Die grandios erzählte Generationengeschichte einer Star-Journalistin, die nach einer Gehirn-Operation ihren eigenen verdrängten Erinnerungen und den Geheimnissen ihrer Familie auf die Spur kommt. Evelyn Roll, eine der großen Autorinnen der Süddeutschen Zeitung, schreibt das Buch ihrer Generation: einer Generation, die im Wirtschafts-Wunderland erwachsen wurde, und in der Verdrängung, nicht Erinnerung an der Tagesordnung war. Nach einer lebensbedrohlichen Gehirn-Blutung und Not-Operation kämpft sie sich ins Leben zurück und fängt an, sich zu erinnern. Die Autorin - die sich nahezu obsessiv für Gehirn und Gedächtnis interessiert hat - kommt ihren eigenen, verdrängten Erinnerungen ganz neu auf die Spur. Als Journalistin ist sie es gewohnt, durch Denken und Schreiben Kontrolle, Ordnung und Sinn herzustellen. Dabei stößt sie unweigerlich auf die Geschichte ihrer eigenen Familie. Sie geht den NS-Verstrickungen beider Großväter auf den Grund, sie entdeckt, dass es einen verleugneten Halbbruder gibt und nie betrauerte große Lieben der Eltern, in der ehemaligen DDR findet sie plötzlich neue Verwandte. Es sind die Lebenslügen, Geheimnisse und blinden Flecken einer ganzen Generation, die Evelyn Roll aufspüren muss als Preis für ihr Überleben, der Preis, den sie zahlen muss, aber auch der Preis, den sie gewinnt. Die bewegende Geschichte einer beeindruckenden Frau über die Macht der Erinnerung.
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Ein großartiges Buch ist Evelyn Roll gelungen, findet Rezensentin Petra Pluwatsch. Es geht der Autorin laut Pluwatsch darum, einen offensichtlich metaphorischen Godzilla aus ihrem Kopf herauszubekommen. Dieser Godzilla hängt mit Rolls Familiengeschichte zusammen, erfahren wir: Die ehemalige Redakteurin der Süddeutschen Zeitung gehört der Boomer-Generation an und litt wie viele Gleichaltrige unter dem Schweigen der Eltern über Krieg und Nationalsozialismus. Roll hat die Geschichte ihrer Familie recherchiert, heißt es weiter, und dabei einiges zutage gefördert, was ein neues, nicht immer vorteilhaftes Licht auf ihre Eltern und Großeltern wirft. Keineswegs macht die Autorin ihren Eltern nachträglich Vorwürfe, meint Pluwatsch, vielmehr möchte sie ihre Familienangehörigen besser verstehen und die Mechanismen der Verdrängung überwinden.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.09.2023Man
stirbt
nur
zweimal
Die Journalistin
Evelyn Roll
erzählt in dem
biografischen
Essay „Pericallosa“
von ihrem ersten Tod
und allem, was
danach passierte
Wir kommen zur Welt, ohne danach verlangt zu haben und verlassen sie eines Tages, ob wir wollen oder nicht. Unser Bewusstsein, die Seele, bewohnen einen Körper, der uns in der nächsten Sekunde schon auslöschen kann. Die einzigen Konstanten unseres Lebens sind der Wandel und die Zerbrechlichkeit unserer Existenz.
Alle wissen es. Alle verdrängen es. In dem neuen Buch von Evelyn Roll, einer der viele Jahre prägenden Journalistinnen des Landes und Leserinnen und Lesern der SZ vertraut, geht es um diese Fragen. Wobei die Bezeichnung Buch hier eine Verniedlichung der Sache ist: Der furiose Text springt einem mit der Wucht letzter Fragen mitten ins Gesicht. Der Mensch, schreibt Sartre, ist ein Wesen, dem etwas zugestoßen ist, und am Beginn dieser Erzählung steht ein neurologischer Notfall: ein platzendes Aneurysma vom Typ Pericallosa, daher der Titel, also eine Blase in einem der Blutgefäße im Gehirn, die ploppt wie ein Bubblegum. Und offenbar auch so ein Geräusch macht. Es gibt logischerweise nur wenige Menschen, die davon berichten können.
Roll beschreibt dieses Erlebnis so gnadenlos, wie es sich angefühlt hat, und viele werden beim Lesen eine Pause brauchen und hilflos ihren Schädel befühlen. Zwischendrin erfährt man, dass ihr Kopf während des Eingriffs, der ihr Leben rettet, mit einer Mayfield-Klemme fixiert wurde. Roll liest das im OP-Protokoll, liest genauer nach und beschreibt diese Apparatur genauer. Dann muss man Luft holen. Aber das ist nur der Beginn der Reise.
Die Autorin überlebt, erholt sich – und legt nun erst so richtig los. Warum auch nicht? Den Tod hat sie in gewisser Weise nun hinter sich. Es beginnt, was der französische Philosoph François Jullien das zweite Leben nennt: Eines, dessen Beginn man bewusst miterlebt und dessen Verlauf man umso sorgfältiger gestaltet. Die Erfahrung der schmerzhaften Konfrontation mit der bis dato weggefilterten Zerbrechlichkeit ihrer Existenz, ihres Körpers ermutigt Roll zu Nachforschungen.
Was wurde denn sonst noch so verdrängt, ausgeblendet und überspielt in diesem deutschen Leben? Und was ist da genau passiert im Gehirn, was wissen wir denn heute über das Leben dieser weichen Masse unter der Schädeldecke? Wie ist der Körper überhaupt entstanden? Wie kamen die Eltern zusammen? Wer waren diese beiden Menschen? Hitler und Zwangsarbeiter sind plötzlich ein Thema.
Roll reist mit ihrer Schwester nach Polen, forscht und fragt. Sie hat, so schreibt sie, das Talent verloren, Lebenslügen zu akzeptieren. Dabei nimmt das Buch immer wieder völlig unerwartete Wendungen. Neurologische Erkenntnisse werden mit biografischen Sondierungen verknüpft, so weist die Geschichte weit über den Einzelfall hinaus: Was ist Erinnerung? Wie richtet sich unser Gehirn in der eigenen Geschichte ein und trickst uns zugleich aus? In den aus dem Krieg überlieferten Anekdoten der Familie wird schon ein Körnchen Wahrheit stecken, aber Roll trifft auf wenige Gewissheiten, findet umso mehr Fragen.
Den Erfahrungen von Schmerzen und Schrecken stehen andere entgegen. Das von Hölderlin versprochene Rettende, das mit der Gefahr wächst, steht im Zentrum von Pericallosa. Besonders wichtig ist das Schreiben, die Praxis des Tagebuchs, aber auch das journalistische Schreiben, um den raffinierten Tricks unseres Gehirns einen eigenen Text entgegenzusetzen. Dann ist da die Musik, am Klavier oder vom Radio, die eine irdische Transzendenz ermöglicht.
Am Rande erfährt man hier auch etwas über die neurologische Ursache eines musikalischen Ohrwurms – und auch, wie man den wieder loswird. Über allem aber, beste Waffe gegen alles, steht die Erfahrung von Freundschaft und Liebe. Im Schmerz und der Angst, in unserer Zerbrechlichkeit sind wir Einzelwesen, aber genau diese Erkenntnis verbindet alle Menschen. Unsere Einsamkeit am Ende des Lebens ist die Basis der Gemeinschaft davor. Evelyn Rolls Buch ist eine Lizenz zum Feiern, zum Nachfragen, zum freien Leben.
NILS MINKMAR
Evelyn Roll war lange Jahre politische Journalistin der SZ.
Foto: Mathias Bothor
Evelyn Roll:
Pericallosa. Eine
deutsche Erinnerung. Droemer, München 2023. 432 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
stirbt
nur
zweimal
Die Journalistin
Evelyn Roll
erzählt in dem
biografischen
Essay „Pericallosa“
von ihrem ersten Tod
und allem, was
danach passierte
Wir kommen zur Welt, ohne danach verlangt zu haben und verlassen sie eines Tages, ob wir wollen oder nicht. Unser Bewusstsein, die Seele, bewohnen einen Körper, der uns in der nächsten Sekunde schon auslöschen kann. Die einzigen Konstanten unseres Lebens sind der Wandel und die Zerbrechlichkeit unserer Existenz.
Alle wissen es. Alle verdrängen es. In dem neuen Buch von Evelyn Roll, einer der viele Jahre prägenden Journalistinnen des Landes und Leserinnen und Lesern der SZ vertraut, geht es um diese Fragen. Wobei die Bezeichnung Buch hier eine Verniedlichung der Sache ist: Der furiose Text springt einem mit der Wucht letzter Fragen mitten ins Gesicht. Der Mensch, schreibt Sartre, ist ein Wesen, dem etwas zugestoßen ist, und am Beginn dieser Erzählung steht ein neurologischer Notfall: ein platzendes Aneurysma vom Typ Pericallosa, daher der Titel, also eine Blase in einem der Blutgefäße im Gehirn, die ploppt wie ein Bubblegum. Und offenbar auch so ein Geräusch macht. Es gibt logischerweise nur wenige Menschen, die davon berichten können.
Roll beschreibt dieses Erlebnis so gnadenlos, wie es sich angefühlt hat, und viele werden beim Lesen eine Pause brauchen und hilflos ihren Schädel befühlen. Zwischendrin erfährt man, dass ihr Kopf während des Eingriffs, der ihr Leben rettet, mit einer Mayfield-Klemme fixiert wurde. Roll liest das im OP-Protokoll, liest genauer nach und beschreibt diese Apparatur genauer. Dann muss man Luft holen. Aber das ist nur der Beginn der Reise.
Die Autorin überlebt, erholt sich – und legt nun erst so richtig los. Warum auch nicht? Den Tod hat sie in gewisser Weise nun hinter sich. Es beginnt, was der französische Philosoph François Jullien das zweite Leben nennt: Eines, dessen Beginn man bewusst miterlebt und dessen Verlauf man umso sorgfältiger gestaltet. Die Erfahrung der schmerzhaften Konfrontation mit der bis dato weggefilterten Zerbrechlichkeit ihrer Existenz, ihres Körpers ermutigt Roll zu Nachforschungen.
Was wurde denn sonst noch so verdrängt, ausgeblendet und überspielt in diesem deutschen Leben? Und was ist da genau passiert im Gehirn, was wissen wir denn heute über das Leben dieser weichen Masse unter der Schädeldecke? Wie ist der Körper überhaupt entstanden? Wie kamen die Eltern zusammen? Wer waren diese beiden Menschen? Hitler und Zwangsarbeiter sind plötzlich ein Thema.
Roll reist mit ihrer Schwester nach Polen, forscht und fragt. Sie hat, so schreibt sie, das Talent verloren, Lebenslügen zu akzeptieren. Dabei nimmt das Buch immer wieder völlig unerwartete Wendungen. Neurologische Erkenntnisse werden mit biografischen Sondierungen verknüpft, so weist die Geschichte weit über den Einzelfall hinaus: Was ist Erinnerung? Wie richtet sich unser Gehirn in der eigenen Geschichte ein und trickst uns zugleich aus? In den aus dem Krieg überlieferten Anekdoten der Familie wird schon ein Körnchen Wahrheit stecken, aber Roll trifft auf wenige Gewissheiten, findet umso mehr Fragen.
Den Erfahrungen von Schmerzen und Schrecken stehen andere entgegen. Das von Hölderlin versprochene Rettende, das mit der Gefahr wächst, steht im Zentrum von Pericallosa. Besonders wichtig ist das Schreiben, die Praxis des Tagebuchs, aber auch das journalistische Schreiben, um den raffinierten Tricks unseres Gehirns einen eigenen Text entgegenzusetzen. Dann ist da die Musik, am Klavier oder vom Radio, die eine irdische Transzendenz ermöglicht.
Am Rande erfährt man hier auch etwas über die neurologische Ursache eines musikalischen Ohrwurms – und auch, wie man den wieder loswird. Über allem aber, beste Waffe gegen alles, steht die Erfahrung von Freundschaft und Liebe. Im Schmerz und der Angst, in unserer Zerbrechlichkeit sind wir Einzelwesen, aber genau diese Erkenntnis verbindet alle Menschen. Unsere Einsamkeit am Ende des Lebens ist die Basis der Gemeinschaft davor. Evelyn Rolls Buch ist eine Lizenz zum Feiern, zum Nachfragen, zum freien Leben.
NILS MINKMAR
Evelyn Roll war lange Jahre politische Journalistin der SZ.
Foto: Mathias Bothor
Evelyn Roll:
Pericallosa. Eine
deutsche Erinnerung. Droemer, München 2023. 432 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
"Ein unerschrockenes Buch und zugleich eine Studie in Zartheit. Rolls Genauigkeit führt in die Tiefen - der Psyche wie der Geschichte -, ihre Ironie entlastet, ohne zu verharmlosen. Und ihre phänomenale Begabung, den Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis in literarische Sprache zu übersetzen, bannt ihre Leser und macht sie unruhig, zugleich klüger. Eine sehr bemerkenswerte, kühne Expedition in den Kopf und die deutsche Geschichte." Elke Schmitter Die Zeit 20240104
Rezensent Nils Minkmar lässt sich mit Evelyn Roll auf die Entdeckung ihres zweiten Lebens ein: Die Journalistin hat ein gefährliches Aneurysma, das titelgebende Pericallosa, überlebt, die Konfrontation mit dem möglichen eigenen Tod regt dazu an, die wirklich bedeutenden Fragen zu stellen und ihnen nachzugehen. Bei der genauen, sich selbst gegenüber fast rücksichtslosen Schilderung des Erlebten muss Minkmar manches Mal schlucken, begibt sich aber gerne mit der Autorin in dieses "zweite Leben", in dem sie den Spuren ihrer Existenz bis zur Geschichte ihrer Eltern in Polen nachspürt und zugleich die Neurologie nach ihren Erkenntnissen zu Erinnerungen und Gefühlen befragt. Die Bedeutung von Liebe und Zuneigung für ein Menschenleben schwingt dabei immer mit und lässt das Buch für den Kritiker so zur "Lizenz zum Feiern" werden.
© Perlentaucher Medien GmbH
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