sitzen beide auf der morschen Holzumfriedung ihres alten Buddelkastens und öffnen die aufdringlichen, dummen und gemeinen Kontaktzuschriften: "Anbei ein Bild, Leni hielt es Pax hin, es zeigte den Penis des dreifachen Familienvaters und Privatdozenten, der mit einer rosafarbenen Schleife wie für einen Kindergeburtstag umwickelt war. Ein Foto von seinem Gesicht hat er vergessen, sagte sie."
Pax' Dilemma: Zu Beatrix ist eine solche Nähe nicht möglich. Dabei lässt der von einem Schwächeanfall der Tante ausgelöste häusliche Unfall ein Leben außerhalb ihrer Reichweite, etwa als Filmregisseur, fast unmöglich werden. Einer trage des anderen Last, ist es nicht so? Doch zwischen Tante und Neffe gibt es keine gemeinsame Gefühlsbasis. Pax dringt nicht zu ihr durch: Weder die Offenbarung seiner Homosexualität löst ihre Erstarrung noch die Konfrontation mit der schließlich doch noch ans Licht kommenden Tragödie um den Tod von Mutter, Vater und Bruder. "Das ertappte Kind, das unter der Hand eine Fliege versteckte, der es eben noch einen Flügel ausgerissen hatte, ihr Blick, als sie zurückkam, leicht an ihm vorbei . . ." Beim hochsommerlichen verbalen Showdown zwischen Tante und Neffe in einem brüllheißen am Fahrbahnrand parkierten Auto - so viel sei verraten - hat Beatrix immerhin einen unerwarteten Trumpf in der Hand.
Eigentlich scheuen wir Coming-of-Age-Geschichten, seien sie nun in der ost- oder der westdeutschen Provinz angesiedelt, inzwischen wie der Teufel das Weihwasser. Zu viel vom Immergleichen haben wir lesen müssen; jede Menge Kleinstadt-Blues mit liebevoll ausgetuschten Nostalgie-Elementen, sorgsam entlang der eigenen Biographie gedrechselt und, mindestens, in Berlin endend. Ja, auch hier werden Fernsehsendungen mit guten Indianern, bösen Cowboys, den Schlümpfen, He-Man und Skeletor nachgespielt, liegen Videokassetten mit Horrorklassikern wie "Tanz der Teufel" herum, kämpfen lange Haare mit Fassonschnitt. Was "Pax" weit über die Dutzendware hinaushebt, sind sein wirklich außergewöhnliches Protagonisten-Gespann und eine Sprache, die lange nachklingt.
NILS KAHLEFENDT
Eva Roman: "Pax". Roman.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2020. 240 S., geb., 22,- [Euro].
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